F. M. Dostojewskij
Der Jüngling
F. M. Dostojewskij

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II

Ich notiere hier nur für mich: es gab nach Lisas Weggehen Augenblicke, wo die unerwartetsten Gedanken mir scharenweise durch den Kopf zogen und ich mit ihnen sogar sehr zufrieden war. ›Na, warum rege ich mich so auf‹, dachte ich, ›was kümmert's mich? So oder fast so geht es ja doch bei allen. Was hat denn das, was Lisa passiert ist, groß zu bedeuten? Und ich, bin ich denn verpflichtet, »die Ehre der Familie zu retten«?‹ Ich notiere alle diese Gemeinheiten, um zu zeigen, wie wenig gefestigt meine Begriffe von Gut und Böse noch waren. Was mich rettete, war nur mein Gefühl: ich wußte, daß Lisa unglücklich war und daß Mama unglücklich war, und ich wußte das durch mein Gefühl, wenn ich an sie beide dachte, und daher fühlte ich auch, daß alles, was da geschehen war, nicht gut sein konnte.

Jetzt schicke ich voraus, daß die Ereignisse von diesem Tag an bis zur Katastrophe meiner Erkrankung einander mit solcher Schnelligkeit folgten, daß es mir jetzt bei der Rückerinnerung sogar selbst wunderbar vorkommt, wie ich ihnen habe standhalten können und vom Schicksal nicht erdrückt worden bin. Sie nahmen meinem Verstand und sogar meinem Gefühl die Kraft, und wenn ich schließlich unterlegen wäre und ein Verbrechen begangen hätte (und ich war nahe genug daran, das zu tun), so wäre es sehr möglich gewesen, daß die Geschworenen mich freigesprochen hätten. Aber ich will mir Mühe geben, alles in strenger Ordnung aufzuzeichnen, obgleich ich vorausschicken muß, daß damals in meinen Gedanken wenig Ordnung herrschte. Die Ereignisse jagten mit Windeseile dahin, und die Gedanken wirbelten in meinem Kopf umher wie trockene Herbstblätter. Da ich ganz und gar aus fremden Gedanken bestand, wo hätte ich da eigene hernehmen sollen, als ich ihrer zu einem selbständigen Entschluß bedurfte? Einen Führer aber hatte ich überhaupt nicht.

Ich hatte mir vorgenommen, am Abend zum Fürsten zu gehen, um mich mit ihm ganz frei über alles auszusprechen; bis zum Abend blieb ich zu Hause. In der Dämmerzeit aber erhielt ich wieder mit der Stadtpost ein Briefchen von Stebelkow, nur drei Zeilen, mit der dringenden, »inständigen«, Bitte, ihn am nächsten Tag um elf Uhr vormittags »in einer sehr wichtigen Angelegenheit« zu besuchen; »Sie werden selbst sehen«, schrieb er, »daß es sich wirklich so verhält«. Nach kurzer Überlegung entschied ich mich dafür, je nach den Umständen zu handeln, da es bis zum andern Tag noch lange hin war.

Es war schon acht Uhr; ich wäre schon längst weggegangen, aber ich wartete immer noch auf Wersilow: ich hatte den Wunsch, ihm vieles zu sagen, und das Herz brannte mir. Aber Wersilow kam und kam nicht. Bei Mama und Lisa konnte ich mich vorläufig noch nicht wieder zeigen, und mein Gefühl sagte mir, daß auch Wersilow gewiß den ganzen Tag über nicht dagewesen war. Ich machte mich zu Fuß zum Fürsten auf, aber als ich schon unterwegs war, kam mir der Einfall, einen Blick in das gestrige Lokal am Kanal zu werfen. Und richtig saß da Wersilow auf seinem gestrigen Platz.

»Das hatte ich mir gedacht, daß du hierherkommen würdest«, sagte er, seltsam lächelnd und mich seltsam anblickend. Es war kein gutes Lächeln – ein Lächeln, wie ich es auf seinem Gesicht schon lange nicht mehr gesehen hatte.

