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Allerdings war Schellenbarth ein weltberühmter Gelehrter, ein Historiker, der eine ganz neue und geniale, bahnbrechende Art der Geschichtsauffassung und -darstellung gefunden und denn auch in einem monumentalen Werke die Geschichte der Menschheit mit sachlicher und sprachlicher Meisterschaft dargestellt hatte. Er war Mitglied und Ehrenmitglied zahlloser gelehrten Gesellschaften, Ehrendoktor aller vier Fakultäten, und sogar die meisten seiner Fachkollegen zogen tief vor ihm den Hut, was immerhin etwas sagen will. Nur in seiner Vaterstadt hielt man nicht viel von ihm, was aber nicht zu vermeiden war, da der Mensch nun einmal eine Vaterstadt oder einen Vaterflecken haben muß. Von seinen Heimatgenossen galten die Verse eines neueren Dichters, der gesagt hat:
»Sie ehren das Große der Heimat nie.
Sie schließen im stillen nach Analogie:
Wie wüchsen wohl große Geister hier,
Wo solche Kälber gedeihn wie wir.«
Nun wohl, das alles wäre ja soweit recht schön und gut, und es ließe sich gar nichts gegen den Mann einwenden, wenn er in allen Lebenslagen den würdigen, gemessenen, strengen und unerschütterlichen Ernst bewahrt hätte, den man von einem Manne in solcher Lebensstellung und von solcher Bedeutung erwarten muß. Aber dieser Mann hüpfte, wenn er Kinder damit zum Lachen bringen konnte, in seiner Studierstube umher wie eine Henne, gackerte wie ein ganzer Hühnerhof und legte Marzipaneier! Er baute sich einen Käfig aus Stühlen, hockte sich hinein und brüllte donnerähnlich wie ein Löwe, weil die Kinder das verlangt hatten! Und da er einen ungeheuren Haarschopf und einen langen Ringelbart hatte (der sich schon silbern zu färben begann!!), so hatte er wirklich etwas von einem Löwen. Ja, dieser Ehrendoktor (u. a. der Theologie!) hatte einmal für einen befreundeten Schauspieler eine Posseneinlage, ein Couplet gedichtet, und dieses Couplet war nicht etwa durchgefallen – das hätte ihn ja halbwegs rehabilitiert –, nein, es war sehr ulkig gewesen und hatte stürmische Heiterkeit erweckt – nun, ich meine, das paßt doch nicht zueinander! Die Menschheit zerfällt eben in zwei Klassen: die obere, die ernsthaft ist und ernsthaft bleibt, und die niedere, die lacht und lachen macht; wer durch Gottes Gnade zur oberen gehört, soll sich nicht zur unteren erniedrigen, wenigstens als Deutscher nicht. Beiden Klassen kann man nicht angehören; Zweiseitigkeit läßt mit Sicherheit auf Oberflächlichkeit schließen, auch wo man sie nicht geradezu nachweisen kann, von »Vielseitigkeit« ganz zu schweigen. Man denke an Goethe und seinen lächerlichen Naturforscherehrgeiz, an seine Sucht, zugleich Mailieder und Herbstlieder dichten zu wollen! »Schuster, bleib bei deinem Leisten« – der ewig berechtigte Naturschrei der Schuster!
