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Auf einmal erwacht die Börse.
Nachrichten aus Paris. Der Frank hat eine fallende Tendenz.
Mit ungeheurer Vehemenz stürzt sich alles in die Kontermine. Der Frank geht herunter ... er muß herunter ... wie die Krone ... wie die Mark in jähen Stürzen nach abwärts getaumelt sind ...
Jetzt ist Frankreich auszuplündern – wie Deutschland und Österreich ausgeplündert wurden.
Die Frank-Psychose ergreift und benebelt alle – Kalmar nicht ausgenommen.
Kalmar kauft für sich – Kalmar kauft für die Bank: Dollar und wieder Dollar ... zweihunderttausend – dreihunderttausend ... zahlbar in Franks.
Er kauft französische Papiere ... alles mit Termin zum ersten März ... zum fünfzehnten März ... zum ersten April ... Der große Fischzug muß gemacht werden! Es ist der letzte, der entscheidende Moment – dann wird seine Bank zur Großbank geworden sein und er selbst der neue Rothschild von Wien.
Die letzten Kredite werden in Anspruch genommen.
Sein Freund Wiesel stimmt ihm eifrig zu, kaufen, was zu kaufen ist! Ausnützen! Eine Gelegenheit wie diese kommt nicht wieder!
Aber der schlaue Wiesel – er selbst kauft nichts.
Er rührt keinen Finger und hält dieses Mal nicht mit.
Er hat Nachrichten, ganz geheime, von Morgan und seinen Leuten. Er sieht hinter die Kulissen der Börse und der großen Transaktionen.
Amerika raubt die Räuber aus und gewinnt einen neuen Sieg.
Auf einmal schlägt es um.
Der Frank hat seinen Tiefstand erreicht. Er fällt nicht mehr weiter ...
Der Frank steigt.
Die Blätter bringen beruhigend gefärbte Nachrichten: Es handelt sich nur um eine vorübergehende Stützungsaktion der französischen Regierung. Der Frank ist faul und nicht zu halten. Morgen ist er wieder unten.
Aber es kommt anders.
Siegreich steigt der Frank, erreicht seine alte Höhe – und geht sogar noch über sie hinaus.
Milliarden gehen verloren und wandern ins Ausland.
Die Banken krachen, die Banken wanken, sie stürzen, wenn sie nicht gestützt werden.
Effektenpakete werden auf den Markt geschleudert, um Bargeld zu bekommen. Und die Effekten sinken rapide an Wert. Was gestern noch vierhunderttausend Kronen wert war – ist heute kaum hunderttausend wert.
Die gefürchteten Zahltermine rücken näher.
Wird man zahlen oder die Kassen sperren und sich insolvent erklären?
Der ganze Markt ist bis in seine Grundfesten erschüttert.
Wien ist mit einem Schlag verarmt. – Sein Reichtum ist ins Ausland gewandert ...
Die schillernde Sumpfdecke, die sich über die Stadt ausgespannt hatte, ist plötzlich zerrissen. Der Blick in das wüste Gebrodel in der Tiefe ist frei. Die Effekten, zwangsweise auf den Markt geworfen, sausen noch tiefer herab.
Riesenvermögen zerrinnen zu nichts ...
Katastrophenbaisse!
Der Tag einer grausamen Klarheit ist hereingebrochen.
Die Bettler wissen wieder, daß sie Bettler sind – und halten sich nicht mehr für Könige ...
Die Stadt ist wieder arm ... ärmer als früher.
Der goldene Nebel, der die Gemüter verheißungsvoll betäubt und bezaubert hat, ist zu guter Letzt stinkend und schwarz geworden.
Villen, Autos und Schmuck der neuen Reichen werden eiligst wieder zu Geld gemacht. Die rasch zusammengekauften Bibliotheken und Kunstsammlungen wandern ins Dorotheum und sind nicht anzubringen.
Zu den alten Armen kommen jetzt die neuen Armen, die den Reichtum ein Jahr lang ausgekostet haben.
Die Selbstmorde werden epidemisch ... hundertneunundsiebzig in einem Monat.
Unter Bankdirektoren und Verwaltungsräten herrscht die bleiche Furcht. Jeden Tag verschwindet ein anderer ins Ausland und wenn es auch nur Ungarn ist. Die Klügsten rafften den Rest ihrer Vernunft und ihres Geldes zusammen – und wanderten ins Irrenhaus – oder wenigstens in ein Sanatorium, damit sie bis auf weiteres nicht verhandlungsfähig sind.
Kommt Zeit – kommt Rat.
