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»Auf Wiedersehen morgen, mein braver Michel.«

Zweites Kapitel.
Die Waise.

Der Vater hält in treuem Arm
Sein liebes Kind so fest so warm;
Da kommt der Tod: mit kalter Hand
Zerreißt er jäh das zarte Band.

In demselben Augenblick, als Michel und Katharina den Hohlweg verließen, erklangen die Glöckchen des Omnibus auf der Landstraße.

»Wir kommen gerade zur Zeit,« sagte Katharina. »Wie froh bin ich, daß der alte Kerlo heute zu uns kam, ich hätte sonst noch lange nicht erfahren, daß meine arme Magdalene so großen Kummer hat. Weißt du, Michel, wenn sie niemand hat, der sie liebt und für sie sorgt, dann bringe ich sie morgen mit heraus. Lüfte auf alle Fälle die rote Stube und sieh zu, ob sie nicht frisch gefegt werden muß, aber thu es selbst, damit die Mutter und Anna nicht erst viel Redensarten darüber machen.«

Michel lachte still vor sich hin, er teilte die Ansicht seiner Frau über die Zungenfertigkeit der beiden anderen vollständig. Der Omnibus kam heran, Michel gab ihm ein Zeichen zu halten und half Katharina einsteigen. Während er ihr ihre Sachen reichte, sagte er in entschiedenem Ton: »Sei unbesorgt; wenn es ein Gezänk giebt, so werde ich für dich einstehen. Ich habe die Güte des kleinen Fräuleins und ihres guten Vaters nicht vergessen, und man soll nicht sagen, daß ich ein schlechter Schuldner bin.«

»Das weiß ich, mein braver Michel,« erwiderte sie mit einem zuversichtlichen Lächeln. »Auf Wiedersehen morgen!« Der Wagen setzte sich in Bewegung, die Pferde schüttelten ihre Schellen, Michel blieb noch eine Weile stehen, bis er seine Frau, die ihm noch lange winkte, nicht mehr erkennen konnte, und schlug dann den Rückweg nach Schloß Doué ein. Aber er hatte keine besondere Eile, dort anzukommen; er hörte schon im voraus all die mürrischen Reden seiner Eltern, und die Vorstellung wurde so lebendig, daß er angesichts seines Hauses auf seinen Hacken umkehrte und ins Feld ging.

Unterdessen überließ sich auch Katharina ihren Gedanken, und eine stille Sorge kam über sie. Sie hatte nur auf die Stimme ihres Herzens gehört und war so schnell aufgebrochen, daß niemand Zeit gehabt hatte, ihr Vorstellungen zu machen – freilich hatte sie wenig daran verloren, denn sie konnte sicher sein, daß man sie ihr bei ihrer Rückkehr unverkürzt auftischen würde. In Michels Gegenwart war sie zwar geborgen, denn er würde nie gestattet haben, daß man seiner Frau zu nahe trat, aber er war nicht immer zur Stelle, und die alten Tregans ließen nur zu gern ihren Unmut an der Schwiegertochter aus; sie liebten keine unnützen Ausgaben und hatten immer schon ihre Selbständigkeit getadelt, welche die Autorität ihres Sohnes zu gefährden drohte. Und Anna würde sich auch darein mischen! Sie war zwar nicht geizig, wie die Alten, aber sie mochte die Extraausgaben gern auf ihre eigene Person verwendet sehen, und gewiß wäre ihr ein neues Jäckchen viel wünschenswerter erschienen als die Reise. Und wenn sie nun wirklich Fräulein Garay mitbrächte, was dann? – Katharina lehnte sich fröstelnd zurück, dann aber schüttelte sie alle Sorgen ab und sagte zu sich selbst: »Nur ruhig, es wird schon alles gut werden!«

Was bewog denn diese schlichte Frau, Magdalene Garay so innig zu lieben und um dieses fremden Mädchens willen so viel Unannehmlichkeiten auf sich zu nehmen? Der Umstand, daß sie einst ihre Amme gewesen, hätte doch nicht ausgereicht, um ihr noch nach Jahren solche Opfer zu bringen. Aber Katharina hatte die kleine Magdalene als ein schwächliches, mutterloses Kind zu sich genommen, als sie selbst eben eine Tochter, die denselben Namen führte, verloren hatte. Sie hatte sie nach Schloß Doué gebracht, denn eine bretonische Bäuerin nimmt keinen Dienst in der Stadt an; und da die Landluft dem zarten Geschöpfchen wohl that, so hatte man es zwei Jahre lang bei ihr gelassen. Sie hatte das Kind wachsen und gedeihen sehen, hatte es gehen und sprechen gelehrt und seine ganze Zärtlichkeit ungeteilt genossen; als man es ihr nahm, war ihr zu Mut gewesen, als verlöre sie ihr eigenes Kind zum zweitenmal. Damals wohnte Herr Garay in Vannes; Katharina hatte ihren Pflegling oft besuchen können, bis Magdalene mit ihrem Vater nach Nantes übersiedelte.