Leider müssen wir das Bild des Mannes durch Züge ergänzen, die es noch empfindlicher trüben. Er war nämlich der Meinung, daß die guten Gerichte auf der großen Welttafel vom lieben Gott dahingesetzt seien, um genossen, nicht, um verschmäht zu werden. Das wäre ja nun auch gar nicht so schlimm gewesen, wenn er diese Anschauung im stillen gehegt und befolgt hätte; bei sich zu Hause hätte er ja Austern und Wein genießen können, so viel er wollte! Aber nein: er suchte förmlich etwas darin, seine Ansicht vor aller Welt zu betätigen, sich vor der Leute Ohren und Augen zu einem guten Tropfen und einem guten Bissen zu bekennen! Er saß, wenn es ihm Spaß machte, ganze Nächte lang bei Wein und Bier, trank zwar nicht unmäßig, aber scherzte dabei unter Umständen sogar mit Kellnerinnen! Ein bahnbrechender Historiker, bitte! Ein weltberühmter Forscher – ich bitte, das zu bedenken! Ja, er suchte, wenn es ihm Spaß machte, Kutscher- und Seemannskneipen auf, unterhielt sich mit den Gästen dort aufs allerangelegentlichste, und es ging, weiß Gott, das Gerücht, daß er sich mit einigen Arbeitern aus der Hafengegend duze! Ein Gelehrter von Weltruf, man stelle sich das vor! Wo es in einer Kneipe annehmbare Musik gab, da bestellte er sich etwa ein Impromptu oder ein Lied von Schubert, die Ouvertüre zum »Don Juan«, ein Menuett von Boccherini oder dergleichen, und dann ließ er den Musikanten Wein und Zigarren von bester Qualität auffahren. Einmal fand er einen, der spielte ganz von selbst nacheinander Beethoven, Wagner, Schumann, Weber und Schubert. Schellenbarth riß die Augen immer weiter auf, rief den Kellner und fragte: »Wer ist der Mann?!«
»Dja,« sagte der Kellner, »der is so 'n bißchen verrückt; der spielt immer so schwere Sachen, die das Publikum nicht versteht; er geht aber zum Ersten.«
»Wo ist der Mann?« rief Schellenbarth und sprang auf. Er suchte den Mann in seinem Winkel auf, feierte ihn wie einen d'Albert oder Emil Sauer, obwohl er den Unterschied kannte, ließ Sekt und Zigarren kommen, spielte dann mit ihm zusammen vierhändig – in einem Restaurant mit Separees, bitte – bit–tt–te! – und drückte ihm beim Abschied einen Hundertmarkschein in die Hand. Er besaß nämlich von Haus aus ein sehr beträchtliches Vermögen, und für Geld kann man, wie es heißt, »den Deubel tanzen sehen«. Der Deubel interessierte ihn aber nicht; er sah lieber den Menschen tanzen. Und so war denn, wenn er im Wirtshaus saß, an seinem Tisch immer offene Tafel. Besonders liebte er es, arme Teufel, denen die Stühle an Gottes reicher Tafel zu hoch sind, hinaufzuheben und ihnen das Leckerste vorzulegen. Aber auch für den Reichsten zog er mit Behagen die Börse, wenn die Zeche aufgerechnet wurde, und wollte sich im Innersten totlachen über den Harpagon, der sich beschenken ließ. Er wußte auch, daß mancher hernach hinter seinem Rücken sagte: »Der Narr wirft sein Geld für andere weg!« aber eben dies schien ihn besonders zu amüsieren. Wie Timon von Athen war er nicht ängstlich in der Wahl seiner Gäste; aber in einem unterschied er sich bemerkenswert von diesem Timon: Von den schmeichlerischen Hymnen, Dithyramben und Panegyriken seiner Gäste glaubte er nicht die schmächtigste Silbe; von ihren Versprechungen nahm er auch nicht den sanftesten Hauch für Ernst, obwohl er selbst ein gegebenes Wort unter allen Umständen zu halten pflegte, auch wenn es in sonnigster Nachtstunde gegeben war. Wie reiche Fürsten sich zu ihrem Vergnügen eine Schauspielertruppe zu halten lieben, so ließ er sich an seinem Tische von einer ständig wechselnden Gesellschaft das Leben vorspielen und machte aus seltsam strahlenden Augen die Beleuchtung dazu. Aus all diesem geht klar hervor, daß Leonhard Schellenbarth ein – wie ich schon so überaus treffend bemerkt habe – total ungehöriger Mensch war, der z. B. als Hamburger Senator einfach undenkbar gewesen wäre.