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Auch August Gutbier beschränkte seine Wirtschaftspolitik nicht auf das Haus und nicht auf Nudeln und Grütze. Da sah er wahrhaftig am 30. August des Jahres 1914 im »Franziskaner«, nur wenige Tische weit entfernt, ein paar Kerle zusammensitzen, die Sekt tranken! Zwar keinen französischen Sekt, aber Deinhard. In dieser Zeit!
»Sie sollten Ihr Geld auch lieber der Kriegshilfe geben!« rief August so laut hinüber, daß es gehört werden mußte. Unter den Gegenständen, die August im- und exportierte, befand sich kein Deinhard. Seine Empörung fand am Tische lebhafte Zustimmung; nur der wirtliche Dichter Richard Merseburg empfand sie als eine Unduldsamkeit; er erhob sich schnell zu einem Inspektionsgange durch das Lokal. Am Tische der Sekttrinker schien der Zuruf die allgemeine Heiterkeit nur erhöht zu haben, und nach einigen Minuten brachte der Kellner von dort einen zusammengefalteten Zettel zu Händen des ersten Sofasitzenden. August entfaltete ihn und las:
»Der hochzuschätzende Rufer im Streit wird um Angabe der Summe gebeten, die er für die Kriegshilfe gezeichnet hat, und um Vorlegung der Quittung.«
Und im »Verein Nächstenliebe« ward abermals eine große Stille; nur der Professor sprach in diese Stille hinein mit freundlich leuchtenden Blicken:
»Das ist ein guter Gedanke; Zahlen beweisen. Sie haben sicher so viel gegeben, daß es den Herren den Mund stopft.«
Aber August nannte keine Zahl; er zerriß den Zettel in mehr als hundert Fetzen und rief:
»Das is – 'ne Frechheit is das einfach! Man sollte ja eigentlich 'rübergehn un dem Kerl eine 'runterhauen; aber man ischa viel zu vornehm is man ja.«
Wer weiß, ob es nicht trotz dieser Vornehmheit doch noch zu einer kräftigen Reibung gekommen wäre, wenn sich nicht plötzlich die Nachricht verbreitet hätte, daß bei St. Quentin Franzosen und Engländer geschlagen worden seien. Die Nachricht werde sogleich vom Rathaus her verkündet werden. In jubelnder Erregung strömte alles hinaus nach dem Rathausmarkte. Und in der Tat erschienen alsbald auf der Rampe des Rathauses Bürgermeister und Senatoren, und der Bürgermeister verlas mit weithin schallender Stimme die herrliche Botschaft. Die Engländer waren aufs Haupt geschlagen; es war kein Herz in Deutschland so friedsam und sanftmütig, daß es ihnen das nicht gönnte. Sie hatten die erste Schlappe zu Lande erlitten, die guten Angelsachsen, die doch eigentlich nur ganz in der Stille angeln wollten. Das war süßer als sieben Siege über Franzosen und Russen. Nicht nur vom Himmel fiel reiche Sonne herab; Sonne drang aus der Erde herauf; Sonne quoll aus dem Herzen zum Himmel; Sonne klang aus Tausenden von Kehlen hinauf, als man entblößten Hauptes »Deutschland, Deutschland über alles« sang.
Allgemach verlief sich dann die Menge; aber während die einfach Begeisterten und einfach Patriotischen wieder ihren Geschäften nachgingen, meinte August, einen solchen Tag könne er nicht im Hause zubringen, nach einem solchen Sieg könne er's im Kontor nicht aushalten; ein solcher Erfolg müsse auch würdig gefeiert werden. Und als Richard Merseburg die Herren zu »einer kleinen fidelen Bierreise« einlud, da wirkte das auf die Gemüter der Stammtischherren wie ein zweiter Sieg bei St. Quentin – ach, was sage ich –: wie die Einnahme Londons.
Das Wort »Bierreise« darf man nun nicht so wörtlich nehmen; die Herren gingen zu Bock und Schlump und tranken zunächst einmal einen sehr guten 93er Smith Haut Lafitte, dann einen 88er Mouton Rothschild, hierauf, der Parität wegen, einen 91er Pape Clement und endlich einen äußerst wirksamen 99er Chambertin aus dem Land Burgund. Bei diesem Trank invadierten sie England. Herr Versicherungsdirektor Strippecke hatte Zweifel geäußert, ob eine deutsche Invasion möglich sei.
