Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Als Tancred in tiefen Gedanken von seinem Besuch in der City zurückkehrte, fand er auf dem Tische folgendes Billett vor:
»Lady Bertie und Bellair erlaubt sich, Lord Montacute seinen Wagen zurückzustellen und ihm gleichzeitig für seine übergroße Freundlichkeit herzlichst zu danken.
Upper Brook Street. Mittwoch.«
Das Billett war in einer anziehenden Handschrift geschrieben, einer Handschrift, die fein und doch energisch und voller Charakter war. Tancred erinnerte sich, daß die Titel Bertie und Bellair die zweier bedeutender Grafschaften waren, die sich jetzt in den Händen einer Person befanden. Lady Bertie und Bellair selber war eine Dame aus dem höchsten Adel, eine Tochter des jetzigen Herzogs von Fitz-Aquitaine. Tancred war gleich bei seiner zufälligen Begegnung mit ihr in der City von ihrem schönen Äußeren und eleganten Benehmen sehr eingenommen gewesen. Aber seine Unterhaltung mit Sidonia hatte ihn das kleine Abenteuer momentan vergessen lassen und selbst jetzt, da es ihm wieder vor Augen trat, dachte er nicht mehr lange daran. Alle seine Gedanken waren vielmehr auf den Hauptzweck seines Lebens gerichtet. Die Sympathie, die Sidonia mit seinen Absichten in so lebhafter und kluger Weise ausgedrückt hatte, war doch ein großer Halt für ihn, ein Halt, dessen wir oftmals bedürfen, wenn wir große Taten vorhaben. Wie oft hat ein einziges Wort eines großen Mannes, wenn alles um uns herum dunkel und hoffnungslos und zahm und traurig war, wenn die kleinsten Hindernisse in der nebligen Gemütsatmosphäre uns wie Alpen erschienen und der glitzernde Springbrunnen unserer Phantasie zu einer Regenpfütze zusammengeschrumpft war – wie oft hat da eine einzige Bemerkung aus dem Munde eines großen Mannes wieder Sonnenschein in unserem Gemüte hervorgezaubert, Sonnenschein, unter dem unsere alten Visionen von Macht und Schönheit, über die wir so lange heimlich gebrütet hatten, wieder in ihrer alten, verführerischen Stärke hervorbrachen!
Der unheimliche Gedanke, der trotz seines starken Willens mitunter dennoch Tancred überkam und der ihn arg quälte, der schreckliche Gedanke, daß er vielleicht die ganze Zeit über nur kindischen Schwärmereien nachjagte – dieser Gedanke peinigte ihn von heute ab nicht mehr. Mitunter hatte er gedacht: »Warum nimmt niemand Anteil an meinen Ideen, warum halten alle, trotzdem ihre gute Erziehung es ihnen verbietet, es mir ins Gesicht zu sagen, sie für törichte Hirngespinste? Meine Eltern sind fromme und gebildete Leute, die alles, was ich sage, tue oder denke mit vielleicht nur zu großer Elternliebe freudig begrüßen. Und doch halten sie mich in diesem Punkte für verrückt. Lord Eskdale ist ein vollendeter Weltmann, dessen Klugheit, Gewandtheit und gesundes Urteil sprichwörtlich geworden sind, und er hält mich für einen weltabgewandten Träumer und ist der Meinung, daß, wenn mein Vater mich in Eton gelassen und dann nach Paris geschickt hätte, ich bald von meinen tollen Ideen kuriert worden wäre. Der Bischof ist in der großen Welt als bedeutender Gelehrter berühmt, er ist nebenbei ein Staatsmann, der, weil nicht unmittelbar am Parteibetriebe beteiligt, einen höheren Standpunkt einnehmen sollte, und er ist außerdem ein Geistlicher, der unter dem unmittelbaren Einfluß des heiligen Geistes stehen sollte. Er hat mich für einen Phantasten erklärt. Es ist beinahe zum Verzweifeln gewesen. Aber jetzt taucht ein Mann auf, der gar keinen Grund hat, meine Ideen günstig zu beurteilen, der sie auf den ersten Blick eigentlich mißbilligen sollte, der mehr von der Welt versteht als Lord Eskdale und der mir mehr Wissen zu haben scheint als unsere sämtlichen Bischöfe und der meine Ideen freudig begrüßt, der meine Schlußfolgerungen gelten läßt und meinen Anregungen Beifall zunickt, der sie weiter unterstützt, mit neuen Beispielen belegt und in mir noch zu verstärken sucht; ein Mann, der mir Mut zuspricht und mir mitteilt, daß ich erst an der Schwelle des Heiligtums stehe, zu dessen vollständiger Erforschung er mir behilflich zu sein verspricht.
