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Tancred hatte eine schlechte Nacht. Sein Kopf war voll wirrer Gedanken, er wußte nicht, für was er sich entscheiden sollte und sein Selbstvertrauen war aufs stärkste erschüttert. Wo war jetzt jener starke Wille, der ihn immer aufrechterhalten hatte? Jene Fähigkeit zu sofortigem Entschlusse, die in seinen imaginären Taten sich so glänzend bewährt hatte. Ein dichter Nebel hatte sich über sein heroisches Götterbild, sein Ideal, gesenkt und er konnte Form und Umrisse nicht mehr unterscheiden. Wollte er ins Heilige Land pilgern oder nicht? Welch eine Frage? War es so weit mit ihm gekommen? War es möglich, daß er so weit gesunken war, daß er selbst in seinen schwächsten Stunden mit sich darüber im Zweifel sein konnte? Natürlich wollte er ins Heilige Land, sein Vorsatz war gänzlich unerschüttert, er wollte bestimmt ins Heilige Land gehen, aber er wollte ebenso bestimmt, daß Lady Bertie und Bellair mit ihm ginge.
Tancred konnte doch unmöglich das einzige Wesen in England zurücklassen, dessen Herz, wie das seinige, an Jerusalem hing und das dazu noch ein schwaches Weib war! Es wäre etwas Unritterliches, Unmännliches, Feiges, beinahe Gemeines in solch einem Im-Stiche-Lassen gewesen. Lady Bertie war eine Heldin, die wert gewesen wäre, zur Zeit der alten Ritter und nicht im heutigen aufgeklärten Europa gelebt zu haben. In den alten Tagen, in den guten alten Tagen, da die magnetische Anziehungskraft des westlichen Asiens auf die gothischen Völker noch stärker war als heute, da wäre gewiß auch sie unter den Wällen Askalons oder bei den Purpurwassern von Tyros zu finden gewesen. Als Tancred sie zum ersten Male traf, da träumte sie schon, wohl, weil sie häufig traurig war, vom Heiligen Lande; und es konnte ihm, trotz seines vollkommenen Mangels an Eitelkeit, nicht entgangen sein, daß seine Teilnahme und Ansprache oft die Wolken von ihrer schönen Stirn getrieben und ihr betrübtes Herz erleichtert hatte. Und wenn sie schon jetzt immer so traurig war, wie würde es ihr erst zumute sein, wenn der einzige Freund, dem sie die schönen Geheimnisse ihrer romantischen Seele hatte anvertrauen können, sie verlassen hätte? Konnte er solche eine zarte Seele in dieser nichtswürdigen Welt, in der Welt gemeiner Motive und gemeinerer Handlungen, herzlos und allein zurücklassen? Und außerdem war sie so sanft und so intelligent; sie war das einzige Wesen, das ihn verstand und nicht einen Augenblick an seinem hohen Ideale zweifelte! Und ihr Charakter war ein so vollkommener, und alles, was sie tat, war von edelstem Geiste beseelt. Sie sprach von den andern immer mit soviel Güte und erging sich nie über fremde Leute in jenem geschwätzigen und geringschätzenden Tone, vor dem Tancred, wie er ihr gesagt hatte, solchen Abscheu empfand. Es war seltsam, wie merkwürdig ihre Charaktere und Ansichten übereinstimmten.
Mit traurigen Gedanken erhob sich Tancred von dem Bette, auf dem er doch keinen Schlummer mehr finden konnte. Das Feuer in seinem Wohnzimmer war beinahe ausgegangen, er schlüpfte in seinen Schlafrock, warf sich in einen Lehnstuhl, den er neben das halberloschene Kaminfeuer zog, und seufzte laut auf.