Die Regierung treibt die Großbanken fast mit Gewalt zusammen und verlangt, daß sie einen Stützungsfonds bilden, um das Ärgste hintanzuhalten.
Man darf sich dem Ausland gegenüber nicht so bloßstellen. Außerdem die Gefahr für die Staatskredite.
Widerwillig bewilligen die Banken zweihundert Milliarden, was natürlich viel zu wenig ist, um eine ausgiebige Rettungsaktion durchzuführen.
Aber die Großbanken wollen ja gar nicht retten – im Gegenteil: Sie wollen die Kleinen lieber sterben sehen und sie beerben.
Kalmars Bank genießt keine besondere Sympathie bei den anderen Banken. Sie verweigern die Hilfe und legen ihm nahe, seine Insolvenz zu erklären. Kalmar fordert von seinen Verwaltungsräten Geld, um durchhalten und die Krisis überwinden zu können ...
Die Verwaltungsräte erklären scheinheilig, selbst kein Geld zu besitzen und alles verloren zu haben.
Unter mehr oder weniger durchsichtigen Vorwänden ziehen sie sich von der Bank zurück und geben ihre Demission – soweit man sie nicht zum Bleiben zwingen und für die Geschäftsführung verantwortlich machen kann. Eile tut not, ehe ein diesbezügliches Gesetz, das erwartet wird, sie festnagelt.
Die vollgefressenen Ratten verlassen das sinkende Schiff. Ihr Selbsterhaltungstrieb ist wesentlich stärker als ihre Anständigkeit und ihr Verantwortungsgefühl. Sie denken in erster Linie an sich und lassen die kleinen Einleger und Aktionäre im Unglück schwimmen.
Kalmar opfert alles, was sein persönliches Eigentum ist. Nur Mariannens Besitz läßt er unberührt. Er hofft, sie werde ihm beispringen – und hofft vergebens. Sie selbst darum anzugehen, dazu ist er zu stolz.
Geschenkt – ist geschenkt.
Aber alle Summen, die Kalmar flüssig macht, erweisen sich als viel zu gering, um die herannahende Katastrophe aufzuhalten.
Die gefährlichen Termine rücken näher und näher ... kommen gigantisch und vernichtend wie die Eisberge auf hoher See auf das stampfende Schiff, dessen Steuerschrauben gebrochen sind, herangeschwommen. Nur ein Wunder kann da noch retten.
Kalmar kommt nicht aus den Kleidern; er schläft nicht mehr – bis zum letzten Moment will er alles versuchen, was retten kann. Er belagert Minister, Politiker, Direktoren, Präsidenten, Industrielle. Eine Türe nach der anderen verschließt sich vor ihm ...
Achselzucken, ja boshafte Worte des Triumphes sind die Regel. Man speist ihn ab ...
Kalmar ist zum Gespenst abgemagert. Er ist in diesen Tagen um Jahrzehnte gealtert: gelbe Haut, fiebernde Augen und graue Haare.
Da entschließt er sich, den bittersten Weg zu gehen.
Er wird sich Wiesel rückhaltlos eröffnen. Er empfindet die Demütigung, die darin liegt, wie einen Peitschenschlag übers Gesicht – aber er sieht keinen anderen Ausweg mehr. Es muß sein.
Er hat sich telephonisch bei Wiesel angesagt ... Er wankt aus seinem Auto, der Portier muß ihn stützen, sonst wäre er gefallen ...
Wie ein alter Mann tappt er über die roten Velourteppiche empor.
Er muß sich an den Messingstangen fast hinaufziehen.
Die paar Stufen ins Hochparterre haben ihn atemlos gemacht.
Er betritt das wohlbekannte Vorzimmer und wird nicht vorgelassen.
Der Diener, der ihn natürlich kennt und ihm sonst katzenbuckelnd mit der Meldung vorauslief, ist auf einmal vornehm und zurückhaltend geworden. Er habe die telephonische Ankündigung Kalmars allerdings aufgenommen und an Herrn Präsidenten Wiesel weitergegeben ... aber ...
»Was für ein ›Aber‹?«
»... aber es ist ungewiß, ob Herr Präsident Wiesel Herrn Präsidenten Kalmar noch vormittags empfangen kann.« Er hat eine sehr wichtige Sitzung ... und wie lange die dauern wird, ist ganz unbestimmt ... Und dann muß Herr Präsident Wiesel sofort in den Bankenverband, von wo sie auch schon telephoniert haben ... Vielleicht, daß der Herr Präsident dazwischen einen Augenblick Zeit hat – aber es ist, wie gesagt, ganz unsicher und unbestimmt ...
