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Das Merkwürdigste an London ist seine Ausdehnung, die das Gefühl der »Unbegrenztheit« in uns erweckt. Aber eine großartige Stadt ist London nicht. Es hat dazu eben nur die Größe und wir vermissen etwas anderes, die Schönheit. Erst wenn Größe und Schönheit zusammenkommen, so entstehen die großartigen Städte wie Rom, wie Babylon oder das hunderttorige Theben – denn in diesen Fällen wird das Massenhafte durch die Kunst geadelt. Aber großartige Städte gibt es nicht mehr, seitdem der Nutzen die Schönheit zu verdrängen begonnen hat. Zwar erhebt Paris unter den modernen Hauptstädten einen gewissen Anspruch auf Schönheit – aber obwohl Paris schön ist, ist es doch keine großartige Stadt: es hat keine genügende Bevölkerung und diese Bevölkerung wohnt, dem Charakter ihrer Wohnhäuser entsprechend, auf einem verhältnismäßig kleinen Raume. Konstantinopel ist zwar durch seine Lage sehr begünstigt, aber es hat keine architektonischen Schönheiten und man kommt zu leicht hinaus ins Freie. London überwältigt uns durch seine Größe.
Man errichtete ein Forum oder eine Akropolis in der Mitte dieser Stadt, und die Wirkung der Häusermassen, denen bisher jedes Zentrum fehlt, wird eine nicht mehr so niederdrückende, sondern höchst wohltuende sein. Nichts gibt den Geist eines Volkes so vollkommen wieder, als ein öffentliches Gebäude. Der Palast des Königs, eine Nationalgalerie oder ein Museum, das den Namen des Landes trägt, sind Bauten, zu denen ein jeder mit Stolz aufsehen kann und die auf den Niedrigsten von uns einen erhebenden Eindruck machen sollten. Wie wirken diese Gebäude in London? Wir wollen uns eine Kritik ersparen, über die es keine Diskussion mehr gibt. Aber wie soll man dem abhelfen? Sollen wir zu einem Ausschuß von Künstlern, zu einem Komitee des guten Geschmacks unsere Zuflucht nehmen? Das hieße, die Mittelmäßigkeit eines Mannes mit der vieler vertauschen. Aber etwas könnte man doch versuchen. Keine der höheren Berufsarten hat in England je ihre Schuldigkeit getan, bevor sie nicht ein Opfer auf dem Altar des Vaterlandes dargebracht hatte. Eine unbestechliche Rechtsprechung datiert erst von der Zeit der Abdankung Macclesfields. Der Earl of Macclesfield (1666-1732), der höchste Gerichtsbeamte Englands, wurde wegen Betruges i. J. 1724 seines Amtes entkleidet. Unsere so hoch gepriesene Marine erfocht erst dann einen großen Sieg, als man einen ihrer Admirale Der Admiral John Byng (1704-51) wurde wegen einer durch seine Nachlässigkeit verlorenen Schlacht erschossen. hingerichtet hatte. Warum unter diesen Umständen nicht einmal einen Architekten aufhängen? Die Abschreckungstheorie könnte vielleicht ebensogut wie die der freien Konkurrenz ihre großen Männer hervorbringen.
