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Du meinst, du ständest ganz allein
Und niemand dächt' in Liebe dein?
Schau über dich: im blauen Zelt
Da wohnt ein Freund, der Treue hält!
Schau um dich her, denn unverhofft
Naht sich ein Herz dem deinen oft.
Man darf nicht glauben, daß Magdalenens Leben von dem Tage an, wo sie sich durch ihre Kunstfertigkeit Annas Dank und Monikas Anerkennung erworben hatte, von aller Mühe und Not befreit gewesen wäre. Alle Bekehrungen haben ihre Rückfälle, die unzertrennlich mit dem Charakter der bekehrten Personen zusammenhängen, und so hatte das junge Mädchen noch oft unter Annas Launen und Mutter Tregans Scheltworten zu leiden, von den spitzen Reden des alten Jakob ganz zu schweigen, der überhaupt nicht umgestimmt worden war. Aber sie hatte einmal die Quelle entdeckt, aus der sie Trost und Kraft schöpfen konnte, und stärkte sich daraus, so oft sie es bedurfte. Auch gewann sie ein immer lebhafteres Interesse für Ludwig. War es seine Schönheit, sein Unglück, die poetische Richtung seiner dunklen, unerweckten Seele? Fühlte sie sich, ohne es zu wissen, dadurch geschmeichelt, daß er in ihr das Urbild aller Heiligen seiner Lieblingslegenden sah? Jedenfalls gab sie sich eifriger mit ihm ab als bisher, sprach mit ihm und versuchte ihn zum Sprechen zu bringen, um dahinter zu kommen, was für Gedanken eigentlich seinen unklaren Kopf erfüllten.
Das erste Resultat dieser Bemühungen war, daß der Knabe sich an sie anschloß und ihr wie ein treues Hündchen überall folgte: augenscheinlich hatte ihn nur die Furcht vor einer Zurückweisung bisher davon abgehalten. Er nahm wieder die Zutraulichkeit an, die er ihr während ihrer Krankheit bewiesen hatte, und redete sie sogar mitunter zuerst an. Aber Magdalene konnte mit aller Mühe keinen zusammenhängenden Gedankengang in seinen Reden entdecken; er konnte die poetische Seite eines Gegenstandes erfassen, er wiederholte Lieder und Gesänge, ohne in einem einzigen Wort zu fehlen, er lauschte mit dem Ausdruck des Entzückens auf den Gesang der Vögel, den er zum Verwechseln ähnlich nachahmte, er schaute in schweigender Bewunderung die Wolken des Himmels oder die Blumen auf dem Felde an, aber er konnte über den Grund seiner Freude keine Rechenschaft geben, es war alles nur ein dunkles Gefühl. Magdalene konnte sich nicht erklären, wie es gekommen sei, daß er zweimal seine Verse so geschickt auf sie angewendet habe, als hätte er sie für die Gelegenheit improvisiert. Das zweitemal hatte er sie sogar etwas verändert, um sie dem vorliegenden Fall anzupassen: er war also fähig, zwei Ideen miteinander zu verbinden. Konnte das nicht wieder geschehen? Sie beschloß, seinen trägen Geist zu erwecken, und fing damit an, ihn zur Arbeit anzuregen.
Eines Tages nahm sie ihn mit sich hinaus und bat ihn, ihr einen Strauß zu pflücken. Ludwig war glücklich, etwas für sie thun zu dürfen; er suchte mit Sorgfalt die hübschesten Blumen aus, die er geschmackvoll zusammenstellte und mit leichten, zierlichen Gräsern verband, welche wie ein duftiger Schleier den Strauß umgaben. Magdalene wollte ihn bewegen, sich darüber auszusprechen, warum er das so gemacht habe, ob er es so schön fände? Aber er verstand sie nicht, und seine Augen füllten sich mit Thränen, denn er glaubte, sie sei nicht damit zufrieden. Sie küßte ihn, um ihn zu trösten, lobte den schönen Strauß und bat ihn, ihr noch einen zu pflücken, der nur aus großen, weißen Maßliebchen bestehen sollte. Ludwig hörte ihr aufmerksam zu und nahm die Blume, die sie ihm zeigte, mit sich; sie sah von weitem, wie er jede andere, die er pflückte, mit seinem Vorbild verglich, wie er sich zuweilen irrte und dann die falsche mit einer trotzigen Gebärde fortwarf. Als er eine ziemliche Menge gesammelt hatte, brachte er sie ihr im Triumph, aber er war sehr müde, streckte sich auf den Boden aus und schlief bald ein: eine bestimmte Blume aus den Hunderten der Wiese herauszusuchen, das war schon zu schwere Arbeit für sein schwaches Gehirn.