»Wenn es der Herr Präsident Kalmar darauf ankommen lassen und aufs Geratewohl warten will ...«
Kalmar kennt diese Tonart – aber jetzt ist nicht der Moment, empfindlich oder gar grob zu werden.
Er schickt den Diener mit seiner Karte hinein, ob Wiesel nicht einen Moment herauskommen könne. Es wäre ihm eilig und seine Sache wäre kurz zu erledigen.
Der Diener kommt mit dem Bescheid zurück:
»Vor einer Stunde ist es ganz unmöglich.« Herr Präsident Kalmar wolle vielleicht morgen wiederkommen – oder nachmittags um vier Uhr, wenn die Sache wirklich so dringend sei.
Kalmar nimmt alle Selbstbeherrschung zusammen, um den Diener nichts merken zu lassen.
Mit heiterem Gleichmut markiert er, die Sache humoristisch zu nehmen. Er fährt auch jetzt nicht empor und steckt diese neue Demütigung kalt lächelnd ein, ignoriert den Peitschenhieb, den ihm Wiesel durch einen Diener versetzen läßt ...
Er hat viel einzustecken gelernt in diesen Tagen. Es kommt schon nicht mehr darauf an.
Er setzt sich ruhig in einen der tiefen, ledernen Klubfauteuils des Wartezimmers und wartet wie der nächstbeste Klient oder Kleinaktionär auf den großmächtigen Herrn Präsidenten.
Kleine Journalisten, die Nachrichten fischen, kommen für den Volkswirt; der Administrator eines zweifelhaften Blattes erscheint, der wahrscheinlich eine fette Subvention für ein mageres Inserat einzufordern gekommen ist, und benimmt sich, als ob er Herr im Hause wäre.
Kalmar wird erkannt und gemieden.
Man weiß noch nicht recht, wie man sich benehmen soll:
»Hypokratische Züge, Moribundus ...«, witzelt einer halblaut.
»Gestern noch auf stolzen Rossen – morgen vielleicht eingeschlossen ...«, sagt der andere.
»Wiesel läßt ihn warten! Das spricht Bände ...«
Kalmar übersieht hochmütig die Anwesenden und entzündet nervös eine Zigarette an der anderen.
»Haltung hat er«, bemerkt anerkennend der kleine Zeilenschinder.
Nach einer Stunde steckt Wiesel prüfend den Kopf heraus und fährt unangenehm berührt zurück. Er hat gehofft, daß Kalmar gegangen ist und ihm die ganze Unterredung erspart bleibt.
»Zäh' ist der Bursche«, denkt sich Wiesel. »Der schenkt einem nichts! Na, bei mir wird er kein Glück haben.«
Beide Hände freundschaftlich vorgestreckt, kommt Wiesel Kalmar entgegen: »Lieber Freund, reizend, daß Sie gewartet haben! Wirklich reizend!«
Er grinst über das ganze Gesicht.
»Ich habe nicht geglaubt, daß Sie so viel Geduld haben werden. – Gleich, meine Herren! Gleich! Wir sind sofort fertig!« ruft Wiesel den anderen zu und verschwindet mit Kalmar in seinem Zimmer.
»Also, lieber Freund, nehmen Sie Platz und erzählen Sie mir: Was führt Sie her? Wie stehen wir? Hoffentlich gut ... Sind Sie schon hinüber über die Krisis ...? Ein Mann wie Sie, mit diesen Ressourcen, hält schon einen Puff aus. Der ist nicht so leicht umzuschmeißen. Hoffentlich haben Sie sich bei dieser verfluchten Franksache nicht gar zu weit vorgewagt und sind rechtzeitig ausgestiegen ...«
»Leider, nein«, erwidert Kalmar hart.
