Gustaf af Geijerstam
Alte Briefe
Gustaf af Geijerstam

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17

Wie lange ich so in meine Gedanken versunken dasaß, weiß ich nicht. Ich weiß nur, daß, als ich wieder zu mir kam, meine ganze Überreiztheit verschwunden war, und ich ein Gefühl der Befreiung und Erleichterung empfand, als hätte etwas in meinem ganzen Dasein plötzlich und unvorbereitet seine Farbe verändert. Gleichzeitig hatte ich die Empfindung, als arbeitete sich etwas Fremdes und Neues, zugleich Kühlendes und Starkes in mir hervor. Ich hatte das wunderliche Gefühl, vor einem neuen Abschnitt meines Lebens zu stehen, und dieses Gefühl hatte nicht den Charakter eines entscheidenden Entschlusses – es war überhaupt nicht etwas, das ich selbst tun konnte, oder zu tun brauchte – sondern es war von dem dunklen Bewußtsein erfüllt, daß in einer für mich unfaßbaren Art eine Wendung meines ganzen Schicksals eingetreten war.

Ich hatte erwartet, daß ich nachträglich Verbitterung gegen den Mann fühlen würde, dem ich so rückhaltloses Vertrauen geschenkt hatte, und gleichzeitig saß ich da und wartete, daß meine alte Furcht wiederkehre. Doch nichts von alledem traf ein. Es bemächtigte sich meiner im Gegenteil eine wunderbare Ruhe. Alle Gegenstände rings um mich zeigten sich in bestimmten sicheren Konturen, sie nahmen ein Aussehen an, das mir in unbeschreiblich wohltuender Art natürlicher schien, als es einen ganzen Monat hindurch der Fall gewesen war. Ich saß in der Dämmerung, aber sah meine Welt klarer, als seit lange bei Tageslicht; ich merkte, daß ich mich nach dem vollen Tageslicht sehnte, das ich bis jetzt nicht hatte ertragen können; in meinem Ohr erklang es wie ein mildes Echo der Worte, die ich eben mit einem unbeschreiblich tiefen Wohllaut über meinem Haupte hatte aussprechen hören – ›armer Freund‹ – und in meiner Seele stieg wie eine warme Woge das Gefühl der Dankbarkeit gegen den Mann auf, der sie ausgesprochen.

Plötzlich kam mir die Idee, daß ich hinaussehen wollte. Und von dem Verlangen erfaßt, etwas anderes zu sehen, als die vier Wände meines Zimmers, zog ich die Gardine auf und bemerkte, daß es Vollmond war. Es wunderte mich, daß ich an den vorhergehenden Abenden nicht darauf geachtet hatte, obgleich der Mond damals natürlich ebenso klar wie jetzt geleuchtet hatte, während ich in meiner Erregung umhergestreift war, mich in die Schale meiner eigenen Bitterkeit verschließend. Etwas hatte diese Schale gesprengt, so daß ich wieder um mich blicken konnte, und mit einem beinahe neugierigen Verlangen, zu sehen, stand ich am Fenster und starrte über die Ebene.

Als hätte ich entdeckt, daß in meiner Nähe ein Freund war, der mir unerschöpfliche Schätze von Güte und Frieden bieten konnte, aber den ich lange vernachlässigt hatte, betrachtete ich diese Ebene, die sich so wunderbar weit in dem bleichen Mailicht des Mondes hinstreckte. Ein leichter Nebel stieg auf, kaum eine Elle vom Boden entfernt, wie ein weicher Flor lag er über dem kurzen Gras, hell, unendlich hell wirkte diese ganze Fläche, so daß selbst der dunkle Wald einen Widerschein ihres Glanzes annahm, weich, gemildert, beinahe licht wurde, auch er. Und über diesem ganzen Bilde ruhte der bleiche, klare Himmel, der sein Licht dieser strahlenden Erde zu entlehnen schien, deren Fläche er am Horizont berührte.

