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Als sich den neuen Mannschaften am nächsten Morgen der zu ihrer Erziehung berufene Sergeant vorstellte, erlebte August ein unverhofftes Wiedersehen. Träumt' er? War sein Auge trüber? Nebelt's ihm ums Angesicht? Nein, er träumte nicht; sein Auge war nicht trüber; es nebelte ihm nicht ums Angesicht. Vor ihm stand sein ehemaliger »Lagerist« Emil Hustefeldt. Derselbe, den er wegen einiger nicht ganz uneigennütziger Manipulationen mit Nachdruck und Einbehaltung der Kaution »hinausgeschmissen« hatte. Für eine so weitgehende Selbständigkeit seiner Angestellten war August nicht eingenommen. Emil Hustefeldt hätte Offizier werden können; denn er war nicht Dissident. Er war ohne Zweifel Christ; denn er war kirchlich getraut, und seine Kinder waren ausnahmslos getauft. Aber er hatte das Christentum mit Auswahl angenommen. Die Lehren unseres Herrn Jesus, daß man seine Feinde lieben, daß man Böses mit Gutem vergelten und dem, der uns auf den rechten Backen schlägt, auch den linken hinhalten solle, lehnte er ab. (August übrigens auch.)
Er lächelte freundlich, als er bei der Einzelbesichtigung seiner Zöglinge zu unserm August kam, und sagte nur:
»Na, Gutbier, wir kennen uns ja.«
»Zu Befehl, Herr Sergeant!« sprach August etwas heiser.
Der Herr Sergeant eröffnete seinen Unterricht damit, daß er einem Gymnasialdirektor bedeutete, das Wort »Sergeant« sei französisch und werde nicht »Serschant«, sondern »Schersant« ausgesprochen.
Nach dem Geistigen kam dann das Körperliche.
»Stillgestanden« und »Rührt euch« wurde geübt. Das Rühren ging besser als das Stillstehen; aber Hustefeldt hatte an Augustens Grundstellung und Körperhaltung wenig auszusetzen und das auch nur in einem sanften, väterlichen Tone. August glaubte zum ersten Male in seinem Leben an Edelmut.
Hierauf lernte August das Grüßen. Wir wissen ja, daß er grüßen könnte, aber anders. Mit einem unbewußten Tippen an den Rand der Kopfbedeckung war Emil Hustefeldt nicht zufrieden. Er verlangte keinen Gruß; er forderte eine tiefgreifende anatomische Umwälzung der gesamten gutbierischen Leiblichkeit. August mußte das Haupt nach links oder rechts schleudern als wolle er sich seiner als eines wertlosen Gegenstandes entledigen; er mußte die Hand mit elektrischer Geschwindigkeit an den Mützenrand bringen und mußte Hustefeldt mit Augen ansehen, wie sie der Jüngling zu Sais machte, als er die Wahrheit sah. Herr Hustefeldt stellte sich auf wie ein Standbild von Stein und bezeichnete jedesmal den Rang, den er jezuweilen vorstelle: »Der Herr Hauptmann!« »Der Herr Oberst!« »Seine Exzellenz der Herr Kommandierende General!« »Seine Majestät!« – und August mußte immer furchtbarer grüßen. Jajajajaja, die militärische Disziplin ist keine Brotfrau.
Dann kamen Ordnungsübungen, das heißt also, es kam Bewegung in die Massen. Herr Hustefeldt stellte einen Flügelmann oder einen Mann mitten aus dem Gliede hierhin oder dorthin – immer möglichst weit weg – und dann mußten sich ihm die andern im Laufschritt wieder zuordnen. Natürlich ging das Herrn Hustefeldt niemals schnell genug.
»Das nennen Sie Laufschritt, meine Herren?« rief er, »das nenn' ich Trauermarsch! Kehrt marsch maaaarsch!«
Und immer mindestens dreimal »Kehrt marsch marsch!« bevor er zufrieden war.
Wiederholt war August Gutbier der letzte; denn einer muß ja der Letzte sein.
»Gutbier kehrt marsch maaaarsch!« schrie dann der Herr »Schersant,« und August mußte den ganzen Übungsplatz noch einmal – aber schneller! – durchmessen. Er hinterließ auf dem Erdboden eine Spur wie ein Meerweib, das sich aufs trockne Land begibt. Schon am zweiten Tage mußte August nachexerzieren.