»Wir gehen 'rüber,« sagte August kategorisch, lapidar, monumental. »Wir gehn 'rüber!« sagte er. Sonst nichts,
»Na, ich weeß nich!« sagte Bemmefett.
»Wir gehn 'rüber,« sagte August steinhart, stahlhart, betonhart. Vier Silben, nicht mehr.
Man blickte auf den Geheimrat Merswinsky. Merswinsky hatte inzwischen die diplomatische mit der strategischen Geheimwissenschaft vertauscht.
»Ich habe mit einem von der Marine gesprochen –« sagte er – – mehr sagte er nicht. Aber er zwinkerte mit dem linken Auge so vielsagend, daß kein Zweifel möglich war: wir gingen hinüber.
Auf welche Weise wir hinübergehen würden, darüber sagte er natürlich nichts. Man sah es ihm an, daß die Armeeleitung ihm ein furchtbares Schweigegebot auferlegt hatte. Ein Schauer ging durch die Versammlung.
Nachdem also das Faktum festgestellt war, warf man die nicht unwichtige Frage etwaiger Hindernisse auf. Einer war der Ansicht, daß die Engländer einen gewissen Widerstand leisten würden.
»Was woll'n sie denn machen?!« rief August mit Feldherrnstimme. »Wir schießen doch einfach 'rüber! Wenn wir in Calais sind, schießen wir doch einfach 'rüber!«
»Na na na na!« rief Strippecke. »So weit schießen die Preußen nich! Det sind jute 35 Kilometer!«
»Was sind das?« rief August. »Reden Sie doch kein Blech! das sind – das sind noch keine zwanzig Kilometer sind das nich! Ich bin doch xmal 'rübergefahren!«
Strippecke empfand das nicht als Beweis und bestand auf seiner Zahl; aber August sprach viel lauter. Das war der Unterschied zwischen ihm und dem lieben Gott; der liebe Gott wußte alles; aber August wußte alles besser. Nur eins wußte er nicht, nämlich, warum die Deutschen so unbeliebt wären.
Der Professor hätte die Frage ja wohl entscheiden können; aber er nahm an dieser Bierreise durch die mittägigen Provinzen Frankreichs nicht teil. So kam es zu einer Wette um eine weitere Pulle Burgunder; ein Lexikon wurde herbeigeschafft, und August verlor.
Das verdarb ihm aber nicht die Laune; wo es sich um die großen Fragen der Vaterlandsverteidigung handelte, durfte das Geld keine Rolle spielen.
»Un überhaup!« fuhr August fort. »Was sagt das?! Wenn unsere Kanonen es nich machen, denn machen es unsere Luftschiffe. Mit unsern Luftschiffen schmeißen wir doch das ganze London in 'n Dutt!«
Man warf die Frage auf, ob man von einem Zeppelin aus wohl mit voller Sicherheit ein bestimmtes, eng begrenztes Ziel, z. B. ein Kriegsschiff oder ein Arsenal, treffen könne.
»Aber selbstverständlich!« rief August. »Das is doch mal sicher!« Und er beschrieb eine Art Ziel- und Wurfapparat, der so genial konstruiert war, daß ihn kein Physiker, kein Techniker, kein Ingenieur jemals begreifen wird. Man blickte wieder Rat und Hilfe suchend auf den Geheimrat. Und richtig: der Geheimrat zwinkerte. Er zwinkerte höchst beruhigend.
»Sie haben was –« sagte er. Mehr nicht. Er durfte ja auch nicht mehr sagen. Um Gottes willen! Wie Mignon saß er unter den starrbegierigen Blicken der Männer:
»Heißt mich nicht reden, heißt mich schweigen;
Denn mein Geheimnis ist mir Pflicht.
Ich möchte euch mein ganzes Innre zeigen ...
