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Von hier an werde ich nur den Kern der Sache wiedergeben, das heißt nur das, was ich selbst davon habe verstehen können; denn auch er begann hier unzusammenhängend zu reden. Seine Darstellung wurde, sobald er an diesen Punkt gekommen war, sehr viel zusammenhangloser und unordentlicher als vorher.
Er war plötzlich Katerina Nikolajewna begegnet, gerade damals, als er auf Mama wartete, zum Zeitpunkt der ungeduldigsten Erwartung. Sie waren alle damals am Rhein, in einem Badeort, und machten alle dort eine Kur. Katerina Nikolajewnas Mann war schon so gut wie gestorben; wenigstens hatten die Ärzte ihn bereits aufgegeben. Gleich bei der ersten Begegnung machte sie auf ihn einen starken Eindruck und bezauberte ihn durch irgend etwas. Das war ein Fatum. Es ist beachtenswert, daß ich, während ich jetzt dies niederschreibe und mein Gedächtnis anstrenge, mich nicht erinnern kann, daß er damals auch nur ein einziges Mal in seiner Erzählung das Wort »Liebe« und die Wendung, er sei »verliebt« gewesen, gebrauchte. Dagegen entsinne ich mich des Wortes »Fatum«.
Und allerdings war es ein Fatum gewesen. Er hatte dieses Fatum nicht gewollt, hatte sich dagegen gesträubt zu lieben. Ich weiß nicht, ob ich das klar wiederzugeben verstehe; aber seine ganze Seele war gerade durch die Tatsache, daß ihm das begegnen konnte, in die größte Empörung versetzt worden. Alles, was an freiem Willen in ihm vorhanden gewesen war, war mit einem Schlag durch diese Begegnung vernichtet worden, und dieser Mensch war nun für sein ganzes Leben an eine Frau angeschmiedet, die sich gar nichts aus ihm machte. Diese Sklaverei der Leidenschaft war ihm zuwider. Ich will es jetzt geradeheraus sagen: Katerina Nikolajewna ist ein seltener Typ einer vornehmen Dame – ein Typ, der in diesen Kreisen sonst vielleicht überhaupt nicht vorkommt. Es ist der Typ einer im höchsten Grade schlichten, redlichen Frau. Ich habe gehört, das heißt, ich weiß zuverlässig, daß sie gerade dadurch in der Gesellschaft so unwiderstehlich war, wenn sie sich in ihr zeigte (sehr häufig hielt sie sich von ihr ganz fern). Wersilow glaubte selbstverständlich damals bei der ersten Begegnung mit ihr nicht, daß sie so wäre, sondern glaubte gerade das Gegenteil, das heißt, daß sie eine Heuchlerin und Jesuitin sei. Ich gebe hier im voraus ihr eigenes Urteil über ihn an: sie sprach sich dahin aus, er habe gar nicht anders von ihr denken können, »denn«, sagte sie, »ein Idealist, der sich mit der Stirn an der Wirklichkeit stößt, neigt stets mehr als andere Leute dazu, an alle möglichen Schändlichkeiten zu glauben«. Ich weiß nicht, ob das, so allgemein von den Idealisten gesagt, richtig ist, aber in bezug auf ihn war es allerdings vollkommen richtig. Ich schreibe hier auch mein eigenes Urteil nieder, das in meinem Kopf auftauchte, als ich ihm damals zuhörte: mein Gedanke war, daß er Mama mehr mit einer sozusagen humanen, allgemein menschenfreundlichen Liebe geliebt habe, als einfach mit derjenigen Liebe, mit der man gewöhnlich die Frauen liebt, und sowie er einer Frau begegnet sei, die er mit dieser einfachen Liebe liebgewann, habe er sich sogleich gegen diese Liebe gesträubt, am wahrscheinlichsten nur infolge mangelnder Gewöhnung. Indessen ist dieser Gedanke vielleicht nicht richtig; ihm gegenüber habe ich ihn natürlich nicht ausgesprochen. Das wäre taktlos gewesen, und ich kann versichern, er befand sich in einem Zustand, daß er beinahe der Schonung bedurfte: er war aufgeregt, an manchen Stellen seiner Erzählung brach er einfach ab, schwieg ein paar Minuten und ging mit bösem Gesichtsausdruck im Zimmer auf und ab.