Ich setzte mich zu ihm an das Tischchen und erzählte ihm von Anfang an, was zwischen dem Fürsten und Lisa vorgegangen war, sowie die Szene, die ich gestern nach dem Roulett bei dem Fürsten mit diesem gehabt hatte; auch meinen Gewinn im Roulett vergaß ich nicht. Er hörte sehr aufmerksam zu und stellte Fragen über den Entschluß des Fürsten, Lisa zu heiraten.

»Pauvre enfant, vielleicht gewinnt sie nichts dadurch. Aber wahrscheinlich kommt die Sache gar nicht zustande ... obwohl er dazu fähig wäre ...«

»Sagen Sie mir als Freund: Sie haben es doch gewußt, geahnt?«

»Mein Freund, was konnte ich dabei tun? Alles das ist eine Sache des Gefühls und eines fremden Gewissens, wenn auch die Person, die dabei in Betracht kommt, dieses arme Mädchen ist. Ich kann dir nur wiederholen: ich habe mich seinerzeit genug in das Gewissen anderer Menschen eingedrängt – es ist ein höchst unpraktisches Manöver! Jemandem im Unglück zu helfen, weigere ich mich nicht, soweit meine Kraft reicht und wenn ich Verständnis dafür habe. Aber du, mein Lieber, du hast also die ganze Zeit über nichts geargwöhnt?«

»Aber wie konnten Sie«, rief ich, heftig auffahrend, »wie konnten Sie, wenn Sie auch nur eine Spur von Verdacht hatten, daß ich etwas von Lisas Beziehungen zu dem Fürsten wußte, und wenn Sie zugleich sahen, daß ich von dem Fürsten Geld annahm, wie konnten Sie dann mit mir reden, mit mir zusammensitzen, mir die Hand reichen – mir, den Sie doch für einen Schuft halten mußten, denn ich möchte wetten, Sie argwöhnten wirklich, daß ich alles wußte und von dem Fürsten für meine Schwester wissentlich Geld annahm!«

»Das ist wieder so eine Gewissenssache«, antwortete er lächelnd. »Und woher weißt du«, fügte er mit einer rätselhaften Wärme des Gefühls nachdrücklich hinzu, »woher weißt du, ob nicht auch ich, wie du gestern in einem andern Fall, gefürchtet habe, mein ›Ideal‹ zu verlieren und statt meines heißblütigen, ehrenhaften Jungen einen Taugenichts vor mir zu sehen? In dieser Befürchtung schob ich den Augenblick hinaus. Warum setzt du bei mir statt Trägheit und Hinterlist nicht irgendeinen harmloseren, meinetwegen einen dummen, aber doch anständigeren Beweggrund voraus? Que diable! Ich bin nur zu oft dumm, auch wo keine Anständigkeit mitspielt. Was hätte ich dann noch von dir gehabt, wenn du tatsächlich eine solche Haltung gezeigt hättest? Jemanden durch Ermahnungen bessern zu wollen, ist in solchen Fällen ein unwürdiges Verfahren; du würdest in meinen Augen doch allen Wert verloren haben, selbst wenn du dich dann gebessert hättest ...«

»Aber Lisa tut Ihnen doch leid? Die tut Ihnen doch leid?«

»Sehr leid tut sie mir, mein Lieber. Warum hast du geglaubt, daß ich so gefühllos bin? Ich bemühe mich vielmehr aus aller Kraft ... Nun, und wie steht es mit dir, mit deinen Angelegenheiten?«

»Lassen wir meine Angelegenheiten beiseite; ich habe jetzt keine eigenen Angelegenheiten. Sagen Sie, warum zweifeln Sie daran, daß er sie heiraten wird? Er ist gestern bei Anna Andrejewna gewesen und hat sich endgültig losgesagt ... na, ich meine, von diesem dummen Projekt ... das der Fürst Nikolai Iwanowitsch ausgeheckt hatte, daß aus ihnen ein Paar werden sollte. Er hat sich endgültig losgesagt.«

»Ja? Wann ist denn das gewesen? Und von wem hast du das eigentlich gehört?« erkundigte er sich neugierig. Ich erzählte alles, was ich wußte.

