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Er fing Ludwig in seinen Armen auf.

Vierundzwanzigstes Kapitel.
Gefunden.

Über den Armen und Kleinen wacht
Ein Auge der Liebe bei Tag und Nacht,
Und eine Hand von oben wird
Das Kind geleiten, das sich verirrt.

Auf Schloß Doué hatte man sich anfangs über Ludwigs Abwesenheit nicht beunruhigt; er blieb zuweilen den ganzen Tag über draußen, und da Katharina sich dunkel erinnerte, daß er sich mit einem großen Stücke Brot versehen hatte, so nahm sie an, er wolle erst abends wiederkommen. Aber der Abend brach an, und von Ludwig war nichts zu sehen, man setzte sich ohne ihn zu Tische, und die besorgte Mutter lief alle paar Minuten vor die Thür, um in die wachsende Dunkelheit mit steigender Angst seinen Namen hinauszurufen, auf welchen doch keine Antwort erfolgte. Nach dem Essen machten sich alle, mit Ausnahme der beiden Alten, auf, um die Felder zu durchstreifen; Michel ging nach dem Häuschen, das Ludwig gebaut hatte, in der Hoffnung, den Knaben dort vielleicht eingeschlafen zu finden. Vergebens – wie weit war er zu dieser Stunde schon von der Heimat entfernt! Man suchte und rief, man durchforschte jedes Wäldchen, jedes Gebüsch; am andern Morgen durchsuchte man mit klopfendem Herzen den Teich – nirgends eine Spur von Ludwig. Konnte ein Wolf ihn zerrissen haben? Aber Wölfe kamen nur noch so selten vor, und der Knabe war stark genug, sich zu wehren. Tag und Nacht vergingen in Trauer und Thränen, endlich sattelte Katharina den Esel und ritt nach Vannes: wenn einer in dieser Not helfen konnte, so war es Lorenz.

Dieser war sehr erschrocken über die unerwartete Kunde, denn er liebte den kleinen Bruder, der so sanft und gut war, mit Zärtlichkeit; er erbat sich sofort einen Urlaub von seinem Prinzipal und kehrte mit seiner Mutter zum Schlosse zurück. Mit dem Scharfblick eines Kriminalbeamten prüfte er alle Umstände und ließ sich von jedem genau erzählen, was Ludwig in der letzten Zeit getrieben und gesprochen habe; dann ging er selbst zu dem Häuschen, das jener gebaut. Er war erstaunt über den Fleiß und die Geschicklichkeit, die der arme, einfältige Knabe darauf verwendet hatte; er bemerkte das Lager von trockenem Moos in der Ecke und sah auf einem Vorsprung der rohen Wand einen zerbrochenen Topf mit Feldblumen stehen, die noch ganz frisch waren, denn sie waren sorgfältig ins Wasser gestellt. Ein plötzlicher Strahl schien in die Dunkelheit zu fallen, welche Ludwigs Verschwinden bedeckte. Für wen hatte er diese Blumen aufgestellt? Für wen das Haus gebaut? War es nur ein Spiel müßiger Stunden, oder hatte es einen Zweck? Es wurde Lorenz auf einmal klar, daß er dabei an Magdalene gedacht haben müsse, die er nie vergessen, von deren Rückkehr er beständig geträumt, deren Aufenthalt er hundertmal vor sich hingemurmelt hatte. Er hatte sein Werk vollendet und mit Blumen geschmückt, dann war er ausgegangen, sie zu suchen. Aber wohin konnte er geraten sein? Er kannte den Weg nach Ancenis nicht, er hatte kein Geld, und ein einziges Stück Brot konnte nicht lange vorhalten. Vielleicht hatte man ihn als Vagabunden aufgegriffen und festgenommen, wo war er dann wieder aufzufinden?

Trotz aller Schwierigkeiten verlor Lorenz nicht den Mut, er beruhigte seine Eltern, machte ihnen Hoffnung, daß es ihm möglich sein würde, Ludwigs Spuren zu folgen, und reiste sogleich nach Nantes. Er hatte zuerst nach Ancenis fahren wollen, aber der Gedanke, daß der Knabe so oft von Trentemoult gesprochen, bewog ihn, sich zuerst dorthin zu wenden und den Hauptmann aufzusuchen.