Obgleich London sehr ausgedehnt ist, ist es sehr eintönig. Alle die neuen Stadtteile, die im letzten halben Jahrhundert infolge unseres durch Kolonisation und Handel steigenden Reichtums entstanden sind, haben einen entsetzlich geschmacklosen, einförmigen, ja, ekelhaft-zahmen Anstrich. St. Pancras sieht wie Mary-le-bone, und Mary-le-bone sieht wie Paddington aus; jede Straße gleicht der anderen, jede Square ebenfalls, so daß man immer erst nach dem Namen sehen muß, um zu erfahren, ob man sich auch in dem richtigen befindet. Mit dem aufgewendeten Kapital hätte man eine herrliche Stadt aufbauen können. Welch eine gute Gelegenheit hat sich die Architektur hier entgehen lassen, da es sich darum handelte, eine Bevölkerungsmenge, die der Brüssels gleichkommt und die dazu noch sehr reich war, passend unterzubringen! Mary-le-bone hätte für sich allein eine Revolution in der Architektur des modernen Hauses hervorrufen können. Aber es wurde nach einem Parlamentsbeschluß drauflos gebaut, und dieser Parlamentsbeschluß schrieb sogar eine ganz bestimmte Fassade vor. Unserem Parlament verdanken wir also unsere Gloucester-Plätze, Baker- und Harley- und Wimpole-Straßen, und alle die langweiligen, leblosen, anderen Straßen, die wie die häßlichen Kinder ein und derselben Familie aussehen und deren brave Eltern Portland Place und Portman Square heißen. Der Einfluß, den unsere parlamentarische Regierung auf die schönen Künste ausübt, ist ein höchst interessantes Thema. Sie hat die »malerische« Baker-Straße erstehen lassen und auf der anderen Seite die Vollendung der Whitehall verhindert und zum Überfluß noch alle die Bilder, mittels derer ein englischer König sein Volk bilden wollte, ins Ausland verkauft.
In unseren eigenen Tagen wurde für unsere Aristokratie ein ganz neuer Stadtteil errichtet, dessen Architekt sogar ein Aristokrat war. Aber der Belgraviadistrikt ist ebenso monoton als Mary-le-bone, und wenn er schon etwas auffallender ist, so ist er darum doch nicht geschmackvoller.
Erst in der Gegend von Charing Croß wird London interessanter. Wenn man mit dem Rücken nach Trafalgar Square steht und nach Northumberland-Haus und dem Strand hinblickt, so kommt man zu einem besseren Urteil. Der Strand ist vielleicht die schönste Straße Europas, eine Straße, die die mannigfachste Architektur aus allen Zeitperioden enthält und die durch die Nähe des großen Flusses und der mit diesem verknüpften historischen Erinnerungen noch gewinnt. Fleet Street und sein Tempel schließen sich an den Strand in würdiger Fortsetzung an. Das große Feuer in der City ist schuld daran, daß wir keinen wirklich alten Stadtteil besitzen – aber einzelne alte Häuser stehen noch und überall herrscht ein großes Leben und Gedränge von Wagen und Fußgängern. Die Gebäude der Rechtskollegien und die Stadtteile am Hafen herum, die Themse-Straße, Tower Hill, Billingsgate, Wapping, Rotherhithe sind die besten Londons; sie haben noch einen ausgeprägten Charakter, denn die Gebäude geben von außen weit genauer wieder, was die Leute drinnen tun als in den reicheren Stadtgegenden.
Die alten Kaufleute aus der Zeit der ersten George waren eine gute Rasse. Sie wußten, was sie wert waren und bauten dementsprechend. Während die ländliche Aristokratie ihre alten Familienhäuser niederriß, an ihrer Stelle vulgäre Straßen und öde Squares errichtete und in eins dieser neu errichteten Gebäude selber einzog, bauten sich die alten Kaufleute auf dem Grunde, der zwischen Börse und Hafen lag, schöne, große Häuser, die vielleicht nicht den Palästen Venedigs, aber doch den alten Pariser Patrizierhäusern würdig an die Seite gestellt werden können. Obgleich die meisten dieser alten Gebäude heute verschwunden sind, sind einzelne immer noch, wie zum Andenken an die alte Zeit, unversehrt erhalten.
In einer alten, engen, krummen Straße, die man noch heute »lane« (Gasse) benennt und die von der Südseite der Lombardstreet auf den Fluß zugeht, steht eins dieser hundert Jahre alten Häuser, das außen wie innen noch vollkommen gut erhalten ist. Zwei massige, eiserne Torflügel, die äußerst geschmackvoll gearbeitet sind, führen von der Straße in einen geräumigen, luftigen Hof, um den das Gebäude herumgebaut ist. In der Mitte des Hofes ist eine kleine Gartenanpflanzung, in der sich eine von einer Platane überschattete Fontäne befindet.