»Hm ...«, sagte er nachdenklich, als wenn er sich etwas im stillen zurechtlegte, »also muß das genau eine Stunde ... vor einer anderen Erklärung geschehen sein. Hm ... nun ja, gewiß, eine derartige Erklärung konnte ja zwischen ihnen stattfinden, obwohl mir bekannt ist, daß dort weder von der einen noch von der andern Seite bisher jemals etwas gesagt oder getan worden ist ... Ja, es genügen allerdings zwei Worte, um sich zu erklären. Aber sieh mal«, fuhr er mit einem seltsamen Lächeln fort, »ich will dir da eine außerordentliche Neuigkeit mitteilen, die dich sehr interessieren wird: wenn dein Fürst Sergej auch wirklich gestern Anna Andrejewna seinen Heiratsantrag gemacht hätte (was ich, entre nous soit dit, da ich über Lisa meine Vermutungen hatte, mit allen Mitteln zu verhindern gesucht hätte), so hätte ihm doch Anna Andrejewna bestimmt und in jedem Falle sofort einen Korb gegeben. Du liebst, achtest und verehrst ja wohl Anna Andrejewna sehr? Das ist sehr nett von dir, und daher wirst du dich wahrscheinlich für sie freuen: sie beabsichtigt zu heiraten, mein Lieber, und nach ihrem Charakter zu urteilen glaube ich, daß sie es auch sicher tun wird, und ich ... nun, ich werde ihr natürlich meinen Segen geben.«

»Sie will sich verheiraten? Mit wem denn?« rief ich höchst erstaunt.

»Rate einmal! Aber ich will dich nicht lange quälen: mit Fürst Nikolai Iwanowitsch, deinem lieben alten Herrn.«

Ich sah ihn mit weit aufgerissenen Augen an.

»Sie wird diesen Plan wohl schon lange gehegt haben und hat ihn gewiß mit der größten Kunst nach allen Seiten hin ausgearbeitet«, fuhr er langsam und lässig fort. »Ich vermute, daß das gerade eine Stunde nach dem Besuch des Fürsten Sergej zur Ausführung gelangt ist. (Da hat er also den Sprung nicht im richtigen Augenblick unternommen!) Sie ist einfach zum Fürsten Nikolai Iwanowitsch hingegangen und hat ihm einen Antrag gemacht.«

»Was soll das heißen: ›sie hat ihm einen Antrag gemacht‹? Sie meinen: er hat ihr einen Antrag gemacht?«

»Nein doch, wie könnte er das! Sie, sie selbst hat es getan; das ist es ja eben, und darüber ist er jetzt im siebenten Himmel. Wie ich mir habe sagen lassen, sitzt er jetzt immer da und wundert sich, daß er selbst nicht auf diesen Gedanken gekommen ist. Ich habe gehört, er fühle sich sogar unwohl ... sicher ebenfalls vor Entzücken.«

»Hören Sie mal, Sie sagen das alles so spöttisch ... Ich kann es kaum glauben. Und wie hat sie es denn angefangen, ihm einen Antrag zu machen? Was hat sie zu ihm gesagt?«