»O, verflucht! Das ist bös. Darauf war ich nicht vorbereitet«, erklärt Wiesel unschuldig. »Aber Ihre Lage ist doch nicht ernst oder am Ende gefährlich? Das täte mir leid.«
»Sehr ernst und sehr gefährlich«, erklärt Kalmar. »Direkt gefährlich ... Und deswegen bin ich da. Lieber Wiesel, wir sind alte Geschäftsfreunde und haben so manches gute Geschäft mitsammen ausgekocht ... Ich bitte Sie, springen Sie mir mit fünfzig Milliarden bei.«
»Fünfzig Milliarden? Sind Sie wahnsinnig!?«
»Ich bin bereit, von meiner Stelle zurückzutreten ... Sie können meine Aktien haben ... Wir können uns fusionieren ... Meine Bank kann in Ihrer aufgehen ... Wenn Sie mir beispringen, können wir unsere Verluste hereinbringen, können wir unsere Aktien auf einer gewissen Höhe halten, brauchen wir unsere Industrien nicht zu sperren und die Maschinen zu verkaufen ... Allerdings, wenn man uns fallen läßt, sind unsere Aktien Makulatur und können beim Käsestecher verkauft werden. Unsere Aktien belaufen sich ...«
Wiesel fällt ihm ins Wort:
»Lieber Freund, weihen Sie mich in diese Details erst gar nicht ein! Es hat keinen Zweck.«
Wiesel wiegt das Köpfchen und lutscht bedächtig an seiner Zigarre. Er hat alle Mühe, seinen Triumph zu verhüllen und den Mitleidigen zu spielen. Klagend beginnt er:
»Ich habs auch nicht so leicht, wie Sie vielleicht glauben ... Ich bin selbst sehr engagiert in Franks ... bös eingezwickt. Ich muß für mich selber alles aufbieten, um halbwegs gesund aus der Situation herauszukommen. Nein, mein lieber Freund, ich kann Ihnen nicht helfen! ... Ganz ausgeschlossen! Das müssen Sie sich schon aus dem Kopf schlagen! Sie verlangen Unmögliches von mir ...«
»Für Sie, lieber Wiesel, ist nichts unmöglich! Sie setzen alles durch, was Sie wollen. Sie allein können mich noch retten. Sie und Ihre Freunde! Einem Finanzgenie, wie Sie eines sind – ist nichts unmöglich ... Das Wort ist aus Ihrem Register gestrichen ...«
Kalmar schmeichelt schamlos.
Es ist der letzte Weg der Rettung. Wiesel schlürft den Weihrauch, den ihm Kalmar streut, wohlgefällig ein – wie ein Götze den Blutdunst. Aber er bleibt fest und unerbittlich. Sein Verstand ist größer als seine Eitelkeit. Die vollkommene Demütigung seines Gegners genügt ihm ...
Aber ein bißchen martern will er ihn noch und ausholen.
»Sehr lieb von Ihnen, daß Sie diese hohe Meinung von mir haben ... Dann werden Sie doch hoffentlich einen Rat von mir annehmen: Legen Sie kein gutes Geld aufs schlechte. Lassen Sie Ihre Bank ruhig verkrachen ... in einem Jahr spricht kein Mensch mehr davon ... Aber versuchen Sie nicht zu sanieren. Machen Sie einen billigen Ausgleich mit Ihren Gläubigern und retten Sie die Depots, die Sie im Ausland haben, für sich ...«
»Ich habe keine Depots im Ausland ... Ich habe alles hergegeben, was ich hatte.«
»Alles hergegeben? Pleite sind Sie? Total pleite? Alles hergegeben ...? Kalmar, verzeihen Sie ... ich habe Sie bisher für einen gescheiten Menschen gehalten ... jetzt sehe ich leider, daß Sie ein Trottel sind ...«
»Mehr als das – ein Bettler ... Und darum flehe ich Sie an: Seien Sie menschlich! Helfen Sie! Ich weiß, Sie können es ...«
Kalmar hat Tränen in den Augen. Er faltet vor Wiesel die Hände wie ein hilfloses Kind.
»Wenn schon nicht meinetwegen, aber ich habe eine Frau, die ich liebe. Tun Sie mir – tun Sie ihr die Schande nicht an, diesen furchtbaren Zusammenbruch erleben zu müssen ... Wiesel, lieber Wiesel ...«
»Was ich gesagt habe, habe ich gesagt. Überhaupt, seitdem ich weiß, daß Sie nicht einmal so schlau waren, etwas für sich auf die Seite zu bringen – so einem Mann vertraut man keine Milliarden an! Der ist unfähig als Geschäftsmann ... der muß liquidieren und sich einen anderen Beruf suchen ... als Versicherungsagent oder Kognakreisender ...«
Das Telephon schlägt an ...
Wiesel ergreift die Muschel:
»Bankenverband? ... Jawohl ... Die Sitzung ist aus ... Komme sofort ... In zehn Minuten bin ich da ...«
Als er die Muschel wieder hinhängt, ist Kalmar aus dem Zimmer verschwunden.
»Auch gut«, sagt Wiesel halblaut und zündet sich eine neue Zigarre an.