Mit der Zeit lernte er jedoch die Pflanzen unterscheiden und ihre Namen nennen, und Magdalene versuchte nun, seine neuen Kenntnisse zur Anwendung zu bringen. Sie ging mit ihm auf ein Feld, wo Mutter Monika, tief zur Erde gebeugt, mit Jäten beschäftigt war; »Ludwig,« sagte sie, »ziehe die Trespe, die Rade, die Klatschrosen aus.« »Er wird das Getreide ausreißen,« rief die Alte erschrocken, aber der Knabe sah sie mit zuversichtlichem Lächeln an, und ohne sich zu irren, ohne einen einzigen Getreidehalm zu berühren, zog er sorgfältig die bezeichneten Pflanzen aus. Mutter Tregan schlug vor Überraschung die Hände zusammen. »Ach Fräulein Magdalene,« rief sie, »wie klug müssen Sie sein, Sie haben es verstanden, den Jungen brauchbar zu machen!« Von nun an hatte sie einen großen Respekt vor dem jungen Mädchen, was sie nicht hinderte, sie immer noch für eine Last anzusehen und sie dies von Zeit zu Zeit fühlen zu lassen – – aber man bessert sich nicht in einem Tage.
Der Frühling verging; Magdalene arbeitete mit Feuereifer, um sich für ihr Examen vorzubereiten, das ihr die Unabhängigkeit von fremder Güte sichern sollte. Ihr war manchmal die Zeit auf Schloß Doué lang geworden, aber jetzt gab es Augenblicke, wo sie davor erschrak, daß ihr nur noch wenige Monate blieben, um alles Erforderliche zu lernen. Sie fand es immer noch sehr schwierig, ohne alle Hilfe zu studieren; zuweilen zerbrach sie sich stundenlang den Kopf über einer Rechenaufgabe und weinte zuletzt heiße Thränen vor Angst, daß sie ihr Examen nicht bestehen würde. Und was dann? sollte sie hierher zurückkehren, und würde man auch nur geneigt sein, sie wieder aufzunehmen? Mit Sorge fragte sie sich auch, was sie anfangen solle, wenn irgend ein wichtiges Stück ihres Anzuges der Erneuerung bedürfe. Ihre Mädchenbörse hatte niemals viel Geld enthalten, denn ihr Vater hatte ihr ja stets alles geschenkt, was sie sich wünschte; jetzt war sie fast leer. Sie hatte die Summe, die sie zu ihrer Reise nach Nantes brauchte, sorgfältig beiseite gelegt, aber sie mußte vor der Kommission auch anständig gekleidet erscheinen. Seit dem Tode ihres Vaters war sie sehr gewachsen und bedeutend stärker geworden; ihre Trauerkleider waren ihr schon jetzt zu kurz und zu enge, und wenn bei der täglichen Arbeit ein kurzer Rock auch bequem war, so mußte doch ihr bestes Kleid den städtischen Ansprüchen angepaßt werden. Sie strengte all ihre Geschicklichkeit an, und es gelang ihr endlich, das Leibchen durch eine eingesetzte Weste zu erweitern und auch den Rock zweckmäßig zu verlängern. Dann kamen die Schuhe an die Reihe; sie waren schon sehr abgenutzt, und sie besaß nur noch ein Paar, welches sie Sonntags zur Kirche trug, denn in der Woche ging sie stets in Holzpantoffeln. Aber auch diese kostbaren Stiefelchen, die sie mit wehmütiger Zärtlichkeit betrachtete, drückten sie schon ein wenig, und was sollte sie anfangen, wenn sie vor dem Examentage zerrissen oder ihr im Januar entschieden zu klein wären? Würde man ihr gestatten, ihre kleinen Schmuckgegenstände zu verkaufen? Sie wußte, daß Minderjährige nichts ohne die Erlaubnis ihrer Vormünder thun dürfen, und dachte daran, deshalb an den Notar zu schreiben, als sie einen Brief von ihm erhielt.
Der Brief war mit hundert Franken Wert deklariert, und seine stattliche Größe setzte das ganze Haus in Erstaunen. Der Notar entschuldigte sich bei Magdalene, daß er sie so lange ohne Nachricht gelassen habe; er hätte gehofft, ihr etwas Endgültiges mitteilen zu können, aber solche Erbschaftsangelegenheiten seien schwer zu ordnen, besonders, wenn es sich um Minderjährige handle. Inzwischen schicke er ihr einen Brief, den er soeben vom Hauptmann Bauqueur empfangen habe, und der etwas für sie enthalte.