Unglücklicher junger Mann! So hat jetzt auch in deinem Leben jene große Illusion begonnen, die alle durchzumachen haben, die aber glücklicherweise nie zum zweiten Male uns überkommen kann, jene Illusion, die man spöttisch »erste Liebe« benennt. Unser Körper hat gewisse Kinderkrankheiten, Keuchhusten, Fieber und manches andere zu überwinden und unser Herz ist denselben Gesetzen unterworfen; auch hier gibt es eine erste Krankheit, die fatal endigen kann, aber die, wenn einmal überstanden, den Patienten so weit kräftigt, daß er allen Unbilden und Leidenschaften des späteren Lebens leichter Trotz zu bieten vermag. Selbst dann kann zwar noch immer der Tod eintreten, aber Ursache und Wirkung stehen in diesen späteren Fällen immer in gleichmäßigerem Verhältnis. Die Heroine ist ein wirkliches Wesen, die Sympathie ist zwar mitunter ebenso wild, aber doch echt, und die Katastrophe, wenn sie selbst eintreten sollte, ist die eines stattlichen Segelschiffes, das auf großer überseeischer Fahrt mit einer reichen Ladung zugrunde geht.
Daß Unwissenheit ein Segen ist, ist ein Grundsatz, der in unseren Beziehungen zum weiblichen Geschlechte keine Geltung haben sollte. Erfahrung im Gegenteil ist die beste Gewährleistung für eine dauerhafte Liebe. Liebe auf den ersten Blick kann zwar unter Umständen ein echtes und wahres Gefühl sein, aber erste Liebe auf den ersten Blick ist für gewöhnlich eine fragwürdige Sache. Noch fragwürdiger ist jene erste Liebe, die erst allmählich über den enthusiastischen Liebhaber kommt, denn meistens ist die weibliche Zuneigung für ihn etwas so Neues, daß er sie mit übertriebener Verehrung vergilt und keine Ahnung davon hat, daß nur seine Eitelkeit eine neue Befriedigung gefunden hat. In diesen Fällen ist die Liebe nicht nur übertrieben, sondern, weil nur auf der Selbstliebe basiert, direkt unwahr. Wenn diese Eitelkeit ihre Befriedigung gefunden hat, dann verschwinden die der Geliebten zugeteilten, rein imaginären Eigenschaften und die ganze Geschichte endigt zumeist recht traurig mit Überdruß und darauf folgender Zertrümmerung des Götzenbildes.
Das Feuer war ganz ausgegangen, die Nachtluft hatte Lord Montacutes Blut abgekühlt, er begann zu frieren und suchte wieder sein Lager auf, auf dem er dieses Mal einen tiefen und kräftigenden Schlaf finden sollte.
Am nächsten Tage, um zwei Uhr nachmittags, besuchte Tancred Lady Bertie wiederum. Als sein Wagen vor ihrer Tür hielt, sah er jenen Ausländer herauskommen, der bei ihrem Unfall in der City an ihrer Seite gewesen war. Er erkannte Lord Montacute wieder und begrüßte ihn höchst zeremoniell, jedoch nicht ohne eine gewisse angenehme Grazie. Er war ein Mann, dessen stark durchfurchtes Gesicht in einem gewissen Widerspruch zu seiner sonst strammen Haltung stand und der dabei äußerst sorgsam und nach der neuesten Mode gekleidet war. Er hatte etwas Solides an sich, das für ihn einnahm, trotzdem sein Benehmen vielleicht ein für seine Jahre zu höfliches war. Jedenfalls sah er nicht wie ein Carbonaro oder wie ein politischer Flüchtling aus. Wer konnte der Mann nur sein?
