F. M. Dostojewskij
Der Jüngling
F. M. Dostojewskij

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

II

Werfen wir jedoch einen Blick auch auf die Kleinigkeiten.

Ich habe meine beiden Versuche beschrieben; in Petersburg machte ich, wie bereits bekannt, einen dritten: ich ging zu einer Auktion und profitierte auf einen Schlag sieben Rubel und fünfundneunzig Kopeken. Allerdings war das kein richtiger Versuch, sondern nur eine Art Spiel, ein Amüsement: es wandelte mich die Lust an, einen Augenblick aus der Zukunft zu stehlen und zu probieren, wie ich mich da verhalten und handeln würde. Überhaupt hatte ich die wirkliche Inangriffnahme meines Werkes gleich von vornherein in Moskau auf die Zeit verschoben, wo ich vollständig frei sein würde; ich wußte nur zu gut, daß ich zum Beispiel zuerst mit dem Gymnasium fertig sein müßte. (Auf das Universitätsstudium hatte ich, wie schon bekannt, meiner Idee zuliebe verzichtet.) Unstreitig war ich nach Petersburg mit einem geheimen Ingrimm gefahren: eben hatte ich das Gymnasium absolviert und war zum erstenmal frei, da mußte ich auf einmal sehen, daß Wersilows Angelegenheiten mich aufs neue für eine Weile von dem Beginn meiner Tätigkeit abhielten! Aber trotz meines Ingrimms fühlte ich mich doch während der Reise hinsichtlich der Erreichung meines Zieles ganz beruhigt.

Es ist ja wahr, daß ich das praktische Leben noch nicht kannte; aber ich hatte drei Jahre lang unaufhörlich alles überdacht und konnte an dem Gelingen nicht zweifeln. Tausendmal hatte ich es mir ausgemalt, wie ich zu Werk gehen wollte: ich würde auf einmal wie vom Himmel herabgefallen in einer unserer beiden Hauptstädte erscheinen (ich hatte mir für den Anfang unsere Hauptstädte erwählt und speziell Petersburg, dem ich auf Grund einer gewissen Berechnung den Vorzug gab); also ich würde wie vom Himmel herabgefallen, aber vollständig frei, von niemand abhängig und gesund sein und heimlich hundert Rubel als erstes Betriebskapital in der Tasche haben. Ohne die hundert Rubel die Sache anzufangen, das schien mir nicht möglich, da sonst die allererste Periode des Erfolgs sich gar zu lange ausdehnen würde. Außer den hundert Rubeln besaß ich, wie schon bekannt, Mannhaftigkeit, Energie, Ausdauer, völlige Zurückgezogenheit in mich selbst und Verschwiegenheit. Die Zurückgezogenheit war die Hauptsache: ich konnte bis zum letzten Augenblick Beziehungen zu andern Menschen und Verbindungen mit ihnen absolut nicht leiden; allgemein gesagt, ich war fest entschlossen, die Ausführung meiner »Idee« allein zu beginnen; das war für mich eine Conditio sine qua non. Die Menschen waren mir störend; ich hätte mich unruhig gefühlt, und die Unruhe hätte den Erfolg meines Strebens beeinträchtigt. Überhaupt ist es mir bisher in meinem ganzen Leben immer folgendermaßen ergangen: wenn ich es mir im Kopf zurechtlegte, wie ich mit den Leuten umgehen würde, dann erschien mir das immer sehr klug; sowie es aber wirklich dazu kam, machte ich immer arge Dummheiten. Mit Entrüstung über mich selbst gestehe ich ganz aufrichtig, daß ich in meinen Reden immer zu heftig gewesen bin und mich selbst verraten habe, und darum habe ich beschlossen, den Verkehr mit den Menschen möglichst einzuschränken. Was ich dabei gewinne, ist: Unabhängigkeit, Ruhe des Gemüts, ein klarer Blick für mein Ziel.