Die große Ruhe, die gegen den Tumult da draußen doppelt wohltuend absticht, das angenehme Murmeln des Wassers, der freundliche Anblick der sanft sich im Winde bewegenden Baumblätter, das stattliche Gebäude, der kühle und geräumige Hof – alles dies übt eine überraschende und wohltuende Wirkung auf den Besucher aus. Alles ist ernst und still um ihn herum und die vielen jungen Leute, die in den Hof hereintreten, haben ebenfalls alle ein ernstes und gedankenvolles Antlitz, das zu der Lokalität gut zu passen und ihr etwas von dem klassischen Anstrich einer Universität zu geben scheint. Man sollte es darum kaum für möglich halten, daß an einem solchen ruhigen Orte die wichtigsten Tagesinteressen besprochen und erledigt werden, daß hier die Geschichte von Kaisern und Weltreichen und die größten Angelegenheiten ganzer Nationen entschieden werden. Und doch ist dem so; denn hier, in der größten der modernen Städte, befindet sich das Kontor des berühmtesten der modernen Finanzmänner.
Am Mittwoch morgen besuchte unser Tancred, wie er mit Lord Eskdale verabredet hatte, diese Gegend unserer City, und zwar war es das erste Mal, daß er die eigentliche Geschäftsgegend Londons betrat – ein Umstand, der zur Erhöhung seines Interesses natürlich beitrug. Der Brief, den er am frühen Morgen empfangen hatte und der ihn zum Besuch der City veranlaßte, lautete folgendermaßen:
»Lieber Tancred! Ich sprach gestern mit Sidonia und erzählte ihm von Deinen Plänen. Er hat momentan sehr viel zu tun, denn sein Onkel, der das hiesige Geschäft leitete, ist plötzlich gestorben, und bis er einen anderen Onkel oder Vetter importiert hat, muß er das Schiff in diesen kritischen Zeiten, wie er sagt, allein steuern. Trotzdem läßt er Dich durch mich bitten, ihn um zwei Uhr in der City besuchen zu wollen. Er wohnt nahe bei der Bank in Sequin Court – Du wirst das Haus unschwer ausfindig machen. Ich kann Dir nur dringend empfehlen, dorthin zu gehen, da er ein Mann ist, der vielleicht besser als Dein Vater und ich verstehen wird, was Du eigentlich willst. Außerdem ist es ein Mann, den man kennen muß.
Ich lege meine Karte bei, die Du ihm hineinsenden kannst, damit er weiß, um was es sich handelt. Da Du noch etwas unerfahren in der Welt bist, so ist es vielleicht angebracht, Dir mitzuteilen, daß er jüdischer Abstammung ist – also sei etwas vorsichtig mit Deinen Bemerkungen über das Heilige Grab.
Mit besten Grüßen
Dein
Eskdale.«
»Spring Gardens, Mittwoch morgen.«
Wo die Cheapside- in die Poultry-Straße übergeht, war ein großes Wagengewirr, das schon ungefähr zehn Minuten angedauert hatte. Plötzlich entstand unter den angesammelten Wagenmassen ein Geschrei und die Kutscher begannen aufeinander wild zu fluchen und zu schimpfen: »Nein – hier nicht durch! Doch, los! Vorwärts! ... Bitte zurück! Schert euch zum Teufel! ... Ich bin's nicht gewesen! Doch, du Hund! ...« Dazu ein Peitschenknall, ein dazwischentretender Polizist – und dann ein Krach und ein Schrei. Tancred beugte sich aus dem Fenster seines Broughams heraus, um zu sehen, was es gab. Er sah eine Halbkutsche, die zusammengebrochen war, ein kleines Fuhrwerk, in der sich eine zierliche Fee vielleicht im Hydepark hätte sehen lassen können, aber die sich in das Wagengewühl der City nie hätte hineingetrauen sollen. Es sah fast so aus, als ob ein Schmetterling unter eine Chausseewalze gekommen war: die schön lackierte Wagentüre war arg beschädigt, ein rotes Samtkissen lag unten auf dem Pflaster und eins der zarten Räder schien gebrochen zu sein. Der junge, ratlose Kutscher in seiner flachsfarbenen Perücke und die beiden großen Bedienten in ihren kurzen Jäckchen schienen auch eher auf einen Maskenball als in dieses City-Gewühl und Geschrei hineinzugehören.
