Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Tancred wurde durch ein marmorgetäfeltes Vorzimmer und dann in ein anderes geführt, das halb als Salon und halb als Bibliothek diente. Hübsch gebundene Bände, die keineswegs zu zahlreich waren, standen in Bücherschränken, die in die Wand eingelassen waren, und so das Zimmer passend schmückten, ohne es zu verkleinern. Die Wände waren, ebenso wie das Deckengewölbe, mit eingebrannten Farben bemalt. Eine Gardine aus violettem Sammet verdeckte halb ein Fenster, von dem aus man einen blumengeschmückten Balkon und den baumreichen Park erblickte; den Boden bedeckte ein Axminster-Teppich, der in Farbe und Zeichnung mit dem übrigen Zimmer harmonierte; um den mit Elfenbein eingelegten Tisch standen eine Menge Stühle, und auf demselben eine silberne, kunstvoll gearbeitete Glocke, die einstmals einem Papste gehört hatte. Auf dem Tische befanden sich ferner noch eine Reihe anderer Gegenstände: eine Najade, deren goldene Urne als Tintenfaß diente; einige Dolche zum Papieraufschneiden, ein paar wunderschöne ägyptische Vasen, die soeben ausgegraben waren und auf einem Malachitdreifuß standen; ferner das Porträt eines Staatsmannes und die Büste eines Kaisers. Ein helles Feuer flackerte im Kamin und gab dem Zimmer, in dem Sidonia Tancred soeben einem schon früher eingetroffenen Gast, Lord Henry Sidney, vorstellte, einen äußerst gemütlichen Anstrich.
Der Name Lord Henry Sidney hatte für Tancred etwas Angenehmes, denn sein Träger war ein Mann, zu dem Englands Jugend wie zu einem Retter aufschaute, der das öffentliche Leben von jenen laxen Prinzipien, unter denen es jetzt leidet, befreien sollte. Er war Tancred dem Namen nach wohlbekannt. Lord Henry war ein außerordentlich gewissenhafter und wohlunterrichteter Mann, ein Mann von ungewöhnlichem Fleiße, der gerade in den letzten vier Jahren eine Arbeit auf sich genommen hatte, die andere Politiker nicht in acht zu bewältigen vermögen. Er hatte das Unterhaus mit größter Regelmäßigkeit besucht und sich so eine äußerst gründliche Geschäftserfahrung erworben. Er war nicht nur ein tätiges Mitglied öffentlicher und privater Komitees gewesen, er hatte einigen derselben, die wichtige Fragen zu entscheiden hatten, selbst präsidiert. Er hatte sich an den Debatten lebhaft beteiligt und außerdem in den verschiedensten Zeitschriften sich auch mit der Feder rühmlichst betätigt. Sein edler Ehrgeiz war nur auf das höchste Ziel gerichtet, und dies sein Ziel war die Verbesserung der Lage des Volkes – nur um dieser seiner hohen Aufgabe willen sprach er, schrieb er, dachte er; nur für sie lebte er überhaupt.
Lord Henry hatte besonders die Grundbedingungen des öffentlichen Reichtums einem genauen Studium unterzogen und war dabei zu dem Schlusse gekommen, daß eine abgehetzte und nervöse Bevölkerung keine sichere Stütze der nationalen Wohlfahrt abgeben könne. Die Idee, die zunächst bei ihm ein unsicheres, vielleicht romantisches Gefühl war, hatte er jetzt durch statistische Tatsachen als wahr belegt. Das unheilvolle System, das vermittelst konstanter Überbürdung eines Volkes sich eine Vervollkommnung des Menschengeschlechtes verspricht, Man bedenke, daß der Roman zu einer Zeit geschrieben war, in der das liberale Manchestersystem in voller Blüte stand. Daß der »Tauglichste« im »Kampf ums Dasein« überleben müßte, war die unerschütterliche, weil äußerst bequeme Überzeugung der englischen Fabrikbesitzer. Disraeli in England, wie Bismarck in Deutschland haben dieses System bekämpft. war durch die Bestrebungen dieses jungen Patriziers arg in Mißkredit gekommen; denn dieser unerbittliche Kritiker war der Ansicht, daß die Arbeit sowohl Rechte wie Pflichten hätte. Das Beste aber an Lord Henry war, daß er nicht ein gewöhnlicher Philanthrop war und daß er es nicht dabei bewenden ließ, die öffentliche Meinung auf ein großes, soziales Übel aufmerksam zu machen oder irgend ein unzulängliches Heilmittel zu seiner Beseitigung vorzuschlagen. Dazu war Lord Henry ein zu wohlunterrichteter Weltmann.