Sie hatte damals sein Geheimnis bald durchschaut; oh, vielleicht kokettierte sie auch absichtlich mit ihm: selbst die edelsten Frauen benehmen sich in solchen Fällen schändlich; das ist eben ein unüberwindlicher Instinkt bei ihnen. Schließlich kam es zwischen ihnen in heftigster Form zum Bruch, und er wollte sie, glaube ich, töten; er versetzte sie in große Angst und hätte sie vielleicht wirklich getötet; »aber all das verwandelte sich plötzlich in Haß«. Dann folgte eine seltsame Periode: er setzte sich auf einmal einen sonderbaren Gedanken in den Kopf: sich mit einer besonderen Selbstdisziplin zu kasteien, »mit derselben, deren sich die Mönche bedienen. Man überwindet seinen Willen allmählich durch methodische Übung, indem man mit den lächerlichsten, unbedeutendsten Dingen anfängt, und schließlich gelangt man zu vollständiger Überwindung seines Willens und wird frei.« Er fügte hinzu, die Mönche betrieben das mit großem Ernst, da es durch eine tausendjährige Erfahrung schon zu einer Wissenschaft ausgebildet sei. Aber das bemerkenswerteste ist, daß er sich diese Idee von der »Selbstdisziplin« damals überhaupt nicht zu dem Zweck in den Kopf setzte, um sich von Katerina Nikolajewna loszumachen, sondern in der vollsten Überzeugung, daß er sie nicht mehr liebe, ja vielmehr sie auf das grimmigste hasse. Er war dermaßen von seinem Haß gegen sie überzeugt, daß er sogar plötzlich auf den Einfall kam, sich in ihre vom Fürsten betrogene Stieftochter zu verlieben und sie zu heiraten, sich seine neue Liebe vollständig einredete und die arme Idiotin sinnlos in sich verliebt machte: er bereitete ihr durch diese Liebe für die letzten Monate ihres Lebens die vollste Glückseligkeit. Warum er statt an sie nicht lieber an Mama gedacht hat, die immer noch in Königsberg auf ihn wartete, das ist mir unverständlich geblieben. Vielmehr hatte er Mama plötzlich vollständig vergessen und schickte ihr nicht einmal Geld zum Lebensunterhalt, so daß nur Tatjana Pawlownas Eingreifen sie damals rettete; und plötzlich fuhr er dann doch zu Mama, um von ihr die Erlaubnis zur Heirat mit jenem Mädchen zu erbitten, unter dem Vorwand, eine solche Braut sei überhaupt keine Frau. Oh, vielleicht ist alles dies nur das Porträt eines verstiegenen Theoretikers, wie sich Katerina Nikolajewna später über ihn ausgedrückt hat; aber warum sind diese verstiegenen Theoretiker (wenn es mit ihrer Verstiegenheit seine Richtigkeit hat) dennoch fähig, auf so reale Weise sich selbst zu quälen und sich ein tragisches Schicksal zu bereiten? Übrigens dachte ich damals, an jenem Abend, etwas anders darüber, und ein bestimmter Gedanke erschütterte mich:
»Sie haben Ihre ganze Entwicklung, die ganze Ausbildung Ihrer Seele nur durch lebenslängliche Leiden und Kämpfe erlangt – ihr aber ist ihre ganze Vollkommenheit als Geschenk zuteil geworden. Das ist eine Ungerechtigkeit ... Diese Bevorzugung des weiblichen Geschlechts ist empörend.« Ich sagte das durchaus nicht, um mich bei ihm einzuschmeicheln, sondern mit Lebhaftigkeit und sogar mit Entrüstung.
»Vollkommenheit? Ihre Vollkommenheit? Aber sie besitzt keinerlei Vollkommenheiten!« erwiderte er plötzlich, beinahe verwundert über meine Worte. »Sie ist eine ganz gewöhnliche Frau, sogar eine minderwertige Frau ... Aber sie wäre eigentlich verpflichtet, alle Vollkommenheiten zu besitzen!«
»Warum denn verpflichtet?«
»Weil sie eine solche Macht besitzt, ist sie auch verpflichtet, alle Vollkommenheiten zu besitzen!« rief er zornig.
»Das betrübendste ist, daß Sie auch jetzt noch deswegen solche Qualen leiden!« entfuhr es mir plötzlich unwillkürlich.
»Jetzt? Qualen leiden?« wiederholte er erneut meine Worte und blieb wie in verständnisloser Verwunderung vor mir stehen. Und da erhellte auf einmal ein stilles, sinnendes Lächeln sein ganzes Gesicht, und er hob, als wenn er etwas überlegte, einen Finger vor sich in die Höhe. Darauf nahm er, wieder vollständig zur Besinnung gelangt und beruhigt, einen geöffneten Brief vom Tisch und warf ihn vor mich hin.
»Da, lies! Du mußt unbedingt alles erfahren ... und warum hast du mich so lange in diesem alten Unsinn herumwühlen lassen? ... Ich habe mein Herz damit nur verunreinigt und erbittert! ...«
Ich kann mein Erstaunen gar nicht schildern. Es war ein Brief, den sie an diesem Tag an ihn geschrieben und den er gegen fünf Uhr nachmittags empfangen hatte. Vor Aufregung fast zitternd las ich ihn durch. Er war nicht lang, aber so ehrlich und offenherzig geschrieben, daß ich beim Lesen sie selbst vor mir zu sehen und ihre Stimme zu hören glaubte. Sie gestand ihm mit der größten Aufrichtigkeit (und das wirkte beinahe rührend), daß sie sich vor ihm fürchte, und bat ihn dann mit schlichten Worten, sie »in Ruhe zu lassen«. Zum Schluß teilte sie ihm mit, daß sie jetzt Bjoring bestimmt heiraten würde. Es war das erstemal, daß sie an ihn schrieb.
