F. M. Dostojewskij
Der Jüngling
F. M. Dostojewskij

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Achtes Kapitel

I

Da wir damals den ganzen Abend miteinander redeten und bis spät in die Nacht hinein zusammensaßen, so werde ich nicht das ganze Gespräch hier niederschreiben, sondern nur diejenigen Stücke wiedergeben, durch die ich endlich über einen rätselhaften Punkt in seinem Leben Klarheit gewann.

Ich beginne mit der Bemerkung, daß es für mich außer Zweifel steht, daß er Mama liebte und, wenn er von ihr wegreiste, sie im Stich ließ und »die Beziehungen zu ihr löste«, der Grund natürlich der war, daß er sich bei ihr langweilte, oder sonst etwas in dieser Art, was übrigens bei allen Menschen in der Welt vorkommt, aber immer schwer zu erklären ist. Im Ausland gewann er, übrigens erst nach langer Zeit, auf einmal Mama in ihrer Abwesenheit wieder lieb, das heißt in Gedanken, und rief sie zu sich. Man wird vielleicht sagen: »Ein närrischer Einfall!«, aber ich fasse es anders auf: meines Erachtens war seine Handlungsweise so ernst, wie es überhaupt nur im menschlichen Leben möglich ist, trotz des offensichtlichen Müßiggängertums, das ich zum Teil nicht in Abrede stellen will. Aber ich kann versichern, daß ich seinen europäischen Gram unbedenklich nicht nur auf die gleiche Stufe, sondern sogar unvergleichlich höher stelle als irgendeine moderne praktische Tätigkeit auf dem Gebiet des Eisenbahnbaues. Seine Liebe zur Menschheit erkenne ich als ein durchaus aufrichtiges, tiefes Gefühl ohne alles Blendwerk an und seine Liebe zu Mama als etwas ganz Unbestreitbares, wenn auch vielleicht ein wenig Phantastisches. Im Ausland, in seinem Gram und seinem Glücksgefühl und, wie ich hinzufüge, in der strengsten mönchischen Vereinsamung (diese besondere Mitteilung habe ich erst später von Tatjana Pawlowna erhalten) erinnerte er sich plötzlich an Mama und namentlich an ihre eingefallenen Wangen und ließ sie sogleich zu sich kommen.

»Mein Freund«, sagte er unter anderm, und diese Worte schienen unwiderstehlich aus seinem Innern hervorzubrechen, »ich wurde mir auf einmal bewußt, daß meine Bemühungen um die Idee mich als sittliches, vernünftiges Wesen durchaus nicht von der Verpflichtung befreiten, im Laufe meines Lebens wenigstens einen Menschen praktisch glücklich zu machen.«

»War wirklich ein solcher bloß theoretischer Gedanke der Beweggrund zu allem?« fragte ich zweifelnd.