An diesem Abend war bei Lady Bardolf, einer nahen Verwandten von Lady Bertie und Bellair, in Belgravia Square ein großer Ball, zu dem auch Tancred sein Erscheinen zugesagt hatte. Die Erwähnung der Lokalität ist nicht gleichgültig, denn diese verrät häufig den Charakter der Bewohner. Lady Bardolf bewohnte ein Haus neben Frau Guy Flouncey. Beide hatten sich in der Welt emporgearbeitet, was freilich nur die in patrizische Kreise Eingeweihten heute noch bemerken konnten, und beide hatten sich die einzige Gegend zur Wohnung erwählt, die des neuen Wappens der Lady Bardolf und der neuen Besuchsliste von Frau Guy Flouncey würdig gewesen wäre.
Auf diesem Balle Lady Bardolfs traf Tancred, fast unmittelbar nachdem er eingetreten war, seine Heroine von der City, Lady Bertie und Bellair wieder. Sie war gerade im Gespräch mit Lord Valentine begriffen. Er erkannte sie mit Leichtigkeit; wer dieses Gesicht nur einmal gesehen hatte, konnte es so leicht nicht vergessen – nur daß es jetzt in der Nähe und bei Kerzenschein noch weit lieblichere Züge aufwies als am Morgen in der City. Der kleine Kopf mit dunkeln, großen Augen darin, die mit ihrem reichlichen, durch keinerlei Schmuck verunzierten Haare an Schwärze zu wetteifern schienen, die prächtigen Perlenzähne, die übermittelgroße, sich graziös hin und her wiegende Figur – dies waren Reize, die erst jetzt voll zur Geltung kamen. Ihr Antlitz war ruhig, ohne zu ernst zu sein, und wenn sie lachte, lachten auch ihre Augen mit.
Jetzt stand sie einen Augenblick allein, sah sich um und erkannte Tancred; ein freundliches Begrüßungslächeln umspielte ihre Züge. Tancred war sofort an ihrer Seite.
»So treffen wir uns heute zum zweiten Male«, sagte sie mit leiser, süßer Stimme.
»Warum haben wir uns eigentlich niemals früher in der Gesellschaft gesehen?« erwiderte Tancred.
»Ich bin eben erst aus Paris zurückgekommen und bin heute das erstemal ausgegangen – und, wenn Sie mir nicht geholfen hätten, so wäre mir auch dies Vergnügen nicht vergönnt gewesen. Ich glaube, sie hätten mich wirklich ins Gefängnis gesteckt.«
»Lady Bardolf und die übrigen Gäste sollten mir also Dank wissen.«
»Ich bin Ihnen jedenfalls sehr dankbar«, sagte Lady Bertie und Bellair.
»Ich freue mich darüber, daß ich Ihnen nützlich sein konnte.«
»Was Sie für einen hübschen Wagen haben! Um meinen, glaube ich, ist es für immer geschehen! Na, es tut mir nicht zu leid um die alte Kalesche. Ich möchte von nun an nur noch in einem Brougham fahren.«
»Warum haben Sie meinen nicht behalten?«
»Sie sind zu nobel – zu freigebig und orientalisch für unser kaltes Klima. Sie gießen Ihre Gaben über die Welt aus, als ob Sie schon im Orient wären. Lord Valentine erzählte mir nämlich, daß Sie dorthin gehen wollen. Wann werden Sie uns verlassen?«
»Ich möchte möglichst bald von hier fort.«
»So?« sagte Lady Bertie und Bellair und ihr Antlitz begann sich zu verändern. Es entstand eine Pause – und dann sagte sie halb lächelnd, halb wirklich traurig: »Es wäre besser gewesen, Sie hätten mich heute morgen nicht gerettet.«
»Warum nicht?«
»Weil ich nicht gerne angenehme Bekanntschaften mache, um sie nachher wieder zu verlieren.«
»Ich dächte, ich verdiente das meiste Mitleid«, sagte Tancred.
»Sie sind unserer Welt bald überdrüssig geworden. Bevor Sie uns überhaupt kennen, wollen Sie uns schon wieder verlassen.«
»Ich bin dieser Welt durchaus nicht überdrüssig, denn, wie Sie sehr richtig bemerken, kenne ich sie noch gar nicht.«
»Lord Valentine erzählt mir, daß Sie den Traum meiner Träume in die Wirklichkeit übersetzen und Jerusalem besuchen wollen.«
»Ah!« sagte Tancred und sein Auge leuchtete auf, »auch Ihr Herz hat dies Bedürfnis gefühlt?«
»Und ich kann es mir fast nicht verzeihen, daß ich es nicht befriedigt habe,« sagte Lady Bertie und Bellair in traurigem Tone und sah ihn dabei mit ihren wunderschönen, schwarzen Augen an. »Es ist der Fehler meines Lebens gewesen, ein Fehler, der aber nie mehr wieder gutgemacht werden kann. Aber ich habe keine Energie. Ich sollte damals als Mädchen, trotzdem sie alle dagegen waren, wie ein Mann zum Wanderstabe gegriffen und ihn nicht eher beiseite gestellt haben, als bis ich die Küste des Heiligen Landes, die Stadt Jaffa, erreicht hätte.«
»Das ist ganz meine Ansicht,« sagte Tancred, »wir sollten alle dorthin pilgern.«
»Und doch bleiben wir alle hier,« sagte die Dame mit einer Art unterdrücktem, verzweifeltem Seufzer, »wir bleiben alle hier und beklagen uns über unser hoffnungsloses Leben, denken natürlich nur an das Heute und wissen dabei nicht genug Schlechtes gerade von diesem Heute zu sagen.«
»Wir leben in einem materiellen Zeitalter«, sagte Tancred.