Nach einiger Zeit gab es dann Gewehre. So ein Gewehr ist in der Hand eines tüchtigen Unteroffiziers eine wunderbare Waffe gegen den Gemeinen. Es hat die Eigentümlichkeit, niemals richtig zu liegen und niemals rein zu werden. Wenigstens Augustens Flinte wurde niemals rein. Die subjektive Kritik Hustefeldts behauptete jedesmal, wenn er den Lauf vors Auge hielt, ganze Misthaufen darin zu entdecken. Dann mußte August natürlich eine Stunde strafputzen.
Außerdem ist das Gewehr das Heiligste, was der Mensch hat. Der Mensch hat viele Heiligtümer: Vater und Mutter, den Eid, die geweihte Hostie, die Bibel, das Vaterland usw.; aber das Heiligste ist das Gewehr. Die Sünde wider den heiligen Geist ist so schwer, daß sie nie vergeben werden kann; aber die Sünde wider das Gewehr ist größer; sie ist so groß, daß man überhaupt nicht begreift, wie ein Mensch sie begehen kann. August Gutbier beging sie. Er hatte eines Tages eine kräftige Schramme im Lauf. Da flog er drei Tage ins Loch. Bei Wasser und Brot! Aber zu hungern und zu dürsten brauchte er nicht; es war genug von beidem da. Er hatte also ganz recht gehabt, als er damals ausrief: »Das ischa der reine Quatsch, von ›Not‹ zu quasseln! Wo is denn ›Not‹! Wir haben noch dicke genug zu futtern!«
Als er dann aber eine Viertelstunde auf der Pritsche gelegen hatte, da fühlte er ein tiefes Heimweh im Rücken. Er hatte zu Hause ein sehr gutes Bett gehabt. Wir haben schon betont, daß August Gutbier nicht fett war. Lieblinge der Götter, wie der Verfasser dieser Erzählung, sind von diesen Göttern mit natürlichen Polstern bevorzugt und überall weich gebettet.
Nach Verbüßung seines Arrestes nahm man keine Rücksicht auf seinen geschwächten Zustand; vielmehr hatte August schwer zu ringen, um das Versäumte nachzuholen und die Zufriedenheit seiner Vorgesetzten zu erwerben.
Indessen: schließlich ist der Dienst auf dem Exerzierplatze, genau betrachtet, das reine Vergnügen. Ein etwas geringeres Vergnügen ist der innere Dienst: das Putzen, das Bettenmachen, das Wassertragen, das Fegen und Schruppen, das Waschen und Ausklopfen und – das unübertreffliche Strohsackstopfen. Man muß mit dem Arm seiner ganzen Länge nach in den Sack hinabtauchen, das Stroh herausholen und das endgültig verbrauchte sorgfältig von dem noch nicht ganz endgültig verbrauchten sondern. Das verbrauchte Stroh aber hat der müde Leib der Soldaten größtenteils zu Atomen zerlegen. Diese Atome setzten sich in Nase, Schlund, Augen, Ohren und zwischen Haut und Kleidung und wirken dort genau so gut wie fünf Milliarden Flöhe. Es versteht sich von selbst, daß August zu allen Arbeiten, die dereinst im Himmel »mit einer ganz besonderen Krone gelohnt« werden, zugelassen wurde. Da er das Fußbodenschruppen früher nie studiert hatte und für energische Bewegungen niemals eingenommen gewesen war – sie haben immer etwas Unvornehmes – so ist es begreiflich, daß er es unvollkommen vollführte und darum zweimal machen mußte, und wenn es Aborte zu schruppen gab, so war es klar, daß August sie schruppen mußte. Und dann konnte es noch vorkommen, daß Hustefeldt rief, wenn August eben vom Schruppen ausruhen wollte:
»Hier, Gutbier! Putzen Sie mir mal flink die Stiebel, aber fix!« – –
»Beim Kommiß da lernen die Bengels parieren, un das is ihnen sehr gesund! Da heißt es 'ran an 'n Baß, un das hat noch keinem geschadet! Da werden sie ers zu Menschen gemacht. Wenn man so 'n gedienten Kerl ins Geschäff kriegt, das is 'n ganz andern Schnack is das! Die militärische Erziehung, meine Herr'n, die is gar nich mit Gold aufzuwiegen is sie nich!« sagte August.
Als er noch am Stammtisch saß.