»Das ist kein bloß theoretischer Gedanke. Übrigens – meinetwegen. Hier kam jedoch alles zusammen: ich liebte ja doch deine Mutter wirklich, aufrichtig, und nicht nur theoretisch. Hätte ich sie nicht geliebt, so hätte ich sie nicht zu mir gerufen, sondern irgendeinen sich dazu bereit findenden Deutschen oder eine Deutsche ›glücklich gemacht‹; wenn ich mir nun einmal diese Idee ausgesonnen hatte. Aber unter allen Umständen auf irgendeine Weise wenigstens ein Wesen im Laufe des Lebens glücklich zu machen, aber jedenfalls praktisch, das heißt in Wirklichkeit, das möchte ich für jeden gebildeten Menschen als Gebot hinstellen; ähnlich wie ich im Hinblick auf die Entwaldung Rußlands es jedem Bauern zum Gesetz oder zur Pflicht machen möchte, wenigstens einen Baum in seinem Leben zu pflanzen; übrigens würde ein Baum wohl zu wenig sein, man könnte ihm auch befehlen, jedes Jahr einen Baum zu pflanzen. Der höherstehende, gebildete Mensch, der einen höheren Gedanken verfolgt, wird manchmal ganz von den Dingen des täglichen Lebens abgezogen, wird lächerlich, launisch, kalt und, um es dir geradeheraus zu sagen, sogar dumm, und nicht nur im praktischen Leben, sondern schließlich sogar dumm in seinen Theorien. Auf diese Weise würde die Pflicht, sich praktisch zu betätigen und wenigstens ein lebendes Wesen glücklich zu machen, in Wirklichkeit als ein Korrektiv und Auffrischungsmittel für den Wohltäter selbst dienen. Als Theorie ist das sehr lächerlich; aber wenn es in die Praxis überginge und zum stehenden Brauch würde, so würde es gar nicht so dumm sein. Ich habe das an mir selbst erfahren: kaum hatte ich angefangen, diese Idee von dem neuen Gebot zu entwickeln – und zwar anfangs selbstverständlich nur im Scherz –, als ich auf einmal die ganze Stärke der in meinem Innern verborgenen Liebe zu deiner Mutter zu fühlen begann. Bis dahin hatte ich überhaupt noch nicht begriffen, daß ich sie liebte. Solange ich mit ihr zusammengelebt hatte, hatte ich nur an ihr mein Vergnügen gehabt, solange sie noch schön war, und dann war ich ihr gegenüber launisch geworden. Erst in Deutschland kam es mir zum Bewußtsein, daß ich sie liebte. Das begann mit ihren eingefallenen Wangen, die ich mir niemals ins Gedächtnis zurückrufen und die ich manchmal auch nicht ansehen konnte, ohne einen Schmerz im Innersten zu empfinden, im eigentlichen Sinne des Wortes einen wirkliehen, physischen Schmerz. Es gibt schmerzliche Erinnerungen, mein Lieber, die einen tatsächlichen Schmerz hervorrufen; solche Erinnerungen besitzt fast jeder Mensch, nur daß die Leute sie vergessen; aber es kommt vor, daß sie sich dann auf einmal an so etwas erinnern, und wenn es auch nur ein unbedeutender Zug ist, und daß sie sich dann nicht mehr davon losmachen können. Ich begann mich an tausend Einzelheiten aus meinem Zusammenleben mit Sonja zu erinnern; zuletzt kamen sie mir von selbst ins Gedächtnis und drängten sich mir massenhaft auf und marterten mich beinahe, während ich auf Sonja wartete. Am ärgsten quälte mich die Erinnerung an ihre stete Unterwürfigkeit unter meinen Willen und daran, daß sie stets geglaubt hatte, in jeder Hinsicht tief unter mir zu stehen – denke dir nur: sogar in physischer Hinsicht. Sie schämte sich und wurde rot, wenn ich manchmal ihre Hände und Finger betrachtete, die ganz und gar nichts Aristokratisches haben. Und sie schämte sich nicht nur ihrer Finger, sondern ihres ganzen Aussehens, obwohl ich doch ihre Schönheit liebte. Auch war sie mir gegenüber immer verschämt bis zur Scheu; schlimm war dabei, daß in dieser Verschämtheit immer eine Art Angst sichtbar wurde. Kurz, sie meinte, im Vergleich zu mir etwas Wertloses oder sogar beinahe etwas Unanständiges zu sein. Wahrhaftig, in der ersten Zeit habe ich manchmal gedacht, sie halte mich immer noch für ihren Herrn und fürchte sich vor mir, aber die Sache lag doch ganz anders. Und dabei kann ich dir versichern, daß sie mehr als sonst jemand imstande war, meine Fehler zu erkennen; ja ich habe in meinem Leben nie eine Frau mit einem so feinfühligen, ahnungsvollen Herzen gefunden. Oh, wie unglücklich war sie, wenn ich in der ersten Zeit, als sie noch hübsch war, von ihr verlangte, sie solle sich schön und vornehm kleiden. Ihr Ehrgefühl sträubte sich dagegen, und auch noch in anderer Hinsicht fühlte sie sich dadurch verletzt: sie sah ein, daß sie doch nie eine Dame sein konnte und in einer ihrem Stand