Zwei Jahre später wurde Schloß Doué von einem großen Unglück betroffen, fast alles Vieh fiel einer Epidemie zum Opfer. Was thun? Sollte man Land verkaufen, um neue Ochsen anzuschaffen? Das Bauernherz blutete bei diesem Gedanken. Da machte sich Katharina auf und ging zu Fuß nach Nantes; sie trat mit Angst im Herzen bei Garay ein: die Kleine erkannte ihre Amme sofort und begrüßte sie mit unveränderter Zärtlichkeit. Der liebevolle Empfang gab der Bäuerin Mut; sie erzählte von ihrer traurigen Lage, von ihrem Verlust, ihren Schulden, dem drohenden Ruin. Endlich flehte sie Herrn Garay an, ihr so viel Geld zu leihen, um ein einziges Paar Ochsen zu kaufen, sie wollten suchen, damit ihr Feld zu bestellen und sich allmählich wieder heraufzuarbeiten. Magdalene hatte aufmerksam zugehört; ihr kleines Herz war tief gerührt, und sie war in großer Sorge, daß ihr Vater nicht genug thun möchte: so lief sie fort und holte all ihre Schätze herbei, ihre kleine Börse, das Korallenkreuz am goldenen Kettchen, ihren silbernen Becher und ihr Tischbesteck und endlich ihre große, neue Puppe, die gewiß wieder verkauft werden konnte. Sie drang ihrem Vater die Erlaubnis ab, alles hinzugeben, und ließ sich nicht eher beruhigen, als bis sie ihre Amme zufrieden und getröstet sah. Herr Garay lieh Katharina die nötige Summe, um alles gefallene Vieh zu ersetzen, ohne Zinsen und ohne Verfalltag – das rettete die Familie. Michel und seine Frau vergaßen diese Güte nie, das Gefühl ihrer Dankbarkeit blieb stets dasselbe, aber die alten Tregans besaßen nicht dies treue Gedächtnis des Herzens; ihnen schien es nichts Großes, daß ein reicher Herr aus der Stadt armen Bauersleuten eine Summe lieh – und dann war es ja so lange her und das Geld längst erstattet!

Sehen wir uns nun nach der Waise um, die plötzlich ihres Schutzes beraubt, in ihrem Schmerz ganz allein stand und wenig an die dankbare Zärtlichkeit der einfachen Bäuerin dachte.

Jean Kerlos Zeitung war nicht mehr neu gewesen; es war schon mehr als eine Woche her, seit Magdalene dem nassen Grabe entrissen wurde und verzweifelnd nach ihrem Vater rief, seit sie seinen erstarrten Körper, den das Meer am nächsten Tage an den Strand geworfen, mit ihren warmen Armen umschlungen, mit ihren heißen Thränen benetzt hatte. Sie hatte ihn nicht verlassen bis zu dem Augenblick, wo man den Sarg forttrug; sie hatte selbst die Totenwache bei ihm gehalten, obgleich ihre Erzieherin ihr vorstellte, daß sie sich dadurch schaden werde. Sie hatte viele Besuche empfangen, viele Ausdrücke der Teilnahme angehört, aber kein Wort davon war ihr zu Herzen gegangen; sie fühlte aus all diesem äußerlichen Treiben die innere Gleichgültigkeit heraus, und zum erstenmal drängte es sich ihr auf, daß sie in Nantes zwar viele Bekannte, aber keine einzige Freundin, keinen Freund besäße.

Wer trug die Schuld daran? Zum Teil lag sie in den Verhältnissen, zum Teil an ihrem Vater, aber ein wenig auch an ihr selbst. Ihr Vater hatte sie so sehr geliebt, daß er fast eifersüchtig auf jeden war, der in ihre Nähe kam. Seit er sie aus dem Hause ihrer Amme in sein eigenes zurückgebracht, hatte er sie ganz unter seine spezielle Obhut genommen; ihr Bettchen stand neben dem seinen, er wiegte sie in seinen Armen in den Schlaf und lächelte ihr zu, sobald sie die Augen aufschlug; er tändelte und plauderte mit ihr, wie es ihre Mutter gethan hätte, die ihr so früh geraubt war. Er hatte sie lesen gelehrt und sich Tag für Tag mit ihrem Unterricht beschäftigt, und als er ihr endlich eine Erzieherin gab, suchte er ein einfaches, bescheidenes Mädchen aus, welche ihre Arbeiten beaufsichtigte, ohne den mindesten Einfluß auf sie auszuüben. Magdalene war begabt und liebte ihren Vater leidenschaftlich; sie lernte mit Eifer, zuerst, um ihm Freude zu machen, dann, um sich mit ihm unterhalten zu können.