Es war drei Uhr morgens, als er in Nantes ankam, aber er dachte nicht daran, sich ein Unterkommen zu suchen; ein alter Soldat war gewiß früh auf und ehe er den Weg nach dem Fischerdorf zurückgelegt hatte, war es sicher schon passende Zeit für einen Morgenbesuch. Er schritt am Ufer entlang, wie Ludwig es gestern abend gethan, stieg in einen Kahn und ließ sich nach Trentemoult übersetzen. Wäre er nicht so traurig und ganz in seine Gedanken versunken gewesen, so hätte er gewiß mit Vergnügen das hübsche Bild vor sich betrachtet. Die niedrigen Häuschen drängten sich aneinander wie eine Herde Schafe beim Gewitter, die Dächer glänzten in den rosigen Strahlen der aufgehenden Sonne, die ausgespannten Netze wehten im Morgenwind, und die Fischer, welche ihre Kähne rüsteten oder vom Lande abstießen, um ihre Ware nach der Stadt zu bringen, belebten die Scene. Das schöne Wetter schien alles mit Heiterkeit zu erfüllen, Kinder liefen lachend und jauchzend hin und her, Hunde sprangen ihnen fröhlich bellend nach, die Männer tauschten Scherzworte aus, Frauen in weißen Hauben kamen in munterm Schritt mit ihren Körben voll Eier und Geflügel heran. Aber Lorenz sah nichts von alledem, seine Augen hefteten sich auf einen alten, großen und hagern Herrn mit grauem Schnurrbart und militärischer Haltung, der mit seiner Pfeife im Munde dem bewegten Treiben ringsumher zuschaute. Die Fischer, die an ihm vorüberkamen, grüßten ihn mit einem zutraulichen: »Guten Morgen, Kapitän!« worauf er jedesmal sein Pfeifchen aus dem Munde nahm und ihren Gruß mit einigen freundlichen Worten über das Wetter und den Fischfang erwiderte. Lorenz trat auf ihn zu, nahm seinen Hut ab und fragte, ob er die Ehre habe, mit dem Hauptmann Bauqueur zu sprechen.

»Ja wohl, mein junger Freund, was wünschen Sie von mir?«

»Haben Sie vielleicht einen dreizehnjährigen Knaben in bäurischer Tracht gesehen? Er ist mein Bruder und ganz allein von Hause fortgelaufen; wir glauben, daß er Sie aufsuchen wollte.«

»Mich? Weshalb denn gerade mich?«

»So haben Sie ihn also nicht gesehen? Mein armer Ludwig, wohin bist du geraten?«

»Ludwig? hm, den Namen sollt' ich kennen!«

»Ludwig Tregan, der Sohn von Katharina, welche einst die Amme Ihres Mündels, Fräulein Garay, war. Mein armer Bruder liebte Fräulein Magdalene so sehr, er konnte sich über ihre Abreise nie zufrieden geben, und wir glauben, daß er um ihretwillen fortgegangen ist. Aber da er oft von Ihnen sprach, Herr Hauptmann, so hoffte ich, er hätte vielleicht Sie zuerst aufgesucht.«

»So, er sprach von mir, seht doch!« murmelte der Hauptmann, indem er energisch seinen Schnurrbart drehte. »Natürlich hat meine liebe, kleine Magdalene ihm von mir erzählt. Und Sie sind Lorenz, nicht wahr? Geben Sie mir Ihre Hand, ich weiß, wieviel Sie für mein Lenchen gethan haben, und daß sie ohne Ihre Hilfe ihr Examen nicht so gut hätte bestehen können. Ja, ja, ich weiß alles, sie hat es mir selbst gesagt. Ich freue mich aufrichtig, Sie kennen zu lernen, obgleich die Veranlassung für Sie keine angenehme ist. Bitte, treten Sie ein und frühstücken Sie mit mir.«

»Besten Dank, Herr Hauptmann, ich muß schleunigst nach Nantes zurück, um nach Ancenis weiter zu fahren. Fräulein Garay ist doch noch immer dort? Ludwig kannte ihre Adresse.«

»Aber erst müssen Sie etwas essen, Sie halten ja sonst die Strapaze nicht aus. Wir wollen uns hier erkundigen, ich kenne alle Schiffer ringsum, vielleicht hat einer Ihren Bruder gesehen – – holla, was giebt's?«

Lorenz gab keine Antwort, er stürzte ans Ufer, wo eben ein Kahn anlegte, und fing Ludwig in seinen Armen auf, als er gerade seinen Fuß ans Land setzte.