nicht entsprechenden Kleidung nur lächerlich aussehen würde. Als Frau aber wollte sie in ihren Kleidern nicht lächerlich aussehen, und sie sah ein, daß jede Frau nur die zu ihr passende Kleidung tragen dürfe, was Tausende und Hunderttausende von Frauen niemals begreifen, die immer nur nach der Mode gekleidet sein wollen. Sie fürchtete sich vor meinem spöttischen Blick – das war's! Aber besonders traurig machte mich die Erinnerung an ihren Blick voll tiefen Erstaunens, den ich während der ganzen Zeit unseres Zusammenlebens oft auf mir ruhen gefühlt hatte; in diesem Blick bekundete sich ein völliges Verständnis für ihr Schicksal und die sie erwartende Zukunft, so daß dieser Blick in mir selbst mitunter eine peinliche Empfindung hervorrief, obgleich ich, wie ich bekenne, mich damals nicht mit ihr in Gespräche darüber einließ und all diese Dinge sozusagen von oben herab behandelte. Und weißt du, sie ist ja doch nicht immer so ängstlich und scheu gewesen wie jetzt; und auch jetzt kommt es vor, daß sie auf einmal heiter und ordentlich wieder hübsch wird wie eine Zwanzigjährige; aber damals in ihrer Jugend plauderte und lachte sie manchmal sehr gern, natürlich in einer Gesellschaft, die zu ihr paßte: mit den Dienstmädchen und armen Frauen, die bei fremden Leuten das Gnadenbrot essen; und wie fuhr sie zusammen, wenn ich sie mitunter plötzlich mitten im Lachen überraschte, wie jäh errötete sie, und wie ängstlich blickte sie mich an! Einmal, nicht lange vor meiner Abreise ins Ausland, das heißt kurz bevor ich die Beziehungen zu ihr löste, trat ich in ihr Zimmer und fand sie allein an einem Tischchen, ohne jede Arbeit; sie stützte sich mit dem einen Ellbogen auf das Tischchen und war tief in Gedanken versunken. Es war sonst fast nie bei ihr vorgekommen, daß sie so ohne Arbeit dagesessen hatte. Zu jener Zeit hatte ich schon längst aufgehört, sie zu liebkosen. Es gelang mir, mich ihr sehr leise auf den Zehenspitzen zu nähern, sie plötzlich zu umarmen und zu küssen. Sie sprang auf – und niemals werde ich dieses Entzücken, diesen Ausdruck von Glückseligkeit auf ihrem Gesicht vergessen, aber auf einmal wurde er von einem hastigen Erröten abgelöst, und ihre Augen begannen zu funkeln. Weißt du, was ich in diesem funkelnden Blick las? ›Du hast mir ein Almosen gereicht – so ist es!‹ Sie brach in ein krampfhaftes Schluchzen aus und gab als Grund an, ich hätte sie erschreckt, aber es machte mich schon damals nachdenklich. Und überhaupt sind alle solche Erinnerungen eine sehr peinliche Sache, mein Freund. Das hat eine gewisse Ähnlichkeit mit dem, was man bei großen Schriftstellern erlebt: in deren Werken kommen manchmal solche ergreifenden Szenen vor, daß man sich nachher sein ganzes Leben lang nur mit Schmerz an sie erinnert: zum Beispiel der letzte Monolog Othellos bei Shakespeare, Jewgenijs Worte, als er zu Tatjanas Füßen liegt, oder die Begegnung des entsprungenen Sträflings mit dem kleinen Mädchen in der kalten Nacht am Brunnen in Viktor Hugos ›Misérables‹; so etwas durchbohrt einem einmal das Herz, und die Wunde bleibt dann fürs ganze Leben. Oh, wie ich auf Sonja wartete, und wie es mich verlangte, sie recht bald zu umarmen! Mit krampfhafter Ungeduld phantasierte ich von einem ganz neuen Lebensprogramm; ich erging mich in Träumereien darüber, wie ich allmählich durch methodische Bemühung in ihrer Seele diese beständige Furcht vor mir austilgen und ihr ihren eigenen Wert und all die schönen Eigenschaften, durch die sie mich sogar überragte, klarmachen wollte. Oh, ich wußte auch damals schon nur zu gut, daß ich deine Mama immer sofort zu lieben anfing, sobald ich von ihr getrennt war, und immer plötzlich ihr gegenüber abkühlte, sobald ich wieder mit ihr zusammenkam; aber in jenem Fall lag die Sache doch anders, ganz anders.«

Ich war erstaunt. ›Und sie?‹ Diese Frage blitzte in meinem Kopfe auf.

»Nun, und wie gestaltete sich damals Ihr Zusammentreffen mit Mama?« fragte ich vorsichtig.

»Damals? Ich kam damals überhaupt nicht mit ihr zusammen. Sie gelangte damals nur bis Königsberg, und dort blieb sie, ich aber war am Rhein. Ich fuhr nicht zu ihr hin, sondern wies sie an, dazubleiben und auf mich zu warten. Wir sahen uns erst viel später wieder, oh, erst lange nachher, als ich zu ihr hinfuhr, um sie um ihre Erlaubnis zu meiner beabsichtigten Heirat zu bitten ...«


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