So war ihr Geist mit fünfzehn Jahren entwickelter, als es sonst bei Mädchen von achtzehn der Fall zu sein pflegt. Alles, was ihr wert erschien, legte sie in Gedanken zurück, bis ihr Vater nach Hause kam; dann gab es endlose Unterhaltungen über Bücher, Charaktere, Bilder, Gedichte und Blumen, und nie wurden die beiden müde, ihre Gedanken auszutauschen. Wenn Herr Garay abends ausging, so nahm er sie gern mit, und wenn sie auch keine eigentlichen Gesellschaften besuchte, so kam sie doch öfter in fremde Häuser, als es sonst in dem Alter üblich ist. Aber sie spielte unter anderen keine glänzende Rolle, trotzdem sie sehr hübsch war; sie lebte zu sehr in ihrer eigenen Welt. So offen und gesprächig sie im Verkehr mit ihrem Vater war, so still erschien sie jungen Mädchen ihres Alters gegenüber; sie fand wenige Berührungspunkte mit ihnen, und sie erschienen ihr alle eitel, oberflächlich und langweilig. So bildete sich in ihr, die sich vor der geistigen Überlegenheit ihres Vaters willig beugte, eine förmliche Nichtachtung gegen alle anderen Menschen aus, daneben aber auch eine übertriebene Schätzung ihres eigenen Wertes. Sie ahnte in ihrer Überhebung nicht, welch ein Vergnügen es gewährt, in seiner Umgebung auf Entdeckungen auszugehen und die Schätze von Liebe, Zartgefühl und Tüchtigkeit zu heben, welche oft unter der bescheidensten Außenseite verborgen sind. Aber ihr Vater, der ihr so vieles gab und mitteilte, hatte sie diese Kunst nie gelehrt; er ermunterte sie gar nicht, sich an andere anzuschließen, denn er wollte sie ganz für sich allein haben.

Nun war seit acht Tagen diese schöne Harmonie plötzlich zerstört! Nach dem Entsetzen der furchtbaren Katastrophe, nach der dumpfen Verzweiflung des ersten Schmerzes, nach dem Wirrwarr der folgenden Tage fing Magdalene an, ihre tiefe Verlassenheit zu fühlen, und andere Sorgen kamen dazu.

Der Notar kam oft ins Haus; er verhandelte viel mit einer Anzahl von Personen, die Magdalene kaum kannte. Sie wußte, daß es entfernte Verwandte ihrer Eltern wären, aber sie hatte bisher in keiner Verbindung mit ihnen gestanden. Warum kamen sie plötzlich, und was bedeuteten diese Verhandlungen, von denen sie ausgeschlossen blieb? Magdalene verstand nichts von Geschäften; sie hatte, so lange ihr Vater lebte, den Haushalt geleitet, was eigentlich nur darin bestand, mit dem Gelde, das er ihr reichlich gab, die Rechnungen der verschiedenen Lieferanten zu bezahlen. Nun er nicht mehr war, hielt sie sich für die unbeschränkte Herrin seiner Hinterlassenschaft. Sie begriff nicht, daß sie als Minderjährige keine Rechte besitzen solle, hatte sie doch mehr Verstand und Einsicht als viele, die älter waren als sie. Schloß man sie von diesen Besprechungen aus, so wollte sie dieselben ohne Erlaubnis anhören; sicher hatte sie ein Recht dazu, denn es handelte sich ja um ihre eigene Zukunft. Während Katharina den Bahnhof von Nantes verließ, kauerte sich Magdalene in dem kleinen Kabinett, das ihres Vaters Arbeitszimmer gewesen war, auf einen Lehnstuhl und verbarg ihre zierliche Gestalt in den schweren Falten des Thürvorhangs, den sie nur in der Höhe ihres Ohres zurückschob, um kein Wort von dem zu verlieren, was im angrenzenden Zimmer gesprochen werden würde. Kaum saß sie da, als die Thür sich öffnete und ein Geräusch von Damenkleidern und verschiedenen Schritten laut wurde. Magdalene stützte den Kopf gegen das Thürgerüst und musterte regungslos und verstohlen die Personen, die mit dem Notar eintraten.

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