Wiesel ist höchst zufrieden. Jetzt ist seine Zeit gekommen. Er hat bei der Frankenspekulation nicht mitgetan. Er ist nicht umgefallen. Er steht fester da denn je. Nur den dummen Kalmar hat er hineingehetzt ... Warum hat er sich hetzen lassen?! Wäre er eben nicht so dumm gewesen! Seine Schuld! Jetzt wird er Kalmars Nachlaß billig kaufen – und Marianne mit dazu.
Selbstzufrieden geht er ins Vorzimmer.
Da sitzen noch immer Leute.
»Um vier Uhr, meine Herren ... jetzt ist es unmöglich – jetzt muß ich in den Bankenverband ...«
Alles umdrängt ihn und verlangt Auskunft über Kalmar und seine Bank.
»Geschäftsgeheimnisse, meine Herren ... Geschäftsgeheimnis ... Aber wenn Sie Aktien von der Schwedisch-Österreichischen Bank haben, dann verkaufen Sie ...«
Die Journalisten wissen genug.
Die Direktoren seiner Bank haben Kalmar mit nervöser Spannung erwartet. Die Situation ist nachgerade unerträglich geworden. Die Kassen sind so gut wie leer. Der Medio steht vor der Türe. Die Entscheidung: leben oder sterben muß fallen.
Verstört und mit stierenden Augen tritt Kalmar ein.
Den Direktoren bleibt die bange Frage: Bringen Sie Rettung? Bringen Sie Geld? im Halse stecken.
Sie wissen alles, ohne daß Kalmar ein Wort spricht.
Stumm schlürft Kalmar in sein prunkvolles Präsidentenzimmer, ohne die wartenden Herren auch nur zu beachten. Wie ein Schlafwandler handelt er – automatisch und mechanisch, ohne zu wissen, was er tut.
Die Direktoren bleiben flüsternd im Vorzimmer beisammen. Jeden Augenblick erwarten sie, von drinnen einen Knall zu hören, und halten sich bereit hineinzustürzen.
Noch einmal und wieder konferieren sie über die Lage der Bank. Keiner weiß einen Ausweg. Man muß den Dingen ihren Lauf lassen. Wird man den kleinen Angestellten wenigstens die Gehälter zahlen können?
Der dumpfe Knall aus dem Präsidentenzimmer läßt auf sich warten.
Die große Spannung flaut ab. Einer nach dem anderen verschwindet – der Alltag verlangt seine Rechte. Man hat auch ein Privatleben und seine Privatsorgen! Man muß wenigstens die eigene Existenz nach Möglichkeit sichern ...
Kalmar hat sich abgesperrt und verbrennt Papiere ... Er ist noch unentschlossen. Noch ist die letzte Verzweiflung nicht über ihn hereingebrochen. Er denkt an Marianne ... im äußersten Notfall, wenn alles wankt ... Marianne kann Schmuck und Villa verkaufen ... Man wird sich nach Hartenthurn zurückziehen und ein neues Leben beginnen ... Eigentlich steht die Sache für ihn als Privatmann nicht ganz so trostlos ...
Die Mittagszeitung bringt den ersten Alarmschuß – rüttelt die Öffentlichkeit auf und macht sie auf die Vorgänge in der Schwedisch-Österreichischen Bank aufmerksam ...
Der Sturm beginnt ... Jetzt geht es unaufhaltsam weiter ...
Am anderen Morgen Brandartikel in allen führenden Blättern: »Was geht in der Kalmar-Bank vor?«
Von halb neun Uhr früh angefangen drängen sich bereits die kleineren und kleinen Einleger und Sparer an den Kassen der Bank, kündigen ihre Konti und verlangen ihr Geld zurück.
Sie müssen vertröstet werden.
Die Erregung der Leute steigt.
Im Kassensaal kommt es zu tumultuösen Szenen.
Die Kassenbeamten bekommen böse Worte zu hören. Drohungen werden ausgestoßen. Rufe nach Polizei und Staatsanwalt werden laut.
Die Erregung steigt von Minute zu Minute.
Man telephoniert um polizeiliche Assistenz.
Eine alte Dame ist auf eine Bank gestiegen. Der Hut sitzt ihr schief auf den wirren, grauen Haaren. Ihr Gewand ist altmodisch und vernachlässigt. Eine lächerliche Spitzenmantille schlottert um ihre eckigen Schultern. Aus den zerrissenen Handschuhen schauen die Fingerspitzen. Man hat den Eindruck: verlotterte Noblesse, trotz alledem.
