F. M. Dostojewskij
Der Jüngling
F. M. Dostojewskij

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Drittes Kapitel

I

Nach drei Tagen stand ich am Morgen vom Bett auf und hatte, als ich mich auf die Füße stellte, auf einmal die Empfindung, daß ich nun nicht mehr liegen müsse. Ich fühlte ganz deutlich, daß meine Genesung nahe war. Alle diese kleinen Einzelheiten würden es vielleicht nicht verdienen, aufgezeichnet zu werden, aber es kamen damals für mich ein paar Tage, die, wenn auch an ihnen nichts Besonderes vorging, mir doch alle als besonders erquickend und ruhig im Gedächtnis geblieben sind, und das ist in meinen Erinnerungen eine Seltenheit. Meinen Gemütszustand genauer darzulegen, beabsichtige ich vorläufig nicht; wenn der Leser erführe, wie es sich damit verhielt, würde er es gewiß nicht glauben. Das alles wird sich nachher besser aus den Tatsachen erklären. Einstweilen aber sage ich nur das eine: möge der Leser an die Spinnenseele denken! Und eine solche Seele hatte ein Mensch, der von den Seinen und von der ganzen Welt um der »edlen Schönheit« willen weggehen wollte! Der Durst nach »edler Schönheit« war im höchsten Maße in mir vorhanden, das war ganz sicher, aber wie es möglich war, daß er sich in mir mit Gott weiß was für anderen Arten von Durst vertrug, das ist für mich ein Geheimnis. Und das ist mir auch immer ein Geheimnis gewesen, und ich habe mich schon tausendmal über die Fähigkeit des Menschen (und insonderheit, wie ich glaube, des russischen Menschen) gewundert, in seiner Seele das höchste Ideal zu hegen neben der tiefsten Gemeinheit, und alles mit völliger Aufrichtigkeit. Ist das nun eine besondere Großzügigkeit beim russischen Menschen, die ihn weit voranbringen wird, oder ist es einfach Gemeinheit - das ist die Frage!

Aber lassen wir das! Wie es sich damit auch verhalten mochte, jedenfalls trat eine Windstille ein. Ich sah einfach ein, daß ich um jeden Preis so schnell wie möglich gesund werden mußte, damit ich so schnell wie möglich anfangen konnte zu handeln, und darum entschloß ich mich, hygienisch zu leben und die Vorschriften des Doktors (mochte dieser persönlich sein, wie er wollte) zu beobachten; meine stürmischen Absichten aber verschob ich höchst verständig (eine Frucht der Großzügigkeit) auf den Tag, an dem ich zum erstenmal wieder ausgehen würde, also bis zu meiner Genesung. Auf welche Weise alle meine friedlichen Empfindungen und die genußreiche Freude über die Windstille sich mit dem qualvoll süßen, aufgeregten Pochen meines Herzens beim Vorgefühl der nahen stürmischen Entschlüsse vertragen konnten, das weiß ich nicht; ich führe aber alles wieder auf die Großzügigkeit zurück. Die frühere Unruhe jedoch, die mich noch unlängst gequält hatte, war in mir nicht mehr vorhanden; ich hatte alles bis auf einen bestimmten Termin verschoben; ich zitterte nicht mehr wie noch unlängst vor dem, was die Zukunft bringen würde, sondern hatte das Gefühl eines reichen Mannes, der in seine Mittel und in seine Kräfte volles Vertrauen setzt. Mein Hochmut und meine Dreistigkeit gegenüber dem mich erwartenden Schicksal wurden immer größer, was, wie ich annehme, zum Teil von der tatsächlichen Genesung und der schnell wiederkehrenden Lebenskraft herkam. Diese paar Tage der endgültigen, tatsächlichen Genesung sind es, an die ich auch jetzt noch mit vollem Genuß zurückdenke.

Oh, sie hatten mir alles verziehen, das heißt mein heftiges Benehmen, und das hatten dieselben Menschen getan, die ich – ihnen gerade ins Gesicht – häßlich genannt hatte! Das liebe ich an den Menschen, das nenne ich den Verstand des Herzens; jedenfalls zog mich dies damals sogleich wieder zu ihnen hin, selbstverständlich nur bis zu einem gewissen Grade. Wersilow und ich zum Beispiel unterhielten uns nach wie vor wie die besten Bekannten, aber nur bis zu einem gewissen Grade: sobald die Mitteilsamkeit zu groß zu werden begann (und das war manchmal der Fall), hielten wir uns beide sofort zurück, als ob wir uns über etwas ein bißchen schämten. Es gibt Fälle, in denen der Sieger nicht umhin kann, sich vor dem Besiegten zu schämen, sich gerade darüber zu schämen, daß er die Oberhand behalten hat. Der Sieger war augenscheinlich ich; und ich schämte mich denn auch.

An jenem Morgen, das heißt, als ich nach dem Rückfall vom Bett aufstand, kam er zu mir, und da erfuhr ich von ihm zum erstenmal etwas über ihre gemeinsame damalige Verabredung hinsichtlich Mamas und Makar Iwanowitschs; er fügte hinzu; der alte Mann fühle sich zwar besser, aber der Doktor lehne es durchaus ab, für irgend etwas einzustehen. Ich gab ihm auch meinerseits von ganzem Herzen das Versprechen, mich künftig vorsichtiger zu benehmen. Als Wersilow mir damals alles dies mitteilte, bemerkte ich plötzlich zum erstenmal, daß er auch persönlich an dem alten Mann lebhaft Anteil nahm, weit mehr, als ich es von einem Menschen wie ihm hätte erwarten können, und daß dieser ihm auch wegen seiner persönlichen Eigenschaften sehr teuer war, und nicht nur um Mamas willen. Das erregte sogleich mein Interesse, ja beinahe meine Verwunderung, und ich muß gestehen, ohne Wersilows Hinweise hätte ich an diesem alten Mann vieles unbeachtet gelassen und nicht gebührend gewürdigt, an diesem alten Mann, der eine der nachhaltigsten, originellsten Erinnerungen in meinem Herzen geworden ist.

Wersilow schien hinsichtlich meiner Beziehungen zu Makar Iwanowitsch nicht frei von Besorgnis zu sein, das heißt, er hatte weder zu meinem Verstand noch zu meinem Taktgefühl rechtes Zutrauen und war deshalb nachher sehr zufrieden, als er sah, daß auch ich manchmal Verständnis dafür zeigte, wie man mit einem Mann von ganz anderen Begriffen und Anschauungen verkehren muß, kurz, daß auch ich es verstand, nötigenfalls nachgiebig und großzügig zu sein. Ich gestehe auch (und ich glaube mich dadurch nicht herabzuwürdigen), daß ich bei diesem Mann aus dem Volk in bezug auf manche Gefühle und Anschauungen etwas mir ganz Neues und Unbekanntes gefunden habe, etwas, was viel klarer und tröstlicher war als meine eigenen früheren Vorstellungen von diesen Dingen. Nichtsdestoweniger war es manchmal geradezu, um aus der Haut zu fahren, wenn man gewisse schwerwiegende Vorurteile mit anhörte, an denen er mit der empörendsten Ruhe und Unerschütterlichkeit festhielt. Aber daran war gewiß nur sein Mangel an Bildung schuld, denn seine Seele war recht gut organisiert, sogar so, daß ich unter den Menschen noch nichts Besseres in dieser Art getroffen habe.


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