Da er in der Geschichte wohl bewandert und auch in die Kenntnis des menschlichen Herzens tief eingedrungen war, so machte sich der Verdacht in ihm rege, daß nur in den Grundlagen der Gesellschaft die Ursachen und die Heilung der nationalen Mißstände gefunden werden können. Er beschäftigte sich tief mit dieser Frage und wollte vor allem feststellen, wie weit die sozialen Übel durch das Fortdauern oder Verschwinden alter Einrichtungen erstanden seien und inwiefern es nötig sein könnte, neue Gesetze an ihrer Stelle zur Beseitigung der Schäden einzuführen. Lord Henry war über alle diese Dinge sehr gut unterrichtet, er war ein unermüdlicher Forscher, sein Charakter war zwar ein leidenschaftlicher, aber dabei doch gleichzeitig ein sanfter, er war ruhig und doch energisch, er hörte eines jeden Argument gerne an – aber wenn sein Entschluß einmal gefaßt war, so zeigte er eine Unbeugsamkeit des Willens, die beinahe an Hartnäckigkeit grenzte. Zu allen diesen Eigenschaften kam noch hinzu, daß er ein guter und sich ständig verbessernder Redner war, daß er in anziehender und überzeugender Art zu schreiben verstand, daß es ihm im Verkehr leicht wurde, sich Freunde zu machen, ohne daß man je die Absicht dabei gemerkt hätte und verstimmt geworden wäre, daß er, kurz, über alle jene Gaben verfügte, die ein populärer Führer haben sollte. Seine Jugend, sein angenehmes Äußere, seine hohe Abstammung und sein Temperament, in dem die Vernunft nicht auf Kosten des Herzens entwickelt war – waren andere und vielleicht noch wichtigere Gründe, die seinen Erfolg zum entschiedenen machen mußten.
»Wann wollen Sie ins Heilige Land gehen?« sagte Lord Henry zu Tancred – und seine Stimme verriet die Sympathie, die er mit dem Vorhaben des jungen Mannes hatte.
»Ich selbst bin reisefertig, aber meine Karawane noch nicht.«
»Ich beneide Sie.«
»Warum begleiten Sie mich denn nicht?«
Lord Henry zuckte leicht die Achseln und sagte dann: »Es ist zu spät. Meine Arbeit hier hat einmal begonnen und ich kann sie nicht im Stiche lassen.«
»Wenn ein Parlamentarier unser Land retten könnte,« sagte Tancred, »so würden sicherlich Sie dieser öffentliche Wohltäter sein. Ich bin dem, was Sie und einige Ihrer Freunde gesagt und getan haben, mit größtem Interesse gefolgt. Aber das Parlament scheint mir gerade derjenige Ort zu sein, den ein Mann der Tat vermeiden sollte. Eine parlamentarische Karriere, die zum alten Aberglauben des 18. Jahrhunderts gehört, war notwendig, als es noch keinen anderen Weg zu Macht und Ruhm gab. Eine Aristokratie an der Spitze eines Volkes, das der Mittel zur Erziehung beraubt war, hatte eine kluge Richterinstanz nötig, die ihre Intelligenz anregen und ihre Eitelkeit befriedigen konnte. Nie war das Parlament so hervorragend als damals, als es bei geschlossenen Türen verhandelte. Aber die öffentliche Meinung, von der unsere Urgroßväter noch keine Ahnung hatten, ist an die Stelle jenes Rednerklubs getreten. Unsere Parlamentsmitglieder wissen dies auch ganz genau und versuchen, sich ihre überflüssige Stellung