Gustaf af Geijerstam
Alte Briefe
Gustaf af Geijerstam

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9

Jeden Morgen, wenn ich mich allein glaube, gehe ich zu meinem Schreibtisch, nehme meinen Kalender vor und mache mit einem Bleistift einen Strich über den Tag, der vergangen ist. Ich habe jedesmal das Gefühl, als atmete ich erleichtert auf, und zu gleicher Zeit starre ich mit Verzweiflung vorwärts und grüble über die vielen Namen und Ziffern nach, die nacheinander Seite für Seite füllen und noch unberührt dastehen, so als bedrohten sie mich mit dem unbekannten Schicksal, das sie in ihrem Schoß bergen. Wie oft bin ich nicht in den Sommern, die vergangen sind, so gesessen. Da strich ich auch den Tag, der verflossen war, durch, und mit Wehmut sah ich, wie immer weniger und weniger Tage übrig waren, bis der Tag kam, an dem ich die Türe unseres stillen Sommerheims schließen, in die große Stadt zurückkehren und nicht mehr mit den Kindern und Pierre allein sein sollte. Jetzt bebe ich vor Sehnsucht, daß die grauen Striche so zahlreich als nur möglich werden. Ich fühle Fieber im Blute, und ich werde mit jedem Tage, der vergeht, immer unruhiger. Es ist, als ob jeder Morgen, an dem ich mit dem Gedanken: »Noch ist nichts geschehen«, erwache, das Entsetzen verstärkte, das die folgenden Tage bergen, und ich vergesse nie, die Tage zu zählen, die ich noch nicht gesehen habe.

Ich sitze da und betrachte die Blätter in meinem Kalender, und ich glaube, daß die kleinen gedruckten Typen auf diesen weißen Seiten in unsichtbaren Zeichen die wichtigsten unbeschriebenen Seiten im Buche meines Lebens enthalten. Ich meine, daß wenn ich es nur wagte, sie zu fragen, sie mir antworten könnten, mir sagen, was geschehen wird, und ich brenne vor Verlangen, diese Blätter abzureißen, sie aus meinem Leben auszulöschen. Es scheint mir, als könnte kein Glück größer sein, als wenn ich einschlummern könnte und nicht früher erwachen, als bis eine milde Hand mir wieder dies Buch vor die Augen hielte und mir zeigte, daß überall, wo die Seiten jetzt blank sind, nur kurze graue Striche wären, die mir sagten, daß alles vorbei sei.

Wie ich da sitze, fühle ich, daß Pierre hinter mir steht. Ich habe seine Schritte nicht gehört, aber ich weiß, daß er da steht, und ich drehe mich nicht um, als ich seine Hand auf meiner Schulter ruhen fühle. Er beugt sich vor und blickt in das Buch, das ich offen halte.

»Was tust du?« sagt er. »Sitzest du da und träumst?«

Ich habe solche Angst, daß er weiter fragen könnte, daß ich gar nicht denken kann. Ich lehne den Kopf an seinen Arm und sage:

»Ich sitze und sehe nach, wie lange es dauert, bis ich wieder mit dir allein sein kann.«

Aber im selben Augenblick wird es mir bewußt, daß ich zu viel gesagt habe. Ich fühle, wie ich bei meinen eigenen Worten erblasse, und einen Augenblick wird es mir schwarz vor den Augen. Im selben Moment sehe ich auf und begegne Pierres Blick. Ich will sehen, was er denkt, sehen, ob er mich durchschaut hat. Um jeden Preis muß ich wissen, ob er den verborgenen Sinn meiner Worte verstanden hat.

Da begegne ich seinem Blick und sehe, daß er zärtlich, tief und feucht ist. Es liegt ein glücklicher Glanz über seinem Antlitz, und er lächelt mir zu.

»Hast du mich so lieb?« sagt er.

Bei diesen Worten fühle ich, wie eine brennend heiße Röte der Scham meine Wangen und meinen Hals bedeckt, und ich senke meinen Blick vor dieser offenen Zärtlichkeit, die mein Glück und meine Qual ist. Er bedeckt mein Gesicht mit Küssen, gesteht, daß er eifersüchtig gewesen ist, daß auch er die Gäste weit weg wünscht, sagt mir, daß ich ihn durch meine Worte glücklich gemacht habe, und daß er sich nun seiner Kleinlichkeit und seines Egoismus schämt. Ich höre all dies an, ich erwidere seine Liebkosungen, fühle mich über alles emporgehoben, was mir unerträglich und dunkel erschien, und zugleich verbreitet sich über meinen ganzen Körper ein Gefühl der Kühle, die das Herz zusammenzieht, wie der Stich eines kalten, scharfen Eisens.

 


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