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Dem Zeitpunkt der Veröffentlichung nach erscheint dieser V. Band, mit dem die Reihe der Sudanarbeiten der Atlantisausgabe anhebt, nachdem die übrigen (VI-IX) schon vorliegen, also als letzter. Er stellt gewissermaßen das Vorwort dar, das ja der Autor immer zuletzt schreibt und der Leser zuerst lesen soll.
Mit den nun vollständig vorliegenden Sudanbänden will ich nämlich den Versuch unternommen haben, ein wenn auch nur skizzenhaftes, so doch umfassendes Bild der Volksdichtung und des ihm zugrunde liegenden Geistes- und Volkslebens dieses prachtvollen Stückes Erde zu bieten. Und da jeder einzelne Band die Materie von einer andern Seite aus behandelt, so schien es geboten, den Ablauf des Ganzen abzuwarten, uns hier im Beginn dann die Hauptgesichtspunkte darzulegen, die nunmehr das Ganze für den Autor rückwärts, für den Leser in Zukunft vorwärts beleuchten.
Das Kulturleben des Sudan bedeutet die Höhe afrikanischen Völkerlebens. Das will nicht nur etwa besagen, daß die afrikanischen Kulturen hier ihre schönsten Blüten gezeitigt haben – denn man wird einst finden, daß auch Altägypten aus sudanischem Wesen emporsteigt! – sondern es soll damit gesagt sein, daß hier auch die verschiedenartigsten Kulturpflanzen nebeneinander gediehen und Früchte trugen.
Man vergegenwärtige sich: Die Kaschländer und Abessinien im Osten (Bd. IV der Atlantisausgabe), die Tschadsee-Haussavölker der Mitte (IX), die Nigerstaaten (VII), die Mande (VI und VIII) – und dies nur als Auslese. Wer neben diesen Volksdichtungen nun auch noch die Architektur (vgl. L. F. »Das unbekannte Afrika« 1921) in Augenschein nimmt, wird gewahr, daß diese Summe sudanischer Bildungen eine so enorme ist, wie sie nur ein für Kulturgedeihen außerordentlich fruchtbares Land hervorbringen kann.
Diese Tatsache ist um so bemerkenswerter, als wir wissen, welche hohe Bedeutung für kulturelle Befruchtung Küstengebiete besitzen, denen Kulturzentren gegenüberliegen, und weil der Sudan eigentlich mit schmaler Stirn am roten Meer einem regeren Kulturleben gegenüberliegt. Seiner ganzen Ausdehnung nach ist der Sudan von Norden benachbart einer Wüste, der Sahara, nach Süden aber den heute allerdings schon stark gelichteten Urwaldgebieten. Mit der üblichen Ableitung alles Höheren und Reicheren im Volksleben vom benachbarten »Schöpferischen« ist also für den Sudan, soweit die heutigen Verhältnisse in Betracht gezogen werden, wenig Aufklärung zu schaffen. Ganz besonders, nachdem die Theorie von dem Ursprung aller höheren Kultur Afrikas aus arabischem Born, nach Marquardts und meinen Arbeiten, hinfällig geworden ist.
Die sudanische Welt ist aus den heutigen Zuständen nur in ihrer Erhaltung, nicht aber in ihrem Keimreichtum zu verstehen. –
Eine Umschau unter den Kulturgütern des Sudan bietet Aufklärung. Die sudanischen Staaten von Abessinien bis zur Senegalmündung sind sämtlich aus alten Einrichtungen entstanden. Jeder Staat zerfiel vordem in vier nach den Himmelsrichtungen gelegenen Provinzen. An der Spitze jeder dieser vier Länder stand ein Erzbeamter. Diese vier Erzbeamten waren die Verwalter der Macht, die den König erwählten, erhoben und sein Leben bedingten (vgl. Atlas Africanus Heft 2, Blatt 7). Das ist eine Form, die wir zurückverfolgen können bis in die mythologische Hochkultur des pazifischen und kaschitischen Beckens. Die afrikanischen Formen weisen ein Alter von mehreren tausend Jahren auf. Diesen Staatseinrichtungen schließen sich unzählige Kulturgebräuche, Begräbnisformen und Rechtssitten, ja ganze Weltanschauungen an, die gleiches Alter beanspruchen können. Bis in die Architektur und die Kleidung hinein reichen klare Symptome vorchristlicher Beziehungen zum Mittelmeer und zum indischen Ozean.
Aus alledem ergibt sich, daß Afrika und vor allem der Sudan, nicht immer in der Abgeschlossenheit dagelegen hat, in der ihn die Entdeckungsgeschichte des vorigen Jahrhunderts vorfand, und daß die Araber als Kulturträger im besten Falle Epigonen der ptolemäischen Zeit genannt werden können – was aber ihrerseits auch nur ein spätes und ziemlich kümmerliches Wiederaufnehmen schon einmal verlorengegangener Kulturbeziehungen bedeutet.
Also daß wir sagen können: Der höhere Kulturreichtum des Sudan stammt aus einer verflossenen Periode, in der die Sahara noch leichter zugänglich, der Wasserreichtum auch des Sudan noch ein größerer und die Verschiedenheit der einzelnen Kulturniveaus noch eine leichter überbrückbare war.
Die sudanischen Kulturen sind also im wesentlichen noch Nachkommen und Verwandte jenes vorchristlichen Westasiens und des Mittelmeeres – lebendige Geschwister jener, die im Strudel der aktiven und historischen Weltentwicklung bis ins hundertste Glied variierten und sich bis zur Unkenntlichkeit abwandelten. »Abwandelten« in ständiger Berührung untereinander, während jene sudanischen Kulturen, geschützt durch die Sahara und die Verschiebung des Kulturäquators in die Nordländer, sich selbst überlassen blieben und – eben afrikanisch-sudanisch wurden.