Trotz der horrenden Preise in Petersburg hatte ich mir ein für allemal vorgenommen, nicht mehr als fünfzehn Kopeken für Essen auszugeben, und ich wußte, daß ich Wort halten würde. Diese Frage wegen des Essens hatte ich lange und eingehend überlegt; ich hatte zum Beispiel beschlossen, manchmal zwei Tage hintereinander nur Brot und Salz zu essen, aber in der Absicht, am dritten Tag die an den beiden vorhergehenden Tagen gemachten Ersparnisse mit auszugeben; es schien mir, daß das für die Gesundheit vorteilhafter sein würde als die stete, gleichmäßige Fastenkost für den festen Satz von fünfzehn Kopeken. Ferner brauchte ich, um zu existieren, ein Winkelchen, buchstäblich nur ein Winkelchen, einzig und allein um da die Nacht zu schlafen oder an einem gar zu garstigen Tag unterzukriechen. In der Hauptsache beabsichtigte ich auf der Straße zu leben und war im Falle der Not auch willens, in einem Nachtasyl zu nächtigen, wo man außer dem Nachtlager auch noch ein Stück Brot und ein Glas Tee bekommt. Oh, ich würde es schon verstehen, mein Geld zu verstecken, damit es mir in meinem Winkelchen oder im Asyl niemand wegstahl oder es auch nur bemerkte; das glaubte ich garantieren zu können!

»Mir sollte etwas gestohlen werden? Eher ist zu befürchten, daß ich selbst einem etwas stehle!« hörte ich einmal auf der Straße einen durchtriebenen Patron höchst vergnügt sagen. Natürlich stelle ich mich ihm nur hinsichtlich der Vorsicht und Schlauheit gleich, Stehlen liegt nicht in meiner Absicht. Ja noch mehr: schon in Moskau und vielleicht gleich am Entstehungstag meiner »Idee« hatte ich beschlossen, weder Pfandleiher noch Wucherer zu werden: dazu sind die Juden da und diejenigen Russen, die weder Verstand noch Charakter besitzen. Pfandleihe und Wucher – das ist etwas Ordinäres.

Was die Kleidung anlangt, so beabsichtigte ich, zwei Anzüge zu besitzen, einen Alltagsanzug und einen guten. Nachdem ich sie mir einmal angeschafft hatte, war ich überzeugt, daß ich sie lange tragen würde; ich hatte mich zwei und ein halbes Jahr lang absichtlich darin geübt, die Kleider schonend zu tragen, und sogar ein Geheimnis entdeckt: damit ein Kleidungsstück immer neu bleibt und sich nicht abträgt, muß man es möglichst oft mit der Bürste reinigen, fünf- oder sechsmal täglich. Die Bürste schadet dem Tuch nicht (ich spreche als Sachverständiger), wohl aber Staub und Schmutz. Der Staub ist eine Art von Steinen, wenn man ihn unter dem Mikroskop ansieht, die Bürste aber, mag sie auch noch so hart sein, hat immer eine gewisse Ähnlichkeit mit Wolle. In gleicher Weise habe ich die Stiefel tragen gelernt: das Geheimnis besteht darin, daß man den Fuß vorsichtig mit der ganzen Sohle zugleich aufsetzen und ihn möglichst selten seitwärts drehen muß. Lernen kann man dies in vierzehn Tagen, nachher macht man es ganz unbewußt. Durch dieses Mittel halten die Stiefel durchschnittlich um ein Drittel länger. Das habe ich in zwei Jahren erprobt.

Darauf begann dann meine eigentliche Tätigkeit.

Ich ging von folgender Überlegung aus: ich besitze hundert Rubel. In Petersburg gibt es so viele Auktionen, Ausverkäufe, kleine Trödelläden und so viele Menschen, die etwas gebrauchen, daß man mit Sicherheit darauf rechnen kann, wenn man etwas gekauft hat, es für einen höheren Preis wieder zu verkaufen. An dem Album habe ich sieben Rubel und fünfundneunzig Kopeken bei einem Anlagekapital von zwei Rubeln und fünf Kopeken verdient. Diesen gewaltigen Gewinn habe ich ohne Risiko gemacht: ich habe es dem Käufer an den Augen angesehen, daß er nicht zurücktreten würde. Natürlich begreife ich sehr wohl, daß das nur ein Zufall war; aber solche Zufälle will ich ja eben aufsuchen; gerade deswegen habe ich beschlossen, auf der Straße zu leben. Nun, mögen solche Zufälle auch sehr selten vorkommen, ganz gleich, meine Hauptmaxime wird sein, nichts zu riskieren, und meine zweite, unbedingt täglich etwas mehr als den für meinen Unterhalt ausgeworfenen Satz zu verdienen, damit die Vermehrung des Kapitals auch nicht für einen Tag eine Unterbrechung erleidet.