Als sie den Namen des Hauptmanns las, mußte Magdalene lächeln; sie sah sein wunderliches Gesicht, seine Don-Quichote-Gestalt so deutlich vor sich, sie glaubte den militärischen Klang seiner Stimme zu hören. Von all ihren Verwandten war er der einzige, der ihr Teilnahme gezeigt hatte, an den sie ohne Bitterkeit denken konnte; sie entfaltete daher mit einiger Spannung das altmodische Papier, das der Schreiber vielleicht schon gekauft hatte, als er noch ein junger Leutnant war, und betrachtete die großen, deutlichen Züge der Handschrift. Der Brief lautete:
Herr Notar!
Ich sehe mit Bedauern, daß die Angelegenheit der Kleinen noch immer nicht in Ordnung ist. Ich habe bisher nie mit Rechtsgelehrten zu thun gehabt, es scheint mir aber, als ob sie auch nicht flinker wären, wie die Aktenwürmer im Ministerium, die mich so lange auf meine Pension warten ließen. Ich nehme an, daß das Kind einiges brauchen wird; sie muß ihre Kleider auf dem Lande vertragen haben und wenn sie sich etwas Neues anschaffen soll, so könnte sie leicht in Verlegenheit kommen, da Sie ihr doch kein Geld geben können, so lange die Sache nicht geordnet ist. Deshalb schicke ich Ihnen hierbei hundert Franken, die ich von meinem Sold erspart habe. Ich dachte, ich hätte nur gerade so viel, wie ich zum Leben brauche, aber ich habe gefunden, daß ich noch viele unnütze Ausgaben vermeiden kann, und daß ich meinen Anteil für die Kleine auch dann werde bezahlen können, wenn ihr Schicksal entschieden sein wird. Ich bitte Sie, ihr das Geld so zu schicken, als ob es aus der Hinterlassenschaft käme, damit sie sich nicht gemüßigt sieht, es zurückzuweisen. Wenn Sie mir zuweilen Nachricht von ihr geben wollten, so würden Sie sehr verbinden
Ihren
ganz ergebenen Xaver Bauqueur,
Hauptmann a. D. im 18. Linienregiment.
Als Magdalene diesen Brief gelesen hatte, drückte sie ihn samt dem 100-Frankenschein an ihre Lippen; sie lachte, und doch fielen ihre Thränen auf die Blätter. Und wenn ihr, meine jungen Leserinnen, verächtlich sagt: Wie kann schnödes Geld einem Auge Thränen der Freude entlocken! so habt ihr wohl noch nie empfunden, was es heißt, ganz allein in der Welt dazustehen, ohne eine Seele, die an euren Sorgen teil nimmt, ohne Kleider und Schuhe und dann plötzlich zu gleicher Zeit ein Zeichen herzlichen Mitgefühls und eine Summe Geldes zu erhalten! Magdalene war keine gewöhnliche Natur, und niemand konnte ihr Mangel an Stolz vorwerfen, aber in diesem Augenblick war sie so ganz von Freude und Dankbarkeit erfüllt, daß sie sich ohne weiteres Besinnen an ihren Tisch setzte und einen langen Brief an den Hauptmann schrieb. Und wenn wir uns ein paar Tage später in das dürftige Stübchen jenes braven Mannes versetzen, so finden wir ihn, wie er mit Energie seinen grauen Schnurrbart streicht und seine Thränen über Magdalenens Brief ebensowenig zurückhalten kann, wie sie ihre über den seinigen, während er ab und zu ein paar gerührte Worte murmelt.
»Arme Kleine – sie nennt mich ihren guten Onkel – sie dankt mir für den großen Dienst, den ich ihr erwiesen – aber mehr noch für mein Interesse – es wäre die erste Freude seit dem Tode ihres Vaters – sie würde nie meine Güte vergessen. – – Bin ich denn gut? Ich weiß es wahrhaftig nicht, aber das weiß ich, daß ich seelenfroh bin! Armes Kind! – Wie schwer muß es ihrem Vater geworden sein, solch ein süßes Geschöpf zu verlassen! – Die Leute, die Zeit haben, sich zu verheiraten und eine Familie zu gründen, sind doch glücklich daran! – Ich hab's nie gekonnt, aber was thut das? Ich liebe sie wie mein eigenes Kind und finde es verteufelt hübsch, jemand zu lieben!«