Die dunklen slawischen Augen glänzen wie im Wahnsinn. Sie schreit, sie fuchtelt, sie schwingt einen Parasol und sucht sich Gehör zu verschaffen ...
»Ich bin die Gräfin Wartenstein!« schreit sie immer wieder. »Hören Sie mich an, meine Damen und Herren!«
Zuerst lacht man über die Närrin, die sich heiser schreit, dann wird man aufmerksam und hört ihr mit einem Male zu.
»Ich bin die Gräfin Wartenstein, und dieses Haus war mein Haus ... Abgeschwindelt hat es mir dieser Betrüger – dieser Kalmar! Für einen Pappenstiel! Und das Geld, das er mir dafür gegeben, hat er mir auch abgenommen und hat gesagt, er wird für mich spielen und mich reich machen und den Schaden vergüten, den er mir gemacht. Verspielt hat er mein Geld! Zur Bettlerin hat er mich gemacht! Betrogen hat er auch, der Gauner, der Schuft, der zugereiste Betrüger! Champagner hat er gesoffen. Weiber hat er sich ausgehalten, im Auto ist er gefahren, der Schuft! Und alles für mein Geld ... Totschlagen soll man ihn! Hängen! Rädern!«
Ihre Rede ist zum Kreischen geworden. Schaum tropft ihr vom Mund.
Mit einem Weinkrampf stürzt sie von der Bank. Ihr tierisches Gebrüll tönt durch die Halle und widerhallt an der Marmorverkleidung der Wände ...
Die Menge ist rasend geworden und schleudert Tintenfässer und Stühle und was sie nur erreichen kann gegen die Schalter des Kassenraumes.
Mittlerweile werden draußen die Türen des Bankhauses geschlossen.
Die herbeigeeilte Polizei drängt die eingeschlossenen Demonstranten langsam aus dem Kassensaal und durch ihr Spalier aus dem Haus.
Immer noch klingt es aus der langsam abziehenden Menge:
»Nieder mit Kalmar! An den Galgen mit dem Schuft! Haut die zugereiste Bagage nieder! Banditen alle miteinander, Gauner und Lumpen!«
Am anderen Tag bleiben die Kassen der Schwedisch-Österreichischen Bank gesperrt.
Vor dem Haus ein Wacheaufgebot, das keine Ansammlungen duldet und die Passanten zum Weitergehen auffordert.
Die Bank ist aus dem Arrangement ausgeschieden und hat um die Eröffnung des Ausgleichsverfahrens angesucht.
Die Sensation ist ungeheuer. Weiteste Kreise sind geschädigt. Zahlreiche prominente Persönlichkeiten auf das schwerste kompromittiert. Die ganze Öffentlichkeit ist in heftigste Erregung geraten.
Man spricht von einer verlotterten Finanzwirtschaft. Man klagt die Regierung an und macht ihr Vorwürfe, beschuldigt den Finanzminister der Vorschubleistung. Es gärt und brodelt wie in einem Hochofen. Fast kommt es zu einer Ministerkrise und einem Regierungssturz.
Überall wird Korruption und Bestechung oder zumindest sträfliche Fahrlässigkeit und bodenloser Leichtsinn der verantwortlichen Stellen gemutmaßt ...
Und dabei herrscht überall die Empfindung: Kalmars Sturz ist nur der Anfang vom Ende ...
Die Blätter fallen über Kalmar und seine Verwaltungsräte her und fordern Rechenschaft. Es sind natürlich die korruptesten, die das lauteste Geschrei erheben und das höchste Pathos der sittlichen Entrüstung entfalten ...
Beim Staatsanwalt häufen sich die Strafanzeigen.
Die kompromittierten Verwaltungsräte, die Herren mit den guten Beziehungen von früher, versuchen zu vertuschen, was irgend möglich, und intervenieren bei Gericht und Ministerien. Sie zittern um ihre eigene Reputation.
Aber die Öffentlichkeit will ihr Opfer haben und schreit nach Anklage und Prozeß.
Jeder Tag bringt einen offenen Brief an den Staatsanwalt. Endlich gibt dieser nach und schreitet ein. Die Anklage soll erhoben werden. Die Untersuchungshaft wird verhängt.
Am 17. April erscheinen zeitig morgens zwei Herren in der Villa Kalmars und verlangen ihn unbedingt zu sprechen, führen mit ihm eine Unterhaltung im Flüsterton und legitimieren sich als Kriminalbeamte.
Kalmar beginnt zu schlottern und wird aschfahl.