Tancred hatte sich diese Frage schon früher vorgelegt, denn es war nicht das erstemal seit ihrem Zusammentreffen in der City, daß er diesem eleganten Ausländer begegnet war. Tancred hatte ihn schon früher einmal vor dem Hause Lord Berties, einmal sogar auf der Treppe getroffen, ein anderes Mal war er ihm sogar vor der Türe von Lady Berties Privatzimmer begegnet. Da es vollkommen klar war, daß sein Besuch diesmal der Dame des Hauses gegolten hatte, hatte Lady Bertie es für nötig gehalten, etwas zur Erklärung zu sagen: der Fremde, den sie »den Baron« benannte und in etwas hastigen, aufgeregten Worten als einen besonders guten Freund bezeichnete, hätte ihr vollstes Vertrauen sich dadurch erworben, daß er ihnen in Paris überaus behilflich gewesen wäre, sie hätten zum Beispiel durch ihn das seltenste Porzellan fast für umsonst kaufen können, er wäre ein Mann von unschätzbarem Werte und wäre jetzt nur in England, um einige private Geschäfte von großer Wichtigkeit zu erledigen. Der Lord und sie selber – so fuhr Lady Bertie fort – nähmen großes Interesse an seinen Unternehmungen und wünschten ihm allen Erfolg, besonders da Lord Bertie sein besonderer Freund sei. Nun, und angesichts der unzähligen Freundschaftsdienste, die man von dem Fremden erfahren hätte, könnte das doch niemand überraschen.
»Sicherlich nicht«, sagte Tancred und suchte die Unterhaltung auf einen anderen Gegenstand zu lenken.
Lady Bertie war ungewöhnlich mißmutig und traurig, was Tancred sofort auffiel. Ihre Hand zitterte, als er ihr die seine gab, und ihr Gesicht, das bei seinem Eintritt hochrot gewesen war, wurde mit einem Male tödlich blaß.
»Sie sind nicht wohl,« sagte er. »Ich habe beinahe Angst, der offene Wagen, in dem wir gestern zurückkamen, ist daran schuld.«
Sie schüttelte den Kopf. Weder der offene Wagen, noch die Gesellschaft, die entzückend gewesen sei, wären an ihrem heutigen Unwohlsein schuld. Solche Kleinigkeiten würden nie irgend welchen Einfluß auf sie gewinnen können, aber leider bestände das Leben nicht nur aus Kleinigkeiten. Er solle sich aber nicht unnötig besorgen; sie sei nur nervös, sie hätte nicht recht schlafen können, sie wäre von bösen Träumen heimgesucht worden, sie würde von schwarzen Gedanken gepeinigt, sie hätte unter anderem eine bestimmte Ahnung, daß ihr etwas Schreckliches bevorstünde. Tancred ergriff sie bei der Hand, um einem hysterischen Anfall, den er kommen sah, vorzubeugen. Aber Lady Bertie und Bellair war eine willensstarke Frau, die sich zu beherrschen wußte.
»Ich könnte alles ertragen,« sagte Tancred mit zitternder Stimme, »aber Sie unglücklich zu sehen ist für mich äußerst schmerzlich.« Hierbei rückte er seinen Stuhl näher an den ihrigen.
Er konnte ihr Gesicht, ihr schönes Gesicht nicht sehen – denn sie hielt es mit ihrer kleinen Hand verdeckt. Es entstand ein kurzes Schweigen, dann hörte man einen Seufzer.
»Liebe, gnädige Frau«, sagte Lord Montacute.
»Wie?« murmelte Lady Bertie und Bellair.
»Warum haben Sie geseufzt?«
»Weil ich unglücklich bin.«
»Nein, nein, das dürfen Sie nicht sagen,« sagte Tancred, ganz außer sich, »Sie dürfen, Sie sollen nicht unglücklich sein.«
»Ich kann nicht dafür – Sie wollen ja weggehen.«
»Wir brauchen uns nicht zu trennen«, sagte er mit leiser Stimme.
»Sie wollen also hierbleiben?« sagte sie, indem sie ihr gepeinigtes Gegenüber mit ihren schönen faszinierenden Augen freundlichst anblickte.
»Bis wir alle zusammen gehen können«, sagte er mit liebevollem Ausdruck.