Der Schrei kam anscheinend aus dem Munde einer Dame, die von Kutschern und Polizisten umgeben in diesem arg beschädigten Wagen saß und in großer Angst und Bedrängnis zu sein schien. Tancred verließ seinen Brougham und bahnte sich nicht ohne Schwierigkeiten durch die vielen Wagen hindurch den Weg zu ihr. Er sah, wie die Polizisten lebhaft auf die schöne Dame einsprachen und sie aufforderten, ihren Wagen, dessen Rad gebrochen war, zu verlassen. »Aber was soll ich machen?« rief diese aus. »Gehen kann ich nicht. Ich kann den Wagen nicht eher verlassen, als bis Sie mir einen anderen zur Stelle geschafft haben. Diese Leute, die mir meinen Wagen beschädigt haben, sollten bestraft werden.«
»Die anderen behaupten, Ihr Kutscher sei selber daran schuld gewesen. Aber das geht uns nichts an: Sie wissen ja, in welchen Diensten sie stehen: Brown, Bugsby & Co., Limehouse, ist die Firma. Sie können von Brown, Bugsby & Co., Limehouse, eine Entschädigung verlangen, falls Ihr Kutscher wirklich nicht schuld haben sollte, aber Sie können unmöglich hier mit Ihrem zerbrochenen Wagen den Weg noch weiter versperren. Kommen Sie heraus und lassen Sie ihn uns beiseite führen.«
»Was soll ich nur machen?« rief die Dame tränenden Auges und mit allen äußeren Zeichen der Unruhe im Gesicht.
»Ich habe einen Wagen,« sagte Tancred, indem er auf sie zutrat, »der Ihnen sofort zur Verfügung steht.«
Ein dankbarer Blick aus wunderschönen Augen fiel auf den stattlichen jungen Mann, der in der Mitte dieser unverschämten Kutscher, brutalen Polizisten und schmutzigen Eckensteher plötzlich auftauchte, um der Dame seine Hilfe anzubieten. Denn die öffentliche Meinung in der City war gegen sie, die große Perücke ihres Kutschers forderte zum Spotte heraus und die Bedienten hatten sich hochnäsig benommen. Und obgleich die Dame selber zunächst durch ihre Schönheit und Eleganz auf den Mob Eindruck gemacht hatte, so hatte man doch ihr scharfes und bestimmtes Auftreten übel empfunden. Außerdem war sie in Begleitung eines Herrn, der einen Schnurrbart trug und in der ersten Verwirrung zu den Kutschern um ihn herum französisch gesprochen hatte. Das war zu viel für den Mob und man erklärte sich laut gegen die Ausländer.
»Sie sind zu liebenswürdig«, sagte die Dame mit freundlichem Lächeln.
Tancred öffnete die Tür ihres Wagens, die Polizisten halfen ihr heraus, den Dienern ward gesagt, wohin sie den beschädigten Wagen bringen könnten und in einer Minute befand sich die Dame und ihr Begleiter in seinem Brougham. In diesem Augenblicke begann sich die Wagenreihe wieder in Bewegung zu setzen, so daß an lange Komplimente nicht mehr zu denken war. Tancred rief seinen Dienern nur noch zu, allen Befehlen der Dame Folge zu leisten und verschwand in der Menschenmasse. Er suchte und fand den Weg zum Mansion House.
Es standen hier aber noch andere öffentliche Gebäude und er hielt es darum für geraten, sich zu erkundigen, welches von ihnen die Bank sei.
»Das ist die Bank«, sagte ein gutmütig aussehender Mann, der wie die anderen eiligen Schrittes vorüberging, aber durch das ungewöhnliche Aussehen Tancreds bewogen sich einen Augenblick zur Antwort Zeit nahm. »Was wünschen Sie? Ich gehe gerade auch dorthin.«
»Ich will nicht auf die Bank,« antwortete Tancred, »sondern in eine benachbarte Straße. Vielleicht können Sie mir sagen, wo Sequin Court ist?«
»Aber natürlich,« sagte der Mann und lächelte. »Ich weiß auch, wo Sie hinwollen – zu Sidonia! Nicht wahr?«