Jetzt dachte er zuweilen anders. Jetzt dachte er zuweilen: »Na, warte, du Hund, ich treffe dich wohl mal anderswo. Ich krieg' dich wohl mal in irgend 'ne stille Ecke, da sollst du mich kennenlernen!«
Aber August hat nie die Gelegenheit gefunden.
»Die Rache ist mein,« spricht Hustefeldt.
»Aber der Herr Gutbier war doch ein reicher Mann; er hätte doch sicher Kameraden gefunden, die ihm gegen gute Bezahlung die unangenehmsten Arbeiten abgenommen hätten!« ruft hier der Leser. Das hat er ja auch versucht, lieber Leser; aber der Herr »Schersant« ist ihm sofort dahintergekommen, und Emil Hustefeldt war ein ebenso gerechter wie demokratischer Mann; ich hätte ihn auch Emil Egalité nennen können.
»Was hier!« rief er, »'n Burschen halten wie die Herren Offiziere und Druckpunkt nehmen, jawoll jawoll! Das könnte euch so passen! Das gibt's bei mir nu schon mal gar nicht! Hier wird vor keiner Arbeit Kehrt gemacht; hier ist keiner besser wie der andre. Beim Preußen sind alle gleich, bis hinauf zum Gefreiten!«
Ich habe geschrieben, das Exerzieren sei, genau betrachtet, das reine Vergnügen. Wie jede Wahrheit, so erleidet natürlich auch diese eine gewisse Einschränkung. Da sind zum Beispiel die Felddienstübungen, die, wenn man ihre strategisch-taktische Idee begreift und einsieht, sehr anziehend sein können, wenn man das nicht tut, weniger. August zum Beispiel konnte nicht einsehen, warum man sich bei einer Gefechtsübung plötzlich mit vollem, eben gereinigtem Anzug, mit voller feldmarschmäßiger Bepackung und mitsamt seiner Knarre in den dicksten Schlamm werfen müsse, wenn es befohlen werde. Er zögerte also.
»Was ist los, Herr Gutbier?« rief der Hauptmann. »Ist etwas nicht in Ordnung? Ach so – einen Teppich bitte für Herrn Gutbier!«
Jetzt sank August langsam auf die Knie, dann auf die linke Hand, und dann bettete er sich sorgfältig am weichen Busen der Mutter Erde.
»Himmeldonnerwetter!« schrie der Hauptmann, »Herrrr, wenn ich kommandiere ›Hinlegen‹, dann haben Sie nicht zweifelnd zu Boden zu flattern wie ein herbstliches Laub, dann haben Sie hinzufallen wie eine tote Latte! Sonst haben Sie im Ernstfalle 'ne Kugel im Bauch! Nehmen Sie sich endlich zusammen, Herrrr!! Sie fallen immer wieder auf!!!«
Ebenso konnte August nicht begreifen, warum die Übungen »Hinlegen!« und »Sprung auf, marsch marsch!« so oft und so schnell hintereinander gemacht wurden; es war doch gar kein Feind da. Diese Übungen erregten seine lebhafte Abneigung; dies Emporschnellen empörte ihn; dies Laufen machte ihn schnaufen; dies Hinfallen erregte sein Mißfallen. Wir wollen versuchen, eine solche Übung in Dialogform darzustellen, wobei wir allerdings auf die etwas veraltete Technik des »Fürsichsprechens« zurückgreifen müssen. Also: man lag auf dem Bauch und tat so, als wenn man schösse.
Leutnant: Bis zu der alleinstehenden Birke da: Sprung auf, marsch marsch!
August (halblaut): Öh!
(Nach Zurücklegung der 80 Meter: Schießpantomime wie oben.)
Leutnant: Bis zu der kleinen Anhöhe: Sprung auf, marsch marsch!
August (lauter): Öhh!!! (Schießen wie oben.)
Leutnant: Bis zu dem Haferfeld: Sprung auf, marsch marsch!
August (für sich): Verdammich!!! (Wie oben.)
Leutnant: Bis zu dem Wachtposten: Sprung auf, marsch marsch!
August (für sich): Verfluchte Schweinerei!!! (Wie oben.)
Leutnant: Bis zur Kantine: Sprung auf, marsch marsch!
August: – – – –!!!
Das letzte hat August ziemlich laut gesagt; aber es geht unter im Schlachtgetümmel.