»Das wird nicht gehen,« sagte Lady Bertie, »mein Mann wird sich niemals mit dieser Idee befreunden können, mehr als auf sechs Wochen kann er nie außerhalb Londons zubringen, er ist zu sehr an seine Klubs gewöhnt. Wenn man nur wüßte, wie man nach Jerusalem kommen könnte, so wäre es ja nicht ganz so schlimm; wenn es zum Beispiel nur eine Eisenbahn gäbe!«
»Eine Eisenbahn!« rief Tancred erschreckt. »Eine Eisenbahn nach Jerusalem!«
»Nein – das ist natürlich unmöglich,« fuhr Lady Bertie in Gedanken versunken fort. »Es gibt ja keinen Handel dort. Und ich bin das Opfer,« fügte sie mit zitternder Stimme hinzu, »ich muß hier unter Leuten bleiben, die mich nicht verstehen und für die mein eigenes Herz nichts übrig hat. Aber gehen Sie, Lord Montacute, gehen Sie und seien Sie allein glücklich! Ich hätte darauf vorbereitet sein sollen; Sie haben mich nicht getäuscht. Sie haben mir von Anfang an gesagt, Sie seien ein Pilger, aber ich habe mich durch meine Phantasie verführen lassen. Ich habe geglaubt, ich würde Palästina auch sehen und mit Ihnen zusammen sehen.« Dabei fiel sie in ihren Stuhl zurück und bedeckte ihr Gesicht mit der Hand.
Tancred stand auf und ging mit erregten Schritten im Zimmer auf und ab. Sein Herz schien bersten zu wollen.
»Was ist dies für eine entsetzliche Geschichte!« dachte er. »Wie ist das nur alles so gekommen? Ein unvorhergesehenes Hindernis nach dem andern! Alle meine Ideen und Pläne und Entschlüsse durchkreuzt! Und ich selber nicht mehr Herr meiner selbst und meines Schicksals! Ich bin ja ganz verwirrt und kann kaum etwas Vernünftiges denken, geschweige denn tun.«
Seine wirren Träumereien wurden durch ein plötzliches Schluchzen unterbrochen.
»Himmel, ich ertrage das nicht länger!« sagte Tancred und ging auf sie zu, »lieber mein Tod, als Ihr Unglück. Liebstes Wesen!«
»O, nennen Sie mich nicht so,« murmelte sie. »Alles könnte ich von Ihnen hören, nur nicht solche Kosenamen. Und verzeihen Sie mir – ich bin heute nicht ganz meiner mächtig. Ich hatte gedacht, daß ich stark genug sein würde, unsere unvermeidliche Trennung zu ertragen; aber ich habe mich geirrt, ich habe meine Widerstandsfähigkeit überschätzt. Ich komme mir sehr verächtlich vor und sehr dumm dazu – aber Sie müssen mir vergeben. Ich nehme zu viel Anteil an Ihnen, als daß ich erlauben könnte, daß Sie Ihre Abreise auch nur einen Augenblick für mich aufschieben. Ich werde mich in unsere Trennung zu finden wissen, ich hoffe, ich werde mich darein finden können. Ich werde dieser Welt den Rücken kehren, für immer den Rücken kehren. Auch ohne daß wir uns kennen gelernt hätten, hätte ich das getan. Ich war gerade im Begriffe, es zu tun, als wir uns begegneten, als mein Traum sich endlich zu erfüllen schien. Gehen Sie, gehen Sie – bleiben Sie nicht! Gott schütze Sie und schreiben Sie, ich werde Ihnen antworten – falls ich noch am Leben bin.«
»Ich kann sie so nicht verlassen,« dachte Tancred bekümmerten Herzens. »Niemals soll es von mir heißen, daß ich ein Weib ruiniert oder ihr Herz gebrochen hätte.« Er wollte gerade auf sie zugehen, als die Tür sich öffnete und ein Bedienter, der, ohne einen Blick auf Tancred zu werfen, wieder verschwand, ihr einen Brief hereinbrachte. Trauer und Verzweiflung schwanden sofort aus Lady Berties Gesicht, als sie die Handschrift auf dem Kuvert erkannte. Unter dem Anzeichen größter Erregung riß sie den Brief auf, ihr Gesicht schien sich plötzlich zu versteinern, sie stieß einen leichten Schrei aus und fiel in Ohnmacht.