Man wird mir sagen: »Das sind alles nur Phantasien; Sie kennen die Straße nicht und werden beim ersten Schritt übers Ohr gehauen werden.« Aber ich besitze Willenskraft und Charakterfestigkeit, und die Straßenwissenschaft ist eine Wissenschaft wie jede andere; ein energischer, eifriger, befähigter Mensch kann sie bewältigen. Auf dem Gymnasium war ich bis zur obersten Klasse immer einer der Ersten, und speziell in der Mathematik war ich sehr tüchtig. Man darf doch die praktische Erfahrung und die Straßenwissenschaft nicht in so sinnlosem Maße überschätzen, daß man mir unbedingt einen Mißerfolg prophezeit! So reden immer nur diejenigen, die niemals einen Versuch auf irgendeinem Gebiet unternommen, kein eigenes Leben angefangen, sondern immer nur auf ihrem vorhandenen Besitz vegetiert haben. »Einer hat sich die Nase zerschlagen, also wird es ein anderer unfehlbar auch tun.« Nein, ich werde mir nicht die Nase zerschlagen. Ich besitze Charakterfestigkeit und werde bei einiger Aufmerksamkeit alles lernen. Kann denn jemand glauben, daß man bei ununterbrochener Energie, bei ununterbrochener Achtsamkeit, bei ununterbrochener Überlegung und Berechnung, bei grenzenloser Tätigkeit und Lauferei nicht schließlich lernen sollte, wie man täglich zwanzig Kopeken Reingewinn erzielen kann? Die Hauptsache ist, ich habe beschlossen, es niemals auf den höchsten denkbaren Gewinn anzulegen, sondern immer ruhig zu bleiben. Späterhin, wenn ich schon tausend oder zweitausend Rubel erworben habe, dann werde ich natürlich ganz von selbst aufhören, den Faktor zu spielen und auf der Straße allerlei zu kaufen und wieder zu verkaufen. Natürlich kenne ich das Treiben an der Börse, das Aktienwesen und das Bankgeschäft und all dergleichen jetzt noch sehr wenig. Aber dafür ist es mir bekannt wie meine fünf Finger, daß ich alle diese Börsen- und Bankgeschäfte lernen werde und sie zur rechten Zeit ebenso gut verstehen werde wie ein anderer und daß diese Kenntnisse sich ganz von selbst bei mir einstellen werden, weil die Sache es so mit sich bringen wird. Ist denn dazu so viel Verstand nötig? Was für eine salomonische Weisheit ist denn schon dazu erforderlich? Wenn man nur Charakterfestigkeit besitzt: Verständnis, Gewandtheit und Wissen kommen dann ganz von allein. Man darf nur nicht aufhören zu wollen.

Die Hauptsache ist, nichts zu riskieren; diesem Grundsatz kann man aber nur treu bleiben, wenn man charakterfest ist. Noch kürzlich, als ich schon in Petersburg war, kam mir eine Subskriptionsliste auf Eisenbahnaktien in die Hand; diejenigen Leute, die das Glück gehabt hatten, zu subskribieren, hatten viel Geld verdient. Eine Zeitlang waren die Aktien tüchtig gestiegen. Nun nehmen wir einmal an, es habe jemand bei der Subskription die Zeit verpaßt, möchte jetzt gern Aktien haben, sähe solche in meinen Händen und machte mir den Vorschlag, sie ihm mit soundso viel Prozent Gewinn zu verkaufen. Dann würde ich sie ihm unbedingt sofort verkaufen. Allerdings würden die Leute mich auslachen und sagen: »Wenn du noch ein Weilchen gewartet hättest, hättest du das Zehnfache daran verdienen können.« Ja, aber mein Gewinn verdient schon dadurch den Vorzug, daß ich ihn in der Tasche habe, während der eurige noch in der Luft umherfliegt. Jene werden einwenden, auf diese Art könne man nicht viel verdienen. Pardon, das ist gerade euer Fehler, der Fehler all dieser Kokorew, Poljakow, Gubonin. Hört die Wahrheit: Energie und Ausdauer im Erwerben, besonders im Sparen, richten mehr aus als momentane Gewinne, selbst wenn diese sich auf mehrere hundert Prozent belaufen.