Er ist verhaftet wegen Fluchtverdacht und Kollusionsgefahr. Sein Gebaren in der Schwedisch-Österreichischen Bank soll gerichtordnungsgemäß geprüft werden.
Die beiden Beamten gestatten ihm, seine Toilette zu vollenden, das Notwendigste mitzunehmen und sich von seiner Frau zu verabschieden.
Die beiden Herren begleiten ihn auf Schritt und Tritt, damit er nicht vielleicht belastendes Material beiseitebringt oder einen Selbstmord versucht ...
Dann steht Kalmar vor Marianne.
Sie hat ihn erwartet. Sie hat schon alles gehört – das Haus ist in Erregung.
Der große Augenblick der Vergeltung ist für sie gekommen.
Die Jammergestalt Kalmars tritt gesenkten Hauptes mit hündisch bettelnden Augen vor sie hin: Ein gutes Wort nur wirf mir als Almosen hin – wie man einem Hund, der am Krepieren ist, eine letzte Freude zu machen sucht ...
Er wartet vergeblich.
Marianne mustert ihn stumm.
Nichts regt sich in ihrem schönen, marmorstarren Gesicht. Nichts zuckt, nichts lebt ... Hart ist alles – wie gemeißelt.
Sie ist reglos wie eine Bildsäule ... ohne Leben, ohne Gnade, wie eine furchtbare Göttin ... unergründlich, unerreichbar und erbarmungslos ihr Opfer heischend ...
Kalmar ringt nach Worten. Seine Zunge ist schwer und klebt.
»Marianne ... du ... ich ... es ist schief gegangen ... ich habe es gut gemeint ... aber die Verhältnisse sind stärker als ich ... ich bin kein Schwindler ... ich bin kein Betrüger ... ich habe Pech gehabt – wie ich früher Glück gehabt habe ... Ich werde rein aus dieser Angelegenheit hervorgehen ... wenn auch vielleicht persönlich arm ... dir kann nichts geschehen ... was du hast, ist unantastbar ... Deine Villa ... dein Gut ... dein Schmuck ... niemand kann dir etwas nehmen ... und wenn ich zurückkomme ... wir werden eben ein stilles Leben führen ... wie es vielleicht immer dein heimlicher Traum war ... einfach und bescheiden aufeinander angewiesen ...«
»Und wenn du zurückkommst«, sagt Marianne schwer und bedächtig und wägt jedes Wort, und die grünen Augen bohren sich wie Messerstiche in sein zuckendes Herz, »... und wenn du zurückkommst – wirst du mich nicht mehr vorfinden«.
»Was soll das heißen? Was hast du vor?«
Kalmar kann nur mehr stammeln. Seine Kraft ist am Auslöschen ...
»Nichts Besonderes ... Nur ... nur ...«
Marianne zögert grausam ...
»Nichts Besonderes ... nur: Ich habe Wiesel eingeladen, mich an die Riviera zu begleiten, wohin ich mich noch morgen früh begebe, um dem ganzen schmutzigen Skandal auszuweichen.«
Kalmar ist wortlos zusammengebrochen.
Über Mariannens Gesicht gleitet ein böses Lächeln der Befriedigung.
Stumm wendet sie sich ab.
Die beiden Beamten heben Kalmar auf, tragen ihn hinunter, betten den Ohnmächtigen ins Auto und führen ihn ins Gefängnis.
Marianne ist allein geblieben.
Einen Moment verharrt sie in absoluter Reglosigkeit, die Lippen fest aufeinander gepreßt, die Arme schlaff am Körper herunterhängend, als ob sie eine innerliche Vision hätte. Dann seufzt sie schwer auf. Mechanisch, wie unter einer Hypnose, geht sie ans Telephon und läßt sich mit Wiesel verbinden.