durch die Behauptung zu erhalten, daß sie Geschäftsleute seien, nur darf man nicht vergessen, daß geschäftliche Dilettanten ein kostspieliges Vergnügen sind. In unserem Zeitalter tut nicht das Parlament die Hauptarbeit. Es regiert zum Beispiel nicht Irland. Wenn die Großindustriellen einen Zolltarif ändern wollen, so gründen sie einen Verein und erreichen gewöhnlich, was sie wollen. Dasselbe gilt von der Abschaffung der Sklaverei und von all unseren großen Revolutionen. Das Parlament ist heute zu derselben Nichtigkeit herabgesunken, zu der es zwei Jahrhundertelang den König verdammt hatte. O'Connell hat einen Teil seiner Macht an sich gerissen, Cobden einen anderen, und ich bin der Meinung,« fuhr Tancred fort, »obgleich ich sonst an der ganzen Sache wenig Interesse nehme, daß unsere Gesellschaftsklasse, wenn sie etwas mehr Geist und Voraussicht besäße, sich an die Spitze des Volkes stellen und den Rest für sich in Anspruch nehmen sollte.«
»Vasavour kommt ebenfalls zum Essen«, sagte Sidonia, der Tancreds Worten mit großem Interesse, aber unbemerkt von ihm, gefolgt war.
»Ich würde trotz alledem wünschen,« sagte Lord Henry lächelnd, »Sie überreden zu können, hier zu bleiben und uns zu helfen. Sie würden uns ein guter Bundesgenosse sein.«
»Ich gehe in ein Land,« sagte Tancred, »das niemals mit dem Possenspiel einer parlamentarischen Regierung gesegnet worden ist, obgleich die Vorsehung einst gnädig genug war, selbst die Verfassung zu geben, unter der es regiert werden sollte.«
»Das Diner ist serviert, meine Damen und Herren!«.
Man nahm an einem runden, glänzend gedeckten Tische Platz. Er war aber durchaus nicht überladen, so daß hinreichender Platz war, denn nichts war Sidonia mehr zuwider, wie ein kleiner Tisch, der, wie er sich ausdrückte, unter seiner Teller- und sonstiger Last »aufseufzte«. Er hatte gleichfalls eine große Abneigung gegen große Mengen von Gold und Silber und gigantischen anderen Tischschmuck, zum Beispiel kolossale Statuen und Anhäufung von Karaffen und Deckelgefäßen; all dieser Pomp wurde nur bei großen Gelegenheiten aufgetragen, wenn das Bankett einen ägyptischen Charakter annahm und der Eingeladenen so viele waren, daß man auf verfeinerten Charakter keinen Anspruch mehr machen konnte. Das heutige Diner war in Sevres-Porzellan von Rose du Barri serviert; Maulesel trugen die kleinen Fäßchen mit Salz, oder eine Seenymphe reichte es in einer soeben aus dem Ozean gefischten Muschel dar, oder es lag in einem kleinen Vogelneste neben dem Teller – denn zu einem jeden Gedecke gehörte ein anderes Muster. In der Mitte des Tisches stand auf einem Piedestal der Haupttafelschmuck: eine Gruppe von Pagen aus Meißner Porzellan. Ihre bunten Röcke und ihre fliegenden Federn, der wunderbar gearbeitete Spitzenbesatz ihrer Ärmel und Hemden, ihre kleinen süßlich-affektiert lächelnden Gesichter, ihre graziös ausgestreckten Arme, in denen sie die Lichte hielten – machten diese Gruppe wirklich zu einem Prachtstücke. Sonst wurde das Zimmer nur noch von den Seiten erleuchtet.