Vergeblich suche ich den wunderbaren Eindruck zu beschreiben, den der Anblick dieses Bildes in mir hervorrief, mir, der ich so lange vergessen hatte, daß etwas außerhalb meines gequälten Daseins existierte. Ich stand da, bis ich eins mit dieser Natur zu werden vermeinte, mit ihr zu verschmelzen glaubte, so wie der Strom im Meer verschwindet. Und als ich aus meinen Träumen erwachte, ging ich ganz sachte zum Schreibtisch und nahm ein Bündel Briefe hervor, die ich, nach und nach, auf Reisen, unter Wochen der Trennung erhalten, aber seither nie durchgelesen hatte. Es waren Gertruds Briefe, und sie lagen geordnet in meiner Lade, mit einem Band umwunden. Meine Frau hatte es einmal für mich gemacht. Selbst hatte ich nie daran gedacht, und es fiel mir in diesem Augenblick ein, daß sie, als es geschah, mir meine Achtlosigkeit vorgeworfen hatte.

Es kam mir jetzt vor, als hätte sie vielleicht mehr gemeint, als sie sagte, und ich glaubte noch ihren Blick sehen zu können, der etwas wie eine getäuschte Hoffnung ausdrückte, als sie zuerst entdeckte, daß ihre Briefe ungeordnet in meiner Lade lagen, vermischt mit meiner übrigen Korrespondenz. Ich saß und drehte das kleine Päckchen Briefe zwischen meinen Händen hin und her, aber ich grübelte nicht darüber nach, was mich gerade jetzt veranlaßt haben mochte, sie aus dem Versteck hervorzuholen, wo sie so lange ungelesen und vergessen gelegen hatten. Es erschien mir nur ganz selbstverständlich, daß ich sie gerade jetzt las, und daß sie mir vielleicht etwas sagen würden, was ich nicht gewußt hatte. Ich nahm sie einen nach dem anderen hervor, und ich fand, daß sie alle dalagen – in chronologischer Ordnung – von den ersten Brautbriefen mit ihrer kindlichen, unsicheren Handschrift bis zu den Briefen des letzten Jahres, als ich sie wegen einer Geschäftsreise eine Woche allein gelassen hatte. Das war ganz kurz bevor sie starb. Und ich sah an diesen Kuverts, wie sich ihre Handschrift mit den Jahren verändert hatte. Zum ersten Male merkte ich, daß sie einen Zug meiner eigenen aufwies.

Ich merkte dies mit einem Gefühl, das mir in unbeschreiblicher Weise wehe tat, und ich war gerade im Begriff, die Briefe wieder wegzulegen, als mein Blick auf ein dickes Kuvert ohne Poststempel oder Überschrift fiel. Es lag zu unterst in dem Päckchen und schien mit Absicht hingelegt zu sein. Wenigstens durchflog mich dieser Gedanke, und mit einem Gefühle plötzlichen Entsetzens betrachtete ich dieses weiße Kuvert, dessen Inhalt ich nicht kannte.

Nachdem ich es erbrochen, fand ich, daß es einen Brief enthielt, und daß dieser Brief an mich war. Er war gerade aus der Woche datiert, in der ich sie das letzte Mal allein gelassen, und das Kuvert barg außer dem Briefe, den ich nicht zu lesen wagte, eine Haarlocke und ein Porträt, das offenbar in ihrer allerletzten Lebenszeit aufgenommen war.

Diese beiden Gegenstände erfüllten mich mit der unbeschreiblichsten Empfindung. Sie wollte noch einmal zu mir sprechen, sie wollte, daß ich ihrer gedachte. Sie hatte also gewußt und doch nicht gewußt, gesprochen und geschwiegen, mir gedankt im Augenblick des Todes und dennoch gelitten, bevor sie starb.

Ich griff bebend nach dem Brief, den ich nicht zu lesen wagte und doch lesen mußte, und in krampfhaftem Schmerz las ich ihn von der ersten Zeile bis zur letzten.

 


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