Henry Fielding
Die Geschichte des Tom Jones / Theil V
Henry Fielding

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Sechstes Kapitel.

Enthält eine Scene, welche ohne Zweifel alle unsere Leser rühren wird.

Jones schloß die ganze erste Hälfte der Nacht die Augen nicht, keineswegs in Folge einer Unruhe über das Ausbleiben der Lady Bellaston, auch nicht wegen Sophien, obgleich diese sonst gewöhnlich die Ursache war, wenn er nicht schlafen konnte. Der arme Jones war einer der besten Menschen auf Erden und besaß in hohem Grade die Schwäche, welche man Mitleiden nennt und die sehr verschieden von der edeln Geistesstärke ist, die den Menschen in den 29 Stand setzt, gleich einer polirten Kugel durch die Welt zu rollen, ohne irgend einmal durch das Unglück anderer aufgehalten zu werden. Er mußte deshalb gegen seinen Willen die Lage der armen Anna beklagen, deren Liebe zu dem Herrn Nightingale seiner Meinung nach so offenbar war, daß er sich über die Blindheit der Mutter wunderte, die am vorigen Abende mehr als einmal gegen ihn die große Veränderung in dem Temperamente ihrer Tochter erwähnt hatte, »die,« wie sie sagte, »aus dem lebenslustigsten heitersten Mädchen mit einem Male ganz betrübt und traurig geworden war.«

Der Schlaf überwältigte indeß zuletzt allen Widerstand; Jones schlief nun sogar bis elf Uhr am nächsten Morgen und würde vielleicht noch länger in derselben ruhigen Lage verblieben sein, hätte ihn nicht ein heftiger Lärm geweckt.

Partridge wurde gerufen, über die Sache befragt und erzählte, »es tobe unten ein entsetzlicher Sturm, Mamsell Anna liege in Krämpfen und ihre Schwester nebst der Mutter jammerten und weinten neben ihr.« Jones nahm viel Antheil an diesem Unfalle, Partridge aber suchte ihn zu beruhigen, indem er mit einem Lächeln hinzusetzte, er glaube nicht, daß das junge Mädchen sich in Todesgefahr befinde, denn Susanna (so hieß das Dienstmädchen) habe ihm zu verstehen gegeben, daß es etwas ganz Gewöhnliches sei. »Kurz,« sagte er, »Mamsell Anna wollte eben so klug sein wie ihre Mutter, das ist alles; sie war etwas hungrig und setzte sich an den Tisch, ehe das Tischgebet gesprochen war und so ist denn ein Kind für das Findelhaus angekommen.«

»Laß den dummen Spaß,« fiel Jones ein. »Ist das Elend der armen Leute ein Gegenstand des Scherzes? Geh sogleich zu Mad. Miller und sage ihr, ich ließe bitten, – doch warte, Du richtest es doch verkehrt aus; ich werde 30 selbst gehen, denn sie äußerte den Wunsch, ich möchte mit ihr frühstücken.« Er stand deshalb auf und kleidete sich so schnell als möglich an, während Partridge trotz manchen ernsten Vorwürfen fortfuhr, von Zeit zu Zeit sogenannte Späße über den Vorfall zu machen. Sobald Jones angekleidet war, ging er hinunter, klopfte an der Thüre an und wurde von dem Dienstmädchen sogleich in das erste Zimmer eingelassen, in dem sich aber Niemand befand. Mad. Miller war bei ihrer Tochter in dem andern Zimmer, aus welchem das Mädchen dem Herrn Jones die Antwort brachte, »er möge verzeihen, es sei aber ein Vorfall eingetreten, der es ihr unmöglich mache, diesen Tag ihn zum Frühstücke bei sich zu sehen; sie bitte zugleich um Verzeihung, daß sie ihn nicht früher davon benachrichtiget habe.« Jones ließ zurücksagen, »sie möge seinetwegen ganz unbesorgt sein, der Vorfall thue ihm herzlich leid und wenn er ihr in etwas dienen könne, möge sie nur befehlen.« Kaum hatte er diese Worte gesprochen, als Mad. Miller, die alles gehört, mit einem Male die Thüre aufmachte, zu ihm heraus kam und mit Thränen in den Augen sagte: »Ach, Herr Jones, Sie sind der beste Mensch. Ich danke Ihnen tausendmal für das freundliche dienstwillige Anerbieten, aber ach! es steht nicht in Ihrer Macht, mein armes Mädchen zu erhalten. Ach, mein Kind! mein Kind! Es ist um sie geschehen, sie ist für immer verloren!«

»Ich hoffe nicht, Madame, daß ein schlechter Mensch . . .« fiel Jones ein.