Tancred stürzte auf sie zu, um ihr Hilfe zu leisten, aber sie war vollkommen besinnungslos und so weiß wie Alabaster. Den Brief, der nur zwei Reihen enthielt, hielt sie krampfhaft in ihrer Hand. Tancred las ihn, aber nicht aus Neugierde, es war vielmehr unmöglich für ihn, ihn nicht zu lesen. Tancred besaß jenen Adlerblick dem nichts zu entgehen pflegt, er war im übrigen selber aufs äußerste erschrocken, der Brief konnte ihm vielleicht über die Ursache der Ohnmacht Auskunft geben und gleichzeitig verraten, was dagegen zu tun sei. Der Brief lautete:
»3 Uhr.
Der Narrow Gauge hat gewonnen. Wir sind vollkommen verloren und Snicks erzählt mir noch dazu, daß Sie gestern noch weitere fünfhundert zu 72½ dazugekauft haben. Ist das möglich?
F.«
»Ist das möglich?« kam es wie ein Echo aus Tancreds Munde. Er klingelte, das Hausmädchen erschien, er überließ die Dame ihrer Fürsorge und eilte schleunigst die Treppe hinunter. Unten angekommen, sprang er schleunigst in einen Wagen.
»Wohin?« fragte der Kutscher.
»Zur City.«
»Wohin dort?«
»Fahren Sie in die Nähe der Bank.«
Der Wagen hielt, Tancred sprang heraus und ging eiligen Schrittes nach Sequin Court. Er schickte seine Karte zu Sidonia hinein, der ihn in wenigen Minuten empfing. In demselben Augenblicke, in dem er das Zimmer des großen Finanzmannes betreten wollte, kam jener Herr heraus, der in Brook-Street unter dem Namen »der Baron« aus und ein ging.
»Nun, wie ist Ihr Fischdiner vonstatten gegangen?« sagte Sidonia und sah dabei überrascht in Tancreds verstörtes Antlitz.
»Ich bitte um Entschuldigung – es ist ganz unberechtigt – selbst unverschämt meinerseits,« kam es zaudernd aus Tancreds Munde, »aber dieser Herr – dieser Herr, der soeben Ihr Zimmer verlassen hat – ich habe das größte Interesse daran, zu erfahren, wer dieser Herr ist.«
»Ein französischer Kapitalist,« erwiderte Sidonia lächelnd, »ein hervorragender französischer Kapitalist, der Baron Villebecque de Chateau Neuf. Er wünscht meine Unterstützung bei einem großen Eisenbahnunternehmen in seinem Vaterlande: eine neue Linie nach Straßburg – er erwartet einen großen Aufschwung des Handels dadurch – Gänseleberpasteten wahrscheinlich. Aber das wird Sie kaum interessieren. Was wollen Sie sonst über ihn wissen? Ich kann Ihnen genau Auskunft geben. Er war Lord Monmouths Verwalter, der ihm £ 30 000 hinterließ, worauf er sich in Paris als Millionär etablierte. Er ist übrigens auf dem besten Wege, einer zu werden: er hat Ländereien gekauft, ist Deputierter geworden, und außerdem Baron. Ich mag ihn ganz gern,« fügte Sidonia nach einer Pause hinzu, »und ich habe ihm auch häufig durch meine Ratschläge geholfen, denn ich kannte ihn lange vor Lord Monmouth – er war damals in einer ganz anderen Lebenssphäre tätig, doch nicht in einer, vor der ich etwa weniger Respekt hätte. Er war ein ausgezeichneter Komiker und der berühmteste Theaterdirektor Europas; spekulierte jedoch dabei in schrecklicher Weise, aber er ist ein ehrlicher Mann und hat ein gutes Herz.«
»Er ist mit Lady Bertie und Bellair eng befreundet«, sagte Tancred zögernd.