»Sei überzeugt, mein Freund, daß ich mich aufrichtig darüber freue«, antwortete er, indem er auf einmal ein überraschend ernstes Gesicht machte. »Er ist allerdings alt, aber nach Gesetz und Sitte kann er heiraten, und sie – das ist eben wieder so eine Angelegenheit eines fremden Gewissens, wovon ich schon mehrmals mit dir gesprochen habe, mein Freund. Übrigens ist sie durchaus befähigt und berechtigt, ihre eigene Meinung zu haben und ihre eigenen Entschlüsse zu fassen. Was aber speziell die Einzelheiten anlangt und die Worte, deren sie sich dabei bedient hat, so bin ich nicht in der Lage, dir darüber etwas mitteilen zu können, mein Freund. Aber sie wird das schon verstanden haben und vielleicht so gut, wie du und ich es uns nicht aussinnen könnten. Das beste an der ganzen Sache ist, daß keinerlei häßliches Aufsehen damit verbunden ist; vielmehr ist alles in den Augen der vornehmen Gesellschaft très comme il faut. Es liegt natürlich auf der Hand, daß sie sich eine Stellung in der Gesellschaft hat schaffen wollen, aber sie ist einer solchen Stellung ja auch durchaus würdig. Das alles ist in der Gesellschaft ein völlig üblicher Vorgang. Und bei ihrem Antrag hat sie sich sicherlich in vornehmer, geschmackvoller Weise benommen. Sie ist ein ernster Typ, mein Freund, eine jungfräuliche Nonne, wie du sie einmal bezeichnet hast, ein ›ruhiges Mädchen‹, wie ich sie schon lange nenne. Sie ist ja, wie du weißt, beinahe seine Pflegetochter und hat schon zu wiederholten Malen seine Güte erfahren. Sie hat mir schon seit langer Zeit gesagt, daß sie ihn so achte und schätze und so bedaure und mit ihm so sympathisiere, na, und so weiter, so daß ich sogar einigermaßen darauf vorbereitet war. Mir hat dies alles heute morgen in ihrem Namen und in ihrem Auftrag mein Sohn, ihr Bruder Andrej Andrejewitsch, mitgeteilt, mit dem du ja wohl nicht bekannt bist und den ich genau einmal alle halben Jahre zu sehen bekomme. Er billigt ihren Schritt respektvoll.«

»Also ist die Sache schon öffentlich bekannt? Herrgott, ich kann es gar nicht fassen!«

»Nein, öffentlich bekannt ist es durchaus noch nicht, wenigstens vorläufig nicht ... Ich weiß darüber nichts, wie ich mich überhaupt ganz abseits halte. Aber seine Richtigkeit hat das alles.«

»Aber was wird jetzt Katerina Nikolajewna ... Was meinen Sie, Bjoring wird die Geschichte nicht gerade gefallen?«

»Das weiß ich nicht ... was sollte ihm eigentlich dabei nicht gefallen? Aber sei überzeugt, daß Anna Andrejewna auch in dieser Beziehung ein höchst korrekter Mensch ist. Nein, diese Anna Andrejewna! Fragt sie mich noch eigens gestern vormittag, ob ich die verwitwete Frau Achmakowa liebe. Du erinnerst dich, ich erzählte es dir gestern voller Verwunderung: sie könnte den Vater nicht heiraten, wenn ich die Tochter heiratete. Verstehst du jetzt den Zusammenhang?«

»Ach, wahrhaftig!« rief ich. »Aber hat denn Anna Andrejewna wirklich denken können, daß Sie ... wünschen könnten, Katerina Nikolajewna zu heiraten?«

»Offenbar hat sie es nicht für undenkbar gehalten, mein Freund. Übrigens ... übrigens wird es für dich allmählich Zeit, dahin zu gehen, wohin du gehen wolltest. Siehst du, ich habe schon die ganze Zeit Kopfschmerzen. Ich werde mir die Lucia bestellen. Ich liebe so etwas Feierliches, Langweiliges; übrigens habe ich dir das schon gesagt ... Ich wiederhole mich in unverzeihlicher Weise ... Übrigens, vielleicht gehe ich auch von hier weg. Ich habe dich sehr gern, mein Lieber, aber jetzt leb wohl: wenn ich Kopfschmerzen oder Zahnschmerzen habe, bin ich immer am liebsten allein.«

Auf seinem Gesicht erschien ein Ausdruck von Schmerz; ich glaube jetzt, daß ihm damals der Kopf weh tat, gerade der Kopf.

»Auf Wiedersehen morgen«, sagte ich.

»Was heißt das: ›auf Wiedersehen morgen‹? Wer weiß, was morgen sein wird?« versetzte er mit einem schiefen Lächeln.

»Ich werde zu Ihnen kommen, oder Sie zu mir.«

»Nein, ich werde nicht zu dir kommen, aber du wirst zu mir gelaufen kommen ...«

Auf seinem Gesicht lag ein geradezu böser Ausdruck; aber ich kümmerte mich nicht weiter darum: so ein Ereignis!


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