»Hier Marianne Kalmar! Wer dort?«
»Wiesel, Sie selbst? Sind Sie allein?«
»Jawohl, Frau Marianne.«
»Soeben hat man meinen Mann ins Gefängnis abgeführt. Er ist fertig. Ich danke Ihnen. Sie haben es ausgezeichnet gemacht! Ich danke Ihnen ...«
»Wirklich? Also es ist soweit? Aber, ich muß gestehen, Sie sind ein bißchen eine unheimliche Frau.«
»Wie meinen Sie das?«
»Diese unerhörte Ruhe und Sachlichkeit, mit der Sie das berichten, als ob es Sie gar nichts anginge. Wer hat übrigens die Ordnung Ihrer Privatangelegenheiten über?«
»Die Ordnung meiner Privatangelegenheiten? Das verstehe ich nicht. Was ist denn da zu ordnen?«
»Ja, ich meine, man wird doch versuchen, Sie mit haftbar zu machen, und eventuell nach Ihrem Schmuck, nach Ihrer Villa greifen.«
»Ach so! Die Schenkungsurkunden! Die liegen meines Wissens bei Doktor Pummerer.«
»Seit wann liegen die dort? Erst aus letzter Zeit? Oder schon von früher? Das ist wichtig.«
»Ach, das ist ja so gleichgültig.«
»Und Sie lassen Ihren Mann wirklich so ganz einfach im Stich?«
»Selbstverständlich! Ich habe es Ihnen doch gesagt.«
»Dann wäre es vielleicht das beste, dem Skandal überhaupt auszuweichen und einfach davonzufahren.«
»Ganz meine Meinung! Ich bin einverstanden ... Natürlich per Auto ... Das Gepäck kann ja per Bahn gehen. Selbstverständlich lenke ich selbst.«
»Vielleicht könnte in meinem Wagen das Gepäck gleich mitgeführt werden.«
»Das geht auch. Mein Chauffeur kann dann auch im zweiten Wagen nachfahren mit dem Gepäck. Das ist vielleicht noch einfacher.«
»Fabelhaft, wie Sie disponieren. Und Sie sind wirklich gar nicht aufgeregt?«
»Aufgeregt? Ich? Gar nicht! Die Sache läßt mich vollkommen kühl. Außerdem habe ich es ja kommen sehen, die ganze Zeit ... und erwartet – und erhofft.«
»Darf ich Sie heute abends besuchen? Oder wollen Sie bei mir speisen?«
»Nein. Es ist besser, wir sehen uns erst bei der Abreise. Morgen um acht Uhr ... Je früher – desto besser! Nur fort von hier. Es bleibt dabei. Auf Wiedersehen ...«
Sie hängt die Muschel auf.
Wieder einmal holt sie ihre winzige Spritze mit dem Lebenselixier hervor.
Dann geht sie an den Schreibtisch und schreibt mit ihrer klaren, reinen Steilschrift an Olga Heffter:
»Liebe Olga,
ich habe nichts mehr von dir gehört, seitdem du fort bist. Ich schicke Dir diesen Brief an die Adresse, die Du mir als ständige Geheimadresse gegeben. Vielleicht kommt er doch einmal in Deine Hände. Zu einem Menschen muß ich noch einmal reden. Ich habe meine Mission erfüllt. Kalmar ist ein erledigter Mann. Er wird sich nie mehr erholen und aufraffen. Vielleicht erträgt er nicht einmal die Untersuchungshaft. Ich habe ihm noch im letzten Moment gesagt, daß ich von jetzt ab zu Wiesel übergehe – also zu seinem Konkurrenten. Ich habe ihm damit das Bitterste angetan, was ich konnte – um Leos willen. Und jetzt muß ich noch mir das Bitterste antun – auch um Leos willen, und halten, was ich Wiesel versprochen, wenn ich kann ... Vielleicht gibt er mir mein Wort zurück. Aber ich wage es kaum, zu hoffen. Falls irgendetwas Menschliches passieren sollte, gehört alles, was ich besitze, Dir oder Deinen Rechtsnachfolgern, wenn es Dir paßt, meinetwegen auch Deiner Partei. Ehe ich abreise, erhält Doktor Pummerer in Wien eine diesbezügliche Verständigung. Ich danke Dir für alles Liebe und Gute, das Du an mir getan. Ich wollte, Du wärest hier. Du fandest gewiß den richtigen Ausweg, der mich aus der Wirrnis meines Lebens herausführen würde. Wien ist niedergebrochen ... die Leute sind fertig in jeder Beziehung. Du würdest die Stadt nicht wiedererkennen und mich auch nicht.
Ich komme mir wie eine Gliederpuppe vor, die mechanisch bewegt wird. Wenn der Spieler die Fäden aus der Hand gleiten läßt, dann klappt die Puppe zusammen – ich – bin soweit.
Ich bin dieser ohrenzerreißenden Musik des Lebens herzlich müde. Es hat sich ausgejazzt in mir und um mich. Die Bande packt ein und zieht ab. Es wird still und die Stille wird wohltun ... aber für mich kommt sie zu spät. Man wird gräßlich wehleidig mit der Zeit und lernt sich fürchten vor allem, was kommt ... ›Il faut que le cœur se brise ou se bronce‹ – hast Du mir einmal gesagt. Ich hätte es gerne getroffen – aber ich bin zu talentlos ...