»Das ist ganz natürlich«, erwiderte Sidonia.
»Die Dame,« sagte Tancred, der jetzt nach außen vollkommen ruhig war, trotzdem sein Herz bei der Frage noch bedenklich klopfte, »die Dame hat wohl ebenfalls ein starkes Interesse an Eisenbahnen, nicht wahr?«
»Sie ist die eingefleischteste weibliche Spielratte Europas,« sagte Sidonia, »und spekuliert in allen möglichen Sachen. Villebecque ist ihr Hauptfreund und Ratgeber. Er hat die englische Aristokratie in sein Herz geschlossen, denn er verdankt ja einem ihrer Angehörigen sein Vermögen. Lady Bertie war dieses Jahr in Paris in größter Verlegenheit – darum ist sie erst Ostern nach Hause gekommen – Villebecque hatte ihr noch einmal herausgeholfen. Er wird ihr auch jetzt wieder zur Seite stehen, wenn er irgend kann, übrigens war sie genau an demselben Tage, an dem ich das Vergnügen hatte, Ihre Bekanntschaft zu machen, noch hier bei mir mit ihrem Villebecque; sie warteten beide ungefähr eine Stunde lang, aber ich konnte sie nicht empfangen. Leider verfolgt sie mich seitdem auch mit ihren Briefen, aber ich kann mich auf weibliche Finanzmanöver nicht einlassen. Ich hoffe nur, daß der brave Baron ihr auch dieses Mal getreulich zur Seite stehen wird, denn ihre Vermögensangelegenheiten, von denen ich, wie von denen anderer Leute eine nur zu genaue Kenntnis habe, stehen augenblicklich keineswegs glänzend.«
»Ich nehme Ihre kostbare Zeit zu sehr in Anspruch,« sagte Tancred nach einer peinlichen Pause, »aber ich stehe im Begriffe abzureisen.«
»Wann?«
»Morgen; heute, wenn es ginge, und Sie waren so freundlich, mir einen Einführungsbrief –«
»Einen Einführungsbrief und einen Kreditbrief zu versprechen. Gewiß. Ich habe es nicht vergessen und ich werde sie Ihnen beide sofort ausstellen.« Sidonia ergriff seine Feder und schrieb:
Einführungsbrief.
An den spanischen Abt des Terra-Santa-Klosters,
Herrn Alonzo Lara
Jerusalem.
»Heiliger Pater! Der junge Mann, der Ihnen diesen Brief überreichen wird, ist ein Pilgersmann, der den Wunsch hat, den Schleier des großen asiatischen Geheimnisses zu lüften. Seien Sie ebenso freundlich zu ihm, wie Sie zu mir waren und mag der Gott des Sinai, an den wir alle glauben, Sie beschützen und sein Unternehmen gelingen lassen!
Sidonia.«
London, Mai 1845.
»Sie verstehen ja Spanisch,« sagte Sidonia und gab Tancred den Brief zum Lesen. »Den anderen Brief werde ich auf Hebräisch schreiben – auch diese Sprache werden Sie ja bald entziffern lernen.«
Ein Kreditbrief.
Herrn
Adam Besso,
Jerusalem.
London, Mai 1845
»Mein lieber Adam! Wenn der junge Mann, der Ihnen diesen Brief überreicht, Geld brauchen sollte, so geben Sie ihm soviel Geld, als nötig ist, um den Löwen, der zur rechten Seite und auf der ersten Stufe des Thrones des Königs Salomo steht, anzufertigen; und wenn er noch mehr Geld haben will, so geben Sie ihm soviel, als genügen würde, um den Löwen an der linken Seite zu formen, und so weiter durch alle Stufen und alle Löwen des Königsstuhles hindurch. Für alles, was er brauchen sollte, wird jenes Kind Israels aufkommen, dessen Name unter den Christen ist
Sidonia.«