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Dann saßen sie einander gegenüber in dem schmalen Raum des Kabinettes an dem kleinen Tischchen, das Marianne gedeckt hatte. Der emigrierte rote Terrorist und die Tochter des Generals.
Eine seltsame Freundschaft entspann sich zwischen den beiden. Jeder fragte begierig nach dem Leben des andern. Marianne war mit dem Bericht über ihr bisheriges Dasein bald fertig.
Ihre Persönlichkeit, wenn sie eine hatte, schlief noch. Es war, wie wenn sie sich im Leben verspätet hätte. Sie wirkte in ihrem Reden und in ihrer Art jünger, als es eigentlich ihren Jahren zukam.
Vielleicht, daß die Not der Tage, in denen sie erwachsen war, ihr weibliches Triebleben unterdrückt hatte. So reif sie körperlich schien, so unreif war sie menschlich.
Eigentlich war alles von ihr abgeglitten und nicht in ihr Inneres gedrungen. Sie verstand die Dinge nicht, die um sie vorgingen.
Mit weit aufgerissenen Augen lauschte sie, wie Kalmar sein wechselvolles Leben, ohne Rücksicht und ohne Schonung, vor ihr entrollte – den ganzen Kampf um seine Existenz mit allem Auf und Ab, wie er ihn durchgemacht hatte – und eigentlich noch durchmachte.
Sie bekam eine Hochachtung vor dieser zähen Lebensenergie, die nicht niederzuringen war, und gestand es ihm offen ein.
Für Politik hatte sie wenig Interesse und noch weniger Verständnis.
»Was wollten die Roten, und was wollen die Weißen? Und warum hat man nicht alles so gelassen, wie es früher war? Damals ist es uns gut gegangen, und jetzt geht es uns schlecht. Und wann wird sich das wieder ändern?«
Marianne fragte viel mehr, als ihr Ernö Kalmar in der Geschwindigkeit beantworten konnte.
Er hatte nur das Gefühl: Dieses Weib ist wie ein Schwamm, der alles aufsaugt – oder wie trockenes Erdreich, auf das endlich Regen fällt. Was der Boden tragen wird, was aufgeht, was für Keime da drinnen stecken – das kann jetzt noch niemand sagen.
Eine rätselhafte, unerschlossene Welt war ihm dieses Weib.
Schön war sie! In manchen Momenten sogar unheimlich schön. Wie ein junges, naives Raubtier, das keine Ahnung hat von all den Kräften, die in ihm schlummern – bis es sich eines Tages staunend selbst erkennt und seiner Macht bewußt wird.
Es reizte Ernö Kalmar, Wärter und Dompteur gleichzeitig zu spielen.
Was kann man aus diesem Geschöpf machen? Wo schlummern ihre Kräfte und Möglichkeiten? Was gewinnt man und was verliert man, wenn man sich mit ihr einläßt und in ihr Leben eingreift?
Nicht ohne jede Absicht wich er jeder Frage über seine Gegenwart aus. Er wollte sich nicht zu tief in sein Treiben blicken lassen. Nur die journalistische Tätigkeit gab er zu – sonst nichts. Desto bereitwilliger erzählte er alles bis zu seiner Ankunft in Wien.
Die Beratung über Mariannens Zukunft und was sie mit sich anfangen sollte wurde für ein andermal verschoben – heute wollte sie nur hören.
Man beschloß, öfter solche kleine Teeabende einzuführen. An stillen Sonntagnachmittagen oder in den Stunden zwischen acht und zehn, über die Herr Kalmar am leichtesten verfügen konnte ...
Die dunkle Jugendepisode ihrer Mutter hatte sie schamhaft verschwiegen. An diesem Abend war sie nur Generalstochter und Baronesse gewesen.
Der ungewohnte Punsch und das feinere Essen hatten eine bezaubernde Röte über ihr Gesicht ergossen. Die Lippen glühten und die starken, weißen Zähne leuchteten grell dazwischen.
Schönes, wildes Tier! Schönes, wildes Tier, mußte Herr Kalmar immer wieder denken. Ob ich es wagen soll? Der Mühe wert wäre es schon, einmal eine Frau zu erobern und zu besitzen, die man nicht bezahlt hat, sondern die sich freiwillig und aus Liebe gibt.
Nie war es ihm eigentlich als Mangel und Verlust seines Lebens aufgefallen, daß er fast vierzig Jahre alt geworden war, ohne jemals eine andere als die käufliche Liebe kennen gelernt zu haben, so wie sie eben ausgeboten wird in den schmutzigen Häusern der ungarischen Provinz, bei den aufpeitschenden und wüsten Klängen der Zigeunermusik.
Immer war er mit dieser Erledigung seiner Erotik einverstanden gewesen. Und heute auf einmal kamen ihm andere Wünsche und Gedanken. Was war doch das für eine merkwürdige Stimmung? War das eine Alterserscheinung? Oder ein neuer Lebensfrühling, der sich in ihm ankündigte? Oder war es nur eine Torheit, gegen die er ankämpfen mußte?
Liebe ist Torheit, sagte er sich. Eine Forderung des Blutes, die den Verstand und die Tatkraft umnebelt und lähmt. Wer liebt, wird zum Sklaven. Nur wer zahlt und gehen kann, bleibt frei und ein aufrechter Mann.
Mit plötzlicher Hast stand er auf, um sich von seiner schönen Hausfrau zu empfehlen, obwohl – oder vielleicht gerade weil die Stimmung reizend, vertrauensselig und behaglich war und die guten und seltenen Sachen, die er zum Essen und Trinken mitgebracht hatte, noch lange nicht zu Ende gegangen waren.
»Es ist spät geworden und Sie sind das lange Aufbleiben nicht gewohnt. Ich will Ihnen nicht länger lästig fallen.«
Nicht ohne leise Enttäuschung sah ihn Marianne scheiden.
Der Mann war nicht jung. Der Mann war nicht schön. Aber so interessiert hatte sie doch noch mit keinem Menschen gesprochen. Sie hätte am liebsten bis zum Morgen mit ihm weitergeredet – aber das konnte sie ihm doch nicht sagen.
Und so ließ sie ihn gehen.
Kalmar empfand sein kühles, einsames Zimmer, in das kein Dunst von Zigaretten und Punsch gedrungen war, förmlich als Beruhigung und Erlösung nach diesen schwülen Stunden.
In was für eine Sache hätte er sich da beinahe eingelassen! Wirklich überflüssige Zeitverschwendung! Dazu war er nicht jung genug! Überhaupt, er mußte an sein Fortkommen denken, an seine Geschäfte – aber nicht an ein Frauenzimmer, und sei es noch so schön und begehrenswert.
Und er vertiefte sich in seine Kalkulationen und wie man auf dem Wege der Arbitrage seine Hollandgulden vermehren könnte. Studierte die Kurse von Amsterdam und Wien. Außerdem aber grübelte er über das Problem, ob der Waggon Reis, der in Triest stand, nicht als Transitware deklariert werden könnte.