»Was, ist er das selbst?« fragte der Hauptmann, »das nenne ich einen Zufall. Nun, du kleiner Herumtreiber, wo kommst du her? Habt Ihr ihn hergebracht, Anton?«

»Ja, Kapitän, aber gefunden hat ihn Tardivau, der Zimmermann. Er schlief unter dessen Boot so fest wie in seinem Bett, und als er ihn aufweckte und fragte: Was machst du da? da reckte er seine Arme aus und sagte nur: Trentemoult! Ja, sagte Tardivau, mein Boot ist noch nicht fein genug für dich, aber Anton wird dich mitnehmen, was willst du denn da drüben? Da sagte er nichts als: Hauptmann Bauqueur! und ich nahm ihn mit. Da ist der Hauptmann, du kleiner Schlingel, nun sag ihm, was du von ihm willst.«

Ludwig machte sich aus den Armen des Bruders los und lief auf den Hauptmann zu. »Magdalene,« rief er in flehendem Tone.

»Mein armer Junge, Magdalene ist nicht hier – ich wollte, sie wäre es! Warum suchst du sie bei mir?«

»Magdalene ist bei Frau Reichmann in Ancenis, alte Wallstraße,« erwiderte der Einfältige. »Ich war da, um sie zu holen, ich habe ihr ein Haus gebaut; sie wollte nicht mit mir kommen, sie sagte, sie käme morgen. Aber die böse Frau wird sie nicht fortlassen.«

»Welche böse Frau, Ludwig?«

»Die grimmige Dame, die so aussieht wie eine Hexe. Der gute Herr wollte mich ins Schloß zurückbringen, und Magdalene hat mich geküßt und gesagt: Ich will nur meinen Koffer packen. Aber sie kommt gewiß nicht, die Hexe hält sie gefangen. O kommen Sie mit mir und befreien Sie Magdalene!«

Er ergriff die Hand des Hauptmanns und wollte ihn fortziehen. »Warum willst du sie aber von Frau Reichmann fortbringen?«

»Sie ist so unglücklich! Die Dame sieht sie so grimmig an und spricht so laut und häßlich zu ihr. Magdalene hatte rote Augen, sie hatte geweint. Die Dame sagte: Schämst du dich nicht? schicke ihn gleich fort. Magdalene wollte mich bei sich behalten, ich sollte im Speicher auf Stroh schlafen, aber die Hexe erlaubte es nicht, sie sagte: Gleich hinaus! und drohte ihr mit der Faust.«

Lorenz und der Hauptmann sahen sich bedeutungsvoll an. »Das klingt nicht gut,« sagte der letztere, »ich muß dort einmal nach dem Rechten sehen.« Dann streichelte er freundlich Ludwigs Wangen. »Du bist ein guter Junge, du liebst Magdalene, ich auch, also habe ich natürlich dich auch lieb. Du wirst mit deinem Bruder bei mir frühstücken und dann mit ihm nach Hause fahren, denn deine Mutter weint um dich, und Kinder dürfen ihren Eltern keine Thränen kosten. Ich werde noch heute nach Ancenis fahren, und wenn Magdalene wirklich unglücklich ist – nun, das übrige findet sich. Später wird sie dich besuchen, wenn du brav bist und nicht wieder fortläufst, verstehst du mich?«

»Später« hatte für Ludwig keine besondere Bedeutung, doch begriff er, daß Magdalene kommen sollte, und versprach, geduldig zu warten.

Zwei Stunden darauf nahmen die Brüder vom Hauptmann Abschied. Er hatte mit Lorenz lange und ernsthaft gesprochen, und der letztere hatte zugeben müssen, daß es nicht richtig sein würde, Magdalene nach Schloß Doué zurückzubringen, besonders jetzt, wo Anna verheiratet war und Joseph vom Regiment entlassen werden sollte. Sie würde dort weder eine Gesellschaft noch eine Beschäftigung finden, die für sie paßten, daher würde es wohl am besten sein, wenn sie in Ancenis bliebe, falls man ihr nicht gestatten wolle, eine andere Stelle anzunehmen und sich selbständig ihren Unterhalt zu erwerben, was Lorenz als der ehrenvollste Ausweg erschien.

»Sie sind ein braver Mensch!« sagte der Hauptmann herzlich und schüttelte Lorenz beide Hände. »Aber sehen Sie, ein Frauenzimmer ist ein zartes Ding! Ich könnte mir meine Kleine doch nicht gut unter Fremden denken. Doch seien Sie ganz unbesorgt, ich fahre selber hin und werde alles nach besten Kräften einzurichten suchen.«

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