Kaum hatten die Gäste Platz genommen, als der erwartete Herr Vasavour eintraf.
Herr Vasavour war gesellschaftlich sehr beliebt; er war ein Dichter und ein wahrer Dichter, ein Troubadour und gleichzeitig ein Parlamentsmitglied, daneben gutherzig, freundlich, klug und amüsant. Vasavour konnte sich in alles hineindenken und stets das Brauchbare daher nehmen, wo er es fand; er sah darum in all und jedem etwas Gutes, was sicherlich sehr angenehm und vielleicht auch gerechtfertigt ist, aber den Betreffenden meist an praktischer Tätigkeit zu hindern pflegt: denn zu dieser bedarf es meist einiger Vorurteile. Die Frühstücke, die Herr Vasavour gab, waren berühmt. Welchem Glauben, welcher Klasse, welchem Lande man auch angehörte – ein Spötter könnte hinzufügen: welchen Charakter man auch besitzen mochte –, ein jeder war bei seinem Frühstück willkommen, vorausgesetzt, daß er berühmt war. Aber auf diese eine Eigenschaft wurde dringend gesehen.
Es ereignete sich dabei natürlich sehr häufig, daß dort Leute zusammenkamen, die eigentlich nicht zueinander paßten, Leute, die sich nicht allein niemals vorher gesehen hatten, sondern die sich jahrelang schriftstellerisch als Feinde gegenübergestanden und sich mit all der übertriebenen Verbitterung literarischer Fehden bekämpft hatten. Vasavour machte es Spaß, den Amphitryon eines Schwarmes persönlicher Feinde zu spielen. Er war stolz darauf, Rivalen miteinander bekannt zu machen und Zeuge jener gezwungenen Komplimente zu sein, hinter denen sie ihre unaussprechliche gegenseitige Abneigung zu verbergen pflegten. In seiner Stadtwohnung ging die ganze Sache ja auch noch an, und es kam dort nur zu komischen Intermezzos; wenn er aber seine Menagerie sich auf den väterlichen Landsitz in die entfernte Provinz einlud, so nahm der Sport mitunter auch eine weniger erquickliche Form an.
Vasavour, der durch Geburt und Anlage wie durch den Einfluß seiner mannigfachen Bildung und seiner großen Reisen ein wirklich philosophisch angelegter Kopf war, bewegte sich inmitten seiner streitenden Freunde vollkommen ungezwungen und hatte stets für einen jeden ein gutes Wort übrig. Vielleicht jedoch war die Philanthropie, auf die er so stolz war, nicht ganz frei von einem gewissen Humor, von welcher seltenen und anziehenden Gabe er ebenfalls eine gute Portion besaß. Vasavour hatte das Verlangen, jeden kennen zu lernen, der bekannt war und alles zu sehen, was sehenswert war. Er war aber auch der Meinung, daß ein jeder Mann von Namen ihn kennen müßte und daß keine Gesellschaft, wie glänzend und unterhaltend sie sonst auch sein mochte, ohne seine Anwesenheit vollkommen sei.
So gab es keine Versammlung von Philosophen oder wissenschaftlichen Männern in irgend einer Ecke Europas, der er nicht als Teilnehmer beigewohnt hätte. Im Feldlager von Kalisch war er in seiner Yeomanry-Uniform zu sehen und den Festen von Barcelona wohnte er in einem andalusischen Jackett bei. Überall war er zu finden: selbst in der Luft, in die er mittels eines Ballons aufgestiegen war, selbst unter Wasser, wohin er sich in einer Taucherglocke hinabgelassen hatte. Wegen seiner großen Liebenswürdigkeit war er in jedem Lande gleichmäßig willkommen: Kaiser und König, Jakobiner und Carbonaro schätzten ihn in gleichem Maße. Er war Festordner bei polnischen Bällen und Festredner bei russischen Freiheitsversammlungen gewesen, er hatte mit Louis Philippe diniert und Louis Blanc auf seinen Landgütern als Gast gesehen.