Allein ein Schwur drückt mir die Lippen zu,
Und nur ein Gott vermag sie aufzuschließen.«
Hier muß der Verfasser die Bierreise leider durch eine seiner (bei ihm) so beliebten Anmerkungen unterbrechen. August hatte natürlich niemals an das Luftschiff Zeppelins geglaubt; er glaubte von der Wiege bis zur Bahre überhaupt an kein Luftschiff irgendwelcher Art, bis es greifbar vorhanden war. Du wirst aber, mein hochbegabter Leser, ohne alle Ausnahme die Beobachtung machen, daß eben dieselben Leute, die vor der Vollendung über die Idee eines Luftschiffes vor Lachen bersten wollen, an das endlich vorhandene Luftschiff die unbescheidensten Anforderungen stellen und schlechtweg alles von ihm verlangen, einschließlich der Quadratur des Kreises, des perpetuum mobile, der Bestimmung des Geschlechts vor der Geburt usw. Es ist also nur natürlich, daß August mit Hilfe des Luftschiffs das englische Weltreich demolieren wollte. Dabei fällt mir ein: Solch ein Luftschiff ist auch die Idee des dauernden Völkerfriedens. Er wird einmal kommen wie die andern Luftschiffe, nachdem Jahrhunderte, Jahrtausende um ihn gerungen haben. Als aber einmal am Stammtische von diesem Luftschiff die Rede war, geriet August in einen telamonischen Zorn, der am liebsten alle Friedensschafe der Welt zerrissen hätte. Und er faßte den geistigen Gehalt seiner Ausführungen zusammen in die barock-originale Formel:
»Krieg hat es immer gegeben un wird es auch weiter geben; da ändern wir nix an. Das is immer so gewesen un wird auch immer so bleiben.«
»Mit diesen Worten,« rief Schellenbarth in ausbrechender Begeisterung, »haben Sie die Gesinnung dieses ganzen Tisches in wahrhaft monumentaler Weise zum Ausdruck gebracht! Noch nie ist mir eine umfassende Weltanschauung in so glänzender Formulierung entgegengetreten. Ihre Worte haben auf mich einen unauslöschlichen Eindruck gemacht! Tod und Vernichtung allen Schwarmgeistern und Unruhstiftern!«
Und es war nur wenige Tage darauf, daß er mit einem geheimnisvoll verhüllten Paket am Tische erschien und die folgenden Worte sprach:
»Schon lange, meine Herren, habe ich den Wunsch gehegt, nach meinen Kräften ein weniges zum Schmuck unseres Tisches beizutragen. Erlauben Sie mir, daß ich meine kleine Stiftung enthülle!«
Und was enthüllte er? Eine hübsche kleine silberne Windmühle mit unbeweglichen Flügeln, die auf zwei Seiten eine Inschrift trug. Auf der einen stand:
Es ist immer so gewesen und wird immer so bleiben.
und auf der anderen:
Genio hujus loci.
»Wos heißt denn dos?« fragte Bemmefett.
»Das wird Ihnen unser Herr Präses gern sagen,« versetzte Schellenbarth.
August verfiel in hämorrhoidalische Bewegungen. »Ja. das is ja ganz einfach,« meinte er. »Genio ... Genius. hujus: dieses Monats ... loci? ... loci? ... Was heißt man noch › loci‹?<«
»Loci ist der Genitiv von locus, also: ›Dem Genius dieses Locus‹ oder, wenn Sie ganz deutsch sein wollen: ›Dem Geiste dieses Ortes gewidmet‹.«
»Hm ... sehr hübsch ... sehr geschmackvoll,« sagte einer nach dem andern. »Sehr sinnreich,« sagte Merseburg. »Massiv,« sagte Bemmefett, indem er das Geschenk in der Hand wog. –
Aber es wird Zeit, daß wir unseren Bericht über die Bierreise unserer Freunde wieder aufnehmen.
Man schlug einen Lokalwechsel vor und ging zum Kaffeetrinken in den »Jardin des fleurs«. Da gab es viele hübsche Damen mit kurzen Röcken und hohen, perlgrauseidenen Stiefelchen; aber wenn seine Frau nicht dabei war, war August duldsam. Heute, nach dem Chambertin, waren sie überhaupt alle duldsam, oder, wie sie es auch gern nannten: großzügig.