»Mich kann nur ein spirituelles interessieren«, sagte Lady Bertie und Bellair.
»Weil Sie noch eine Seele haben,« fuhr Tancred fort, »der etwas von ihrer himmlischen Herkunft erhalten ist. Im neunzehnten Jahrhundert sind diese Seelen nur selten zu finden. Kein Mensch kümmert sich heute um den Himmel. Niemand träumt mehr von Engeln. All ihr Interesse dreht sich um Dampfschiffe und Eisenbahnen.«
»Sie haben nur zu recht, einer derartigen Gesellschaft den Rücken zu kehren.«
»Ich gehe aus anderen Gründen, ich kann wohl sagen ›höheren‹«, sagte Tancred.
»Ich kann Sie verstehen; Ihre Gefühle sind den meinigen nur zu ähnlich. Jerusalem ist der Traum meines Lebens gewesen. Ich habe mich ständig dorthin gesehnt, aber – ich weiß nicht warum – ich bin nie weiter wie bis Paris gekommen.«
»Und doch ist heute die Reise gar nicht mehr so schwierig,« sagte Tancred, »die größte Schwierigkeit ist vielmehr, wie mir ein sehr bedeutender Mann heute morgen mitteilte, zu wissen, was man tun soll, wenn man einmal dort angelangt ist.«
»Wer hat Ihnen das gesagt?« fragte Lady Bertie.
»Ich war gerade auf dem Wege zu ihm, als ich Sie traf: es ist Herr von Sidonia.«
»Herr von Sidonia!« sagte die Dame lebhaft, »kennen Sie ihn?«
»Nicht so genau, wie ich wünschte. Ich habe ihn heute zum ersten Male gesehen. Mein Vetter, Lord Eskdale, hatte mir ein Empfehlungsschreiben an ihn gegeben – Sidonia ist viel gereist und könnte, so meinte er, mir mit Rat und Tat beistehen.«
»Ich möchte Herrn von Sidonia zu gerne kennen lernen,« sagte Lady Bertie und Bellair. »Er ist mit Lord Eskdale intim befreundet, nicht wahr? Ich muß Lord Eskdale bitten, mir ein kleines Diner zu geben, Herrn von Sidonia dazu einzuladen und ihn mir vorzustellen.«
»Er geht niemals in Gesellschaft – wenigstens hat man mir so erzählt«, sagte Tancred.
»Früher doch – da gab er uns großartige Festlichkeiten. Ich erinnere mich, davon gehört zu haben, als ich noch ein junges Mädchen war. Wir wollen ihn zu bewegen versuchen, sich wieder mehr sehen zu lassen. Er ist sehr reich.«
»Wohl möglich,« sagte Tancred. »Es ist nur wunderbar, wie ein Mann mit seinem Verstande und seinen Ideen daran denken kann, Geld zu verdienen.«
»Das ist einmal sein Schicksal,« sagte Lady Bertie. »Er kann seine ererbten Millionen so wenig los werden, wie eine Dynastie die Sorgen um ihr Reich. Ich bin doch neugierig, ob er auch den Bau der Great Northern-Eisenbahn bekommen wird. In Paris wurde ausschließlich davon gesprochen.«
»Wovon?« fragte Tancred.
»Oh, wir wollen lieber von Jerusalem sprechen!« sagte Lady Bertie und Bellair. »Da geht übrigens mein Mann. Erlauben Sie, daß ich Ihnen ihn vorstelle.«
Tancred war darauf gefaßt, ihren Begleiter von heute morgen wiederzusehen, aber er war es nicht. Lord Bertie und Bellair war ein großer, hagerer, eleganter, etwas müde aussehender junger Herr, der Tancred mit einer Art nachlässiger Grazie für seine freundschaftlichen Bemühungen um seine Gattin dankte und ihn, nach einigen leichten Worten, für morgen zum Diner einlud. Er war schon vergeben, aber er versprach Lady Bertie und Bellair sie bald besuchen zu wollen, um einige Zeichnungen vom Heiligen Lande bei ihr in Augenschein zu nehmen.