Dieses Diner bei Sidonia war eins von denen, wo wirklich gegessen wurde. Obgleich die Gäste einander gerne sahen, so trafen sie sich doch nicht so selten, daß sie über der Konversation das Vergnügen einer reichbesetzten Tafel vergessen hätten. Darum aß und trank man, ohne sich viel Zwang anzutun und ohne zu ängstlich auf die gegenseitige Unterhaltung bedacht zu sein.
Es war aber auch für alles gesorgt, was den Erfolg garantieren konnte: vor allem waren zwei Hauptbedingungen für ein gutes Diner nicht außer acht gelassen: lautlose Bedienung und eine gewisse gute Ordnung, die bewirkt, daß alle die verschiedenen zu einem Gange gehörigen Sachen zu derselben Zeit auf den Tisch kommen. Wenn diese beiden Bedingungen nicht erfüllt sind, so entsteht leicht ein gewisser Wirrwarr und eine Verzögerung, die nicht nur das Gericht, sondern auch manche gute Konversation verdirbt. Aber bei Sidonia brauchte man in dieser Hinsicht nichts zu befürchten: Alles ging da, ohne welches Aufsehen zu erregen, wie am Schnürchen. Der Anblick der Tafel änderte sich wie in einem Kaleidoskop und mit einer traumhaften Geräuschlosigkeit.
Die Unterhaltung war denn auch bald im besten Gange. Sie war zunächst heiterer Art: bald flog eine gute Geschichte über den Tisch, bald ein frischgeprägtes Bonmot, bald ein leichter Spott, der wie das Wetterleuchten im Sommer aufzuckte, ohne viel Schaden anzurichten.
Allmählich aber, wie es oft bei Diners zu geschehen pflegt, wurde sie ernster und erstreckte sich auf das bei Männern so selbstverständliche Gebiet der Politik.
»Was sagt man im Oberhause zu dem neuen Gesetzentwurf?« fragte Sidonia.
»Sie werden es hinunterschlucken,« sagte Lord Henry. »Für einige ist es zwar eine starke Dose, aber sie sind an schwere Getränke gewöhnt.«
»Man sagt, die Bischöfe wären noch zu keiner Entscheidung gekommen.«
»Sieh doch einer an!« rief Tancred aus, »die Bischöfe sind noch im Zweifel, sie, die die einzigen sind, die niemals zweifeln sollten.«
»Sie sind nur dann nicht im Zweifel, wenn ihnen ein Bischofssitz angeboten wird«, sagte Lord Henry.
»Was mich, der ich mich sonst nicht zu sehr für so etwas interessiere, gerade günstig für das Gesetz stimmt, ist die Tatsache, daß alle Krämer dagegen sind«, sagte Tancred.
»Diese Ihre Meinung teilen Sie bitte nicht dem Minister mit,« sagte Lord Henry, »sonst läßt er das Gesetz fallen.«
»Das ist gerade der Grund,« sagte Vasavour, »warum ich, obwohl ich sonst für die Bewilligung bin, mit meinem Urteil zurückhalte. Ich habe gerade vor den sogenannten Krämern die größte Hochachtung. Sie sind die wichtigste Klasse unseres Zeitalters; sie besitzen Ordnungsliebe, Anstand und Fleiß.«
»Und Sie sind ihr Abgeordneter und repräsentieren sie würdigst,« sagte Sidonia. »Vasavour ist ein Muster von Ordnung, Anstand und Fleiß.«
»Sie mögen ruhig meiner spotten,« sagte Vasavour und schüttelte dabei höchst drollig-feierlich sein Haupt, »aber auf die öffentliche Meinung, ob sie nun richtig oder falsch ist, sollte man doch Rücksicht nehmen.«
»Was verstehen Sie unter öffentlicher Meinung?« fragte Tancred.
»Die Meinung der denkenden Majorität«, sagte Vasavour.