Mit diesem Hinweis auf die Samen- und Keimbeziehungen mag es sein Bewenden haben. Solches brauchte hier nur gestreift zu werden. Das aber, was Sudanischsein und -werden heißt, dem Verständnis näherzubringen, ist die Aufgabe des vorliegenden Bandes. Und da sei denn darauf hingewiesen, daß Afrika zwei urtümlich differenzierte Kulturkräfte besitzt, die zunächst räumlich getrennt walten, im Sturm der Volksverschiebungen aber in Berührung kommen und das Spiel der Varianten bedingen. Es sind die Urkräfte der äthiopischen Kultur, die in den großen Steppen endemisch ist, und der hamitischen Kultur, die in den die Steppe umlagernden Wüsten und Halbwüsten wirkt. Das Grundwesen der sudanischen Kultur ist äthiopisch, und deswegen muß zuerst versucht werden, diese »Natur« zu erklären. Sind wir mit ihr vertraut, dann wird es nicht schwer halten, den bunten Reigen der Formbildungen zu verstehen, der aus der Berührung mit hamitischem Lebensgeist erweckt wurde – den Zusammenhang des Ganzen und den Wechsel im Werden des einzelnen, der durch Erlebnis, Verständnis und Verbrauch bedingt ist.
Die reinste Erhaltung äthiopischer Natur bietet die Gruppe der Tiefsudaner, den stärksten Einfluß hamitischen Wesens die des Hochsudaners. Tiefsudaner und Hochsudaner leben bunt durcheinander. Das ist es, was es den ersten Erforschern so schwer machte, das Grundlegende dieser sudanischen Welt zu erfassen. Die Hochsudaner haben Städte, große Städte bis über 200 000 Einwohner. Prunkende Fürstenhöfe! Reiterscharen! Wallende Kleider! Sie haben reiche Industrien und pflegen weitausgedehnten Handel. Vor ihren Toren wohnen die oft ganz, zuweilen halbnackten Tiefsudaner, kaum in Dörfern, meist in schlichten Gehöften. Es sind Bauern, gottesfürchtig und treu. Der Unterschied zwischen den beiden Arten ist so groß, daß der Fremde ihn für unüberbrückbar halten könnte, und doch genügt ein unglücklicher Krieg, eine Verwüstung auf der einen oder andern Seite, um innerhalb einiger Jahre die Rollen zu vertauschen. Beispiele hierfür gibt es in den Quorraländern (vgl. Bd. IX) ebensogut wie in den Mandegebieten. – Und daraus ist dann zu ersehen, daß nur die Kulturträger wechseln, nicht aber die Kultur selbst, daß das äthiopische immanent mit dem Boden verbunden ist – daß die Tiefsudaner zu Hochsudanern aufsteigend an eigenem Gewicht verlieren, wenn sie sich hamitischen Maßen anpassen wollen.
Hamitische Kultur nämlich ist ausgezeichnet durch Ausdehnung, Erfüllung des Raumes, Abgeschlossenheit nach außen, Gestaltungsfähigkeit, Tatsachensinn – äthiopische aber durch Verdichtung, Abgeschlossenheit nach innen, Wirklichkeitssinn und Erleben des Metaphysischen. Da allen Sudanern der äthiopische Sinn für das Metaphysische zu eigen ist, mußte mit dem aus dem Syrtengebiet eingedrungenen Ritterepos ein ideales Streben zur Tat einsetzen, letzten Endes dann im engeren Raum aber ein gemütliches, trinklustiges Großdörflertum entstehen. Das ist der Weg vom großen Epos bis in die Dorfgeschichten der Tommo-Habbe, wie beides im VI. Bande Belege gefunden hat. Oder aber: im Orientalen Kordofan unter hamitischem Druck sproßt das orientalische Märchen (Bd. IV), in den Haussaländern (Bd. IX) und bei den Mande (Bd. VIII) verschlichtet es sich. Und umgekehrt steigert sich der Sinn für das Dämonische bis zum Erstaunlichen und bis in die große Dichtung (Bd. VII). Welche Umbildungslinien aber unter solchem Wechselspiel allen Seiten des Lebens zwangsmäßig vorgeschrieben sind, das wird in dem kurzen Kapitel 12 dieses Bandes dargelegt und im 13. bis 19. des näheren belegt werden. Wer aber einen letzten ganz tiefen Einblick in diese immer wieder bis ins Mystische strebende metaphysische Entelechie der äthiopischen Urnatur der sudanischen Kulturwelt gewinnen will, der beobachte, welche Macht der aus atlantischem Geist in das weite Steppenland des Sudan hineingeschleuderte Zauber des Maskenwesens und der Geheimbundidee gewonnen hat – auch in den Gebieten des vorherrschenden Sudan.
Das ist die große äthiopische Seele des Sudan:
Diese Seele, die erlebt, aber aus Eigenem nie gestaltet.
Diese Seele, die alles Gestaltete dem Erlebnis überliefert.
Diese Seele, die, frei vom Raumempfinden, auch das Zeitgefühl zur Einheit zusammenfaßt.
Diese Seele, die aus ewiger, unerfüllbarer Sehnsucht im Weitengefühl dem Raum immer wieder unterliegt und mit Verdichtung des Zeitgefühles imstande ist, die unermeßliche Ewigkeit in der Einheit des Lebens zu erfassen.