Nicht lange vor der Französischen Revolution erschien in Paris ein gewisser Law und stellte ein im Prinzip geniales Projekt auf (das aber nachher bei der Verwirklichung vollständig scheiterte). Ganz Paris war in Aufregung; Laws Aktien wurden reißend gekauft, der Andrang war gewaltig. In das Haus, in dem die Subskription eröffnet war, strömte wie aus einem Sack das Geld aus ganz Paris zusammen; aber auch das Haus reichte schließlich nicht aus: das Publikum stand in dichtem Haufen auf der Straße, Angehörige aller Berufsarten, aller Stände, aller Lebensalter, Bourgeois, Adlige, deren Kinder, Gräfinnen, Marquisen, Prostituierte, alles keilte sich zu einer wütenden, halbverrückten Masse zusammen, als wären sie von einem tollen Hunde gebissen. Rang und Stand, Vorurteile der Geburt und des Stolzes, sogar Ehre und guter Name, alles wurde in den Schmutz getreten; alles wurde geopfert (sogar von den Frauen), um nur ein paar Aktien zu bekommen. Die Subskription wurde schließlich auf die Straße verlegt, aber dort fehlte es an einem Tisch, auf dem man hätte schreiben können. Da machte man einem Buckligen den Vorschlag, seinen Buckel für eine Weile als Tisch zur Verfügung zu stellen, damit so die Subskription auf die Aktien stattfinden könne. Der Bucklige willigte ein – man kann sich vorstellen, für welchen Preis! Nicht lange darauf (es hatte nur sehr kurze Zeit gedauert) waren alle bankrott, das ganze Unternehmen war geplatzt, die ganze Idee zum Teufel, und die Aktien hatten jeden Wert verloren. Wer hatte dabei gewonnen? Nur der Bucklige, eben weil er keine Aktien genommen hatte, sondern bare Louisdors. Nun, dieser Bucklige bin ich! Ich habe Willenskraft genug gehabt, um nur von Brot zu leben und mir kopekenweise zweiundsiebzig Rubel zusammenzusparen; da wird sie wohl auch ausreichen, um mitten in dem fieberhaften Taumel, der alle ergriffen hat, die Besonnenheit zu bewahren und den sicheren Gewinn dem großen vorzuziehen. Kleinlich bin ich nur in kleinen Dingen, in großen nicht. Zur Selbstbeherrschung im Kleinen hat meine Charakterfestigkeit oft nicht ausgereicht, auch nicht nach dem Entstehen meiner »Idee«, aber wo es sich um Großes handelt, reicht sie immer aus. Wenn mir meine Mutter morgens, bevor ich in den Dienst zum Fürsten ging, kalt gewordenen Kaffee vorsetzte, wurde ich ärgerlich und sagte ihr Grobheiten, und dabei war ich doch derselbe Mensch, der einen ganzen Monat lang nur von Brot und Wasser gelebt hatte.

Kurz, es wäre unnatürlich, wenn ich nicht Geld verdienen sollte, wenn ich nicht lernen sollte, wie man welches verdient. Und ebenso unnatürlich wäre es, wenn jemand bei ununterbrochenem, gleichmäßigem Sparen, bei ununterbrochener Achtsamkeit und nüchterner Denkweise, bei Enthaltsamkeit und kluger Wirtschaft, bei stets wachsender Energie, ich wiederhole es, es wäre unnatürlich, wenn er da nicht Millionär werden sollte. Wodurch sonst hat sich jener Bettler sein Geld erworben als durch seine fanatische Charakterfestigkeit und Energie? Bin ich denn schlechter als der Bettler? Und schließlich, mag ich auch nichts erreichen, mag auch meine Berechnung falsch sein, mag ich auch scheitern und zugrunde gehen – ganz egal, ich unternehme es. Ich unternehme es, weil ich es will. Das hatte ich mir schon in Moskau gesagt.

Man wird mir sagen, daß hier gar keine »Idee« und absolut nichts Neues vorliege. Aber ich erwidere, und zwar jetzt zum letztenmal, daß hier eine unendlich große Idee und unendlich viel Neues vorliegt.

Oh, ich habe es ja vorhergeahnt, wie trivial alle Einwendungen sein werden, und wie trivial auch das erscheinen wird, was ich selbst zur Erläuterung meiner »Idee« sage.

Nun, was habe ich ausgesprochen? Noch nicht den hundertsten Teil dessen, was ich eigentlich zu sagen hätte; ich fühle, daß es kleinlich, plump, oberflächlich herausgekommen ist und sogar noch jugendlicher, als es mein Lebensalter an sich schon mit sich bringt.


 << zurück weiter >>