»Ich kann nicht verstehen, wie es eine Meinung ohne Nachdenken geben kann,« sagte Tancred, »und ich glaube, das große Publikum denkt überhaupt nicht nach. Wie sollte es das auch können? Es hat keine Zeit. Ich gebe gerne zu, daß wir momentan unter dem Einfluß gewisser allgemeiner Ideen stehen, die außerordentlich mächtig sind und tief im Innersten dieses Publikums Wurzel geschlagen haben. Aber das Publikum hat diese Ideen doch nicht erfunden: es hat sie doch nur angenommen. Keiner hat ja heute Vertrauen zu sich selbst: im Gegenteil, ein jeder bezweifelt seine eigene Fähigkeit und sein eigenes Urteil. Es gibt keine Individualität mehr, die Menschen von heute ermangeln gänzlich der Energie, sie sind schwach und schwankend geworden, das fühlt ja ein jeder von uns heraus, und daher stammt auch die allgemeine Klage, daß es keinen Glauben mehr gäbe.«
»Sie scheinen demnach der Ansicht zu sein,« sagte Henry Sidney, »daß der Fortschritt der allgemeinen Freiheit mit dem Niedergang der persönlichen Größe Hand in Hand geht?«
»Allerdings.«
»Aber das Volk wird immer die allgemeine Freiheit persönlicher Größe vorziehen«, sagte Vasavour.
»Aber ohne persönliche Größe würde ein Volk nie die allgemeine Freiheit gehabt haben«, sagte Tancred.
»Sie scheinen unsere ganze Zivilisation angreifen zu wollen«, sagte Vasavour.
»Ich weiß nicht, was Sie unter Zivilisation verstehen«, sagte Tancred.
»Die fortschreitende Entwickelung der Fähigkeiten des Menschen«, erwiederte Vasavour.
»Ja, aber worin besteht diese fortschreitende Entwickelung?« fragte Sidonia, »und welcher Art sind denn die Fähigkeiten des Menschen? Wenn Entwickelung Fortschritt bedeutet, so geben Sie mir eine Erklärung für den heutigen Zustand Italiens. Der eine wird Ihnen sagen, das Land sei durch Aberglauben, Sündenablaß und das Kirchenregiment so tief gesunken, und doch waren gerade diese Einflüsse vor dreihundert Jahren viel stärker und damals war Italien die Seele Europas. Leute, die etwas freier denken, Schüler von Pusey zum Beispiel, wie unser Freund Vasavour, werden dagegen einwenden, daß der gegenwärtige Zustand Italiens nichts mit der katholischen Religion zu tun habe, sondern daß er durch kommerzielle Übelstände bedingt sei; eine Revolution im Handel habe das Land so schwer geschädigt. Dagegen habe ich nur einzuwenden, daß die Welt einst von Italienern erobert wurde, die keinen Handel trieben. Ist die Entwickelung des westlichen Asiens fortschreitend gewesen? Es ist zu einem Lande von Gräbern und Ruinen geworden. Ist Spanien heute der zehnte Teil von dem, was es einst war? Ist Deutschland heute so groß als damals, als es die Buchdruckerkunst erfand, als damals, als es unter der Herrschaft von Karl V. stand? Selbst Frankreich beklagt heute einen gewissen Niedergang. Aber England blüht. Hat die Zivilisation Englands Blüte hervorgerufen? Ist durch die allgemeine Entwickelung der Fähigkeiten des Menschen eine Insel, die den Alten beinahe unbekannt war, zur Schiedsrichterin der Erde geworden? Doch sicherlich nicht. Die Bewohner dieser Insel haben das fertig gebracht; es ist eine Sache der Rasse gewesen. Ein sächsischer Volksstamm, der durch seine insulare Lage geschützt war, hat dem Jahrhundert den Stempel seines Fleißes und seiner Methodik aufgedrückt. Und wenn eine höhere Rasse, mit einer höheren Idee von Ordnung und Arbeit, sich in Bewegung setzt, so wird sie vorwärts gehen, um möglicherweise später das Schicksal der Rassen der heute verödeten Länder zu teilen. Alles ist Rasse – eine andere Wahrheit gibt es nicht.«
»Weil sie alle anderen Wahrheiten in sich einschließt«, sagte Lord Henry.