»Ach, Herr Jones!« entgegnete sie, »der schlechte Mensch, der gestern ausgezogen ist, hat mein armes Kind bethört und unglücklich gemacht. Ich weiß, Sie sind ein Mann von Ehre. Sie haben ein gutes, ein edles Herz, Herr Jones. Die Handlungen, von denen ich selbst Zeuge gewesen bin, konnten von keinem andern ausgehen. Ich 31 will Ihnen alles sagen; es ist doch unmöglich nach dem, was geschehen ist, die Sache geheim zu halten. Dieser Nightingale, dieser schlechte Mensch, hat meine Tochter unglücklich gemacht. Sie ist – sie ist – ach! Herr Jones, meine Tochter ist schwanger von ihm und in diesem Zustande hat er sie verlassen. Da, da ist sein schändlicher Brief; lesen Sie ihn, Herr Jones und sagen Sie mir, ob es wohl noch einen zweiten solchen Unmenschen giebt.«

Der Brief war folgenden Inhaltes:

»Liebes Aennchen!

»Da mir es unmöglich war, Dir einen Umstand mitzutheilen, der, wie ich fürchte, für Dich eben so schrecklich sein wird, als er es für mich gewesen ist, so benutze ich diesen Weg, um Dir zu sagen, daß mein Vater verlangt, ich möge mich sogleich um eine junge vermögende Dame bewerben, die er mir zur Frau bestimmt hat – kaum kann ich das verhaßte Wort niederschreiben. Du wirst recht gut einsehen, wie sehr ich zum Gehorsam genöthiget bin, der mich freilich leider für immer aus Deinen theuern Armen reißen wird. Die Zärtlichkeit Deiner Mutter möge Dir den Muth geben, sie mit den unglücklichen Folgen unserer Liebe bekannt zu machen, die leicht vor der Welt werden geheim gehalten werden können und für die ich sorgen werde wie für Dich selbst. Ich wünsche, Du mögest darüber weniger leiden als ich gelitten habe; nimm alle Deine Festigkeit zu Hülfe und vergieb dem Manne, vergiß ihn, den nichts als die Aussicht auf sicheres Unglück zwingen konnte, diesen Brief zu schreiben. Ich bitte Dich, vergiß mich, ich meine als Geliebten, denn den besten Freund wirst Du immer finden in

Deinem getreuen aber unglücklichen
J. N.«
       

32 Als Jones diesen Brief gelesen hatte, standen sie beide eine Minute lang schweigend da und sahen einander an. Endlich sprach er: »Ich kann Ihnen nicht sagen, Madame, wie sehr mich das, was ich gelesen, verletzt hat, doch muß ich Sie bitten, in einem Umstande dem Rathe des Schreibers zu folgen. Bedenken Sie den Ruf Ihrer Tochter.«

»Er ist dahin, verloren, Herr Jones,« entgegnete sie, »wie ihre Unschuld. Sie erhielt den Brief in einer zahlreichen Gesellschaft, fiel, als sie ihn gelesen hatte, sogleich in Ohnmacht und der Inhalt wurde allen Anwesende bekannt. Der Verlust ihres Rufes ist nun zwar schlimm, aber doch nicht das Schlimmste; ich werde mein Kind verlieren; sie hat bereits zweimal versucht, sich selbst das Leben zu nehmen und ob sie gleich bis jetzt daran gehindert worden ist, so schwört sie doch, nicht länger zu leben. Ich selbst würde ein solches Unglück nicht zu überleben vermögen. Und was wird aus meiner kleinen Betty werden? eine arme hilflose Waise! Dem armen kleinen Dinge wird das Herz brechen bei der Noth, in welcher sie ihre Schwester und mich versunken sieht, während sie die Ursache nicht kennt. Ach, sie ist das zartfühlendste Wesen mit dem besten Herzen! Der Grausame hat uns Alle unglücklich gemacht. Ach, meine armen Kinder! Ist dies der Lohn für alle meine Sorgen? Ist dies die Frucht aller meiner Hoffnungen? Habe ich mich mit so vieler Liebe allen Mühen und Pflichten einer Mutter unterzogen; habe ich so zärtlich ihre Kindheit gepflegt, so bedächtig für ihre Erziehung gesorgt, habe ich so viele Jahre mich geplagt, mir alle Annehmlichkeiten des Lebens versagt, um es ihnen an nichts fehlen zu lassen, daß ich eine oder beide auf diese Weise verlieren soll?«

»Ich bedaure Sie wirklich von ganzem Herzen,« entgegnete Jones mit Thränen in den Augen.