Und nun schreibe ich das auf, was ich damals von seinen Erläuterungen verstand:
Als er kurz vorher diesen Brief durchgelesen hatte, hatte er auf einmal an sich eine ganz unerwartete Erscheinung wahrgenommen: zum erstenmal in diesen verhängnisvollen zwei Jahren hatte er in seinem Herzen nicht den geringsten Haß und nicht die geringste Aufregung verspürt, während er doch noch unlängst bei dem bloßen Gerücht über Bjoring »beinahe den Verstand verloren hatte«. »Im Gegenteil, ich habe ihr von ganzem Herzen meinen Segen gegeben«, sagte er zu mir mit tiefer Empfindung. Ich hörte diese Worte voller Entzücken. Also war alles, was an Leidenschaft und Qual in ihm gesteckt hatte, auf einmal von selbst wie ein Traum, wie ein zweijähriger Taumel verschwunden. Sich selber noch nicht recht trauend, war er vorhin zu Mama geeilt – und siehe da: er kam gerade in dem Augenblick hin, als sie durch den Tod des alten Mannes, der sie ihm am vorhergehenden Tag gleichsam testamentarisch vermacht hatte, frei geworden war. Das eigentümliche Zusammentreffen dieser beiden Ereignisse war es gewesen, was seine Seele so erschüttert hatte. Nicht lange darauf hatte er sich aufgemacht, um mich zu suchen, – und daß er so bald an mich gedacht hatte, das werde ich ihm nie vergessen.
Auch den Schluß dieses Abends werde ich nie vergessen. Dieser Mensch hatte sich plötzlich wieder vollständig verwandelt. Wir saßen bis tief in die Nacht hinein zusammen. Darüber, wie alle diese »Mitteilungen« auf mich wirkten, werde ich später am geeigneten Ort sprechen; jetzt nur noch einige abschließende Worte über ihn. Wenn ich jetzt alles überdenke, so sage ich mir, daß am bezauberndsten damals auf mich seine Selbstdemütigung vor mir wirkte, seine uneingeschränkte Offenherzigkeit mir, einem so jungen Menschen gegenüber! »Es war ein betäubender Nebel, aber auch er sei gesegnet!« rief er. »Ohne diese Verblendung hätte ich vielleicht niemals in meinem Herzen sie gefunden, die einzig und allein und allezeit als Königin darin herrschen soll, meine Märtyrerin – deine Mutter.« Diese begeisterten Worte, die unwiderstehlich aus ihm hervorbrachen, notiere ich besonders im Hinblick auf die weitere Entwicklung. Aber damals rührten und besiegten sie mein Herz.
Ich erinnere mich, daß wir zuletzt überaus vergnügt wurden. Er ließ Champagner bringen, und wir tranken auf Mamas Wohl und auf »die Zukunft«. Oh, er war so voll Lebenslust und nahm sich mit solchem Eifer vor zu leben! Aber unsere große Lustigkeit kam nicht vom Wein her: wir hatten jeder nur zwei Glas getrunken. Ich weiß nicht, wie es zuging, aber zuletzt lachten wir fast unaufhörlich. Wir fingen an, von ganz fernliegenden Dingen zu reden; er erzählte Anekdoten und ich ihm ebenfalls. Unser Lachen und unsere Anekdoten waren nicht im geringsten boshaft und spöttisch, aber doch waren wir lustig. Er wollte mich gar nicht fortlassen: »Bleib doch noch, bleib doch noch ein Weilchen sitzen!« sagte er immer wieder, und ich blieb. Er kam sogar mit hinaus, um mich zu begleiten; es war ein wundervoller Abend, es hatte leicht gefroren.
»Sagen Sie: haben Sie ihr schon eine Antwort geschickt?« fragte ich auf einmal ganz von ungefähr, als ich ihm an einer Straßenkreuzung zum letztenmal die Hand drückte.
»Nein, noch nicht, aber das macht ja nichts. Komm morgen zu mir, komm recht früh ... Ja, noch eins: mach dich ganz von Lambert los und das ›Schriftstück‹ zerreiße, und zwar so schnell wie möglich! Leb wohl!«
Nach diesen Worten ging er davon; ich aber blieb auf meinem Fleck stehen und war dermaßen verblüfft, daß ich mich nicht zu der Bitte aufraffte, er möchte noch einmal umkehren. Der Ausdruck »das Schriftstück« frappierte mich besonders: von wem in aller Welt konnte er das erfahren haben, und zudem in so genauen Ausdrücken, wenn nicht von Lambert? Ich kehrte in starker Aufregung nach Hause zurück. ›Und wie hat es denn nur geschehen können‹, ging es mir auf einmal durch den Kopf, ›daß ein solcher zweijähriger Taumel wie ein Traum, wie ein Nebel, wie eine Vision verflogen ist?‹