»Allerdings.«
»Und was Vasavours Definition von Zivilisation anbelangt,« fuhr Sidonia fort, »so war Europa in alten Zeiten zivilisierter als heute, und wie stimmt das mit dem Prinzip der Entwickelung Hier bekämpft Disraeli den aus Darwins Entwickelungslehre stammenden Optimismus. überein? Man erinnere sich doch an die Glanzzeiten des Römerreiches! Damals lebten zweihundert Millionen Menschen friedlich beieinander und unter so vernünftigen Gesetzen, daß wir noch keine besseren erfunden haben. Die Verkehrsmittel, auf die wir heute so stolz sind, waren in jenen Tagen weit allgemeiner und ausgedehnter. Was ist die Great Western-Bahn oder die London-Birmingham-Linie verglichen mit der Appischen und Flaminischen Straße, die teilweise noch heute, nach zweitausendfünfhundert Jahren in Gebrauch sind? Ein Mann konnte unter den Antoninen von Paris nach Antiochia ebenso sicher reisen, wie heute von London nach York. Freihandel hat es überhaupt seit jenen Tagen, da die Länder um das Mittelländische Meer einem einzigen Zepter untertan waren, nie mehr gegeben. Wie erbärmlich nimmt sich dagegen unser Geschwätz von unseren Städten und ihrer enormen Entwickelung in Handel und Wandel aus! Das Römerreich war gerade das Reich der großen Städte; ein großer Teil seiner Menschen lebte darin.«
»Was für ein Reich!« fuhr Sidonia träumerisch fort, »alle die höheren Menschenrassen in den klimatisch besten Gegenden der Erde vereinigt!«
»Aber wie lassen sich diese Tatsachen mit Ihrer Lieblingstheorie von dem Einfluß des individuellen Charakters vereinigen?« sagte Vasavour zu Sidonia, »eine Theorie, die ich nebenbei nicht anzuerkennen geneigt bin.«
»Weil der Charakter eines Individuums nur die Personifikation seiner Rasse ist,« sagte Sidonia, »gewissermaßen die schönste Frucht des Baumes der Rasse. Der Glaube an den Einfluß persönlichen Charakters und der Glaube an die Rassen haben nichts Widersprechendes, im Gegenteil.«
»Ich sehe in dem Glauben an persönlichen Charakter nur einen barbarischen Aberglauben«, sagte Vasavour.
»Warum haben die Polen 1831 nichts ausgerichtet?« fragte Lord Henry. »Sie hatten eine vorzügliche Armee, das Volk stand hinter ihnen und doch haben sie nichts erreicht. Sie hatten eben alles, ausgenommen einen Mann. Warum sind die Whigs 1834 unterlegen? Doch nur, weil sie keinen Mann hatten.«
»Was ist die Ursache der mexikanischen Wirren?« fragte Sidonia. »Sie haben keinen Mann.«
»Das wäre also der Fortschritt, den wir seit den Tagen Karls V. gemacht hätten,« sagte Henry Sidney. »Die Spanier haben einstmals Mexiko erobert und jetzt können sie es nicht mehr regieren.«
»Das spricht aber doch gegen euch,« sagte Vasavour. »Die Rasse ist doch dieselbe, warum ist der Erfolg denn nicht mehr auf ihrer Seite?«
»Weil die Rasse erschöpft ist,« sagte Sidonia. »Warum bauen die Äthiopier kein zweites Theben mehr, warum graben sie nicht wenigstens die kolossalen Tempel an den Katarakten aus? Der Niedergang einer Rasse ist eine unvermeidliche Notwendigkeit, ausgenommen, sie lebt in einer Wüste und hält ihr Blut sorgfältig rein.«