33 »Ach, Herr Jones,« antwortete sie, »ob ich gleich weiß, ein wie gutes Herz Sie haben, so können Sie sich doch keine Vorstellung machen von dem, was ich fühle. Das beste, liebevollste, pflichtgetreueste der Kinder! Ach, mein armes Annchen, Liebling meines Herzens! Freude meiner Augen, Stolz meiner Seele! zu sehr mein Stolz, denn jenen thörichten, ehrgeizigen Hoffnungen, die ich auf ihre Schönheit bauete, muß ich ihr Unglück zuschreiben. Ach, ich sah mit Freuden, wie sie diesem jungen Manne wohlgefiel; ich hielt es für eine ehrenhafte Zuneigung und schmeichelte meiner thörichten Eitelkeit mit dem Gedanken, sie einmal mit Einem verheirathet zu sehen, der so sehr über ihr stehe. Tausendmal hat er in meiner, selbst in Ihrer Gegenwart diese Hoffnung durch die edelsten Ausdrücke uneigennütziger Liebe begünstiget und ermuthiget, die er immer an mein armes Mädchen richtete und die ich gleich ihr für aufrichtig hielt. Konnte ich glauben, daß sie alle nur Schlingen waren, die Unschuld meines Kindes zu verderben und uns Alle in das Unglück zu stürzen?«

Bei diesen Worten kam die kleine Betty weinend in das Zimmer und rief: »Ach, liebe Mutter, um Gotteswillen komm zu meiner Schwester; sie hat wieder einen Anfall bekommen und die Cousine kann sie nicht erhalten.«

Mad. Miller folgte sogleich der Aufforderung, befahl aber erst dem Mädchen, bei dem Herrn Jones zu bleiben und ersuchte diesen, sie einige Minuten aufzuhalten, indem sie in höchst pathetischem Tone sprach: »gütiger Himmel, erhalte mir wenigstens Eines meiner Kinder!«

Jones that in Folge dieser Aufforderung alles, was er vermochte, um das Mädchen zu beruhigen, ob ihn gleich selbst die Erzählung der Mad. Miller tief erschüttert hatte. Er sagte ihr, »ihre Schwester würde sich bald wieder wohl 34 befinden, wenn sie aber so fort weine, werde sie nicht blos ihre Schwester noch kränker, sondern auch ihre Mutter krank machen.«

»Um Alles in der Welt möchte ich ihnen nicht weh thun,« antwortete sie. »Lieber mag mein Herz brechen, als daß sie mich weinen sehen sollen. Aber meine arme Schwester sieht es nicht, wenn ich weine, vielleicht, ach Gott! sieht sie es nie wieder. Aber ich kann mich nicht von ihr trennen, ich kann es nicht. Und was soll dann aus der armen Mutter werden? Sie sagt, sie würde auch sterben und mich allein zurück lassen, aber ich werde nicht allein zurückbleiben.«

»Fürchtest Du Dich nicht vor dem Sterben, liebe Betty?« fragte Jones.

»O ja,« antwortete sie, »ich habe mich immer vor dem Sterben gefürchtet, weil ich die Mutter und die Schwester hätte verlassen müssen; aber ich fürchte mich nicht, mit denen, welche ich liebe, irgend wohin zu gehen.«

Dem Herrn Jones gefiel diese Antwort so, daß er das Kind küßte. Bald darauf kam Mad. Miller zurück und sagte, sie danke Gott, Aennchen sei wieder zu sich gekommen. »Nun,« setzte sie zu Betty hinzu, »kannst Du wieder hinein gehen, denn Deine Schwester befindet sich wohler und verlangt nach Dir.« Sie wendete sich dann von neuem an Herrn Jones und erneuerte ihre Entschuldigungen wegen des gestörten Frühstücks.

»Ich hoffe, Madame,« antwortete Jones, »einen vortrefflichern Genuß zu haben, als Sie mir hätten bereiten können und dies wird der Fall sein, wenn ich dieser kleinen Familie, die ich liebe, einen Dienst erweisen kann. Welchen Erfolg auch meine Versuche haben mögen, ich bin entschlossen, sie zu wagen. Ich müßte mich in Herrn Nightingale sehr getäuscht haben, wenn er nicht, trotz dem, was geschehen 35 ist, im Grunde ein gutes Herz besäße und Ihre Tochter innig liebte. Ist dies der Fall, so wird, glaube ich, die Schilderung, die ich ihm zu entwerfen gedenke, ihn rühren. Versuchen Sie, sich selbst und Aennchen zu beruhigen so gut es geht. Sogleich werde ich Herrn Nightingale aufsuchen und ich hoffe, Ihnen gute Nachrichten zu bringen.«

Mad. Miller fiel auf ihre Knie und rief allen Segen des Himmels auf Herrn Jones herab, wozu sie später in den leidenschaftlichsten Ausdrücken ihren Dank gesellte. Er ging darauf fort, um Herrn Nightingale zu suchen und die gute Frau begab sich zu ihrer Tochter, die nach dem, was sie ihr sagte, etwas ruhiger wurde. Beide rühmten einstimmig die Güte des Herrn Jones.


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