Strippecke trank hier täglich seinen Kaffee und stand mit den meisten der fleurs auf dem Nick- und Blinzelfuß; Bemmefett dagegen befolgte das Prinzip:
»Blamier' mich nicht, mein schönes Kind,
Und grüß mich nicht unter den Linden.«
und war ganz Ehrenbürger. Für Gselchwampners Geschmack war keine der anwesenden Damen umfangreich genug; Merswinsky bewahrte ganz die Würde eines Mannes, der die Schaubühne als moralische Anstalt auffaßt und für die Frau als Geschlechtswesen kein Interesse hat; er war Geheimrat; Bopserle war wirklich in diesem Punkte gleichgültig; Richard Merseburg aber sang mit Wärme das nach seiner Meinung von Luther herrührende Wort:
»Wer nicht liebt Wein, Weib und Gesang,
Der bleibt ein Narr sein Lebenlang«
und hielt dies für das wesentliche Ergebnis der Reformation.
Sie gingen dann in die Bodega und gewannen hier bei Portwein, Sherry und Madeira die rechte Geistesverfassung für den Besuch eines Kinos. Da sahen sie einen »genialen« Filmschauspieler, der nach übereinstimmenden Zeitungsberichten 125 000 Mark im Jahr verdiente, und eine Filmschauspielerin, die noch »genialer« war, weil sie 150 000 Mark kriegte. Das »Drama« schien unter lauter Epileptikern zu spielen; denn die Mimen stellten eine Liebe dar mit Blicken, Mundöffnungen und Arm- und Beinbewegungen, die gesunde Menschen nicht an sich zu haben pflegen. Aber ein teuflischer Nebenbuhler brachte den Helden durch eine erlogene Anschuldigung, die man deutlich lesen konnte, in ein Gefängnis, in dem er direkt schmachtete; ein Pferd mußte merken, daß er schmachtete, und ein Pianist spielte dazu:
»Nun sei bedankt, mein lieber Schwan!«
Es war sehr schön, direkt künstlerisch. Sie sahen auch mindestens zwei Dutzend Feldgraue in offenbarer Gemütsbewegung hin- und herrennen und ihre Gewehre abschießen und sahen irgendwo plötzlich eine große Staubwolke aufwirbeln. Das war die Schlacht bei Tannenberg, und der Pianist spielte dazu:
»Der Soldat, der Soldate
Ist der schönste Mann im ganzen Staate.«
Nachdem die Herren in einem Austernkeller sehr gut und gründlich zu Abend gegessen hatten, landeten sie endlich in einer Bar mit gereifter Damenbedienung. Jeder der Herren nahm auf einem hohen Bock einer Dame gegenüber Platz, und man konnte es jedem dieser guten Mädchen deutlich ansehen, daß es sofort zu seinem Gegenüber eine tiefe, unauslöschliche Herzensneigung faßte. Wie der Blitz, wie bei Romeo und Julie oder wie bei Don Cesar und Beatrice schlug die Liebe bei ihnen ein. Sie schenkten ihren Gästen denn auch gleich die besten Marken ein und schätzten sie viel zu hoch, als daß sie ihnen zumuteten, Reste zu trinken. Hoch am Büffet prankte ein schöngerahmter Spruch:
»Ein echter deutscher Mann mag keinen Franzen leiden;
Doch ihre Weine trinkt er gern.«
Der französische Sekt kostete nämlich dreißig Mark, der deutsche nur fünfzehn; so war dem Wirt das Verständnis für Goethe aufgegangen. August Gutbier war gleich beim Betreten des Lokals als »Der schöne August« begrüßt worden, Gselchwampner als Kommerzienrat, Strippecke als Herr Doktor, und so jeder mit einem Kosenamen; aber die tiefste Inbrunst entzündete doch Richard Merseburg. Als Wirt, der das Lokal eines Kollegen besuchte, war er nach aller Wahrscheinlichkeit der Alleszahlende, und das erweckte in dem gewaltigen Busen der ihn bedienenden rotblonden Riesendame eine wahrhaft verzehrende Leidenschaft. Er hingegen feierte in Zdenka Krzcyvanek »das germanische Rasseweib«; aus seinem Innern aber schluchzte und aus seinen Augen weinte voll Eifersucht die Witwe Cliquot.