Gustaf af Geijerstam
Alte Briefe
Gustaf af Geijerstam

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Wie hätte ich mich weigern können, Pierres Anerbieten anzunehmen und die Einladung an Elsa und ihr Kind zu schreiben? Wie sollte ich ihm erklären, daß es mir keine Freude machte, diese Freundin zu sehen, von der er wußte, daß ich ihr innig zugetan war? Wie hätte alles anders sein können, als es war?

Ich tat, was ich mußte, weil nichts anderes für mich möglich war, und ich ging in dem fatalistischen Gefühl umher, daß rings um mich das Leben seinen gewohnten Gang ging, während sich mein eigenes Schicksal still und sicher zu Untergang und Vernichtung entwickelte. Es war mir, als wenn alles, was geschah, mich in irgend einer wunderlichen Weise anginge, um meinetwillen geschähe, mit meiner Person und meinem Schicksal verknüpft wäre. Aber als ich meinen Brief abgesandt hatte, bemächtigte sich meiner die phantastische Vorstellung, daß dies überhaupt nicht geschehen konnte. Etwas so Furchtbares konnte nicht eintreffen, wie daß ich Tag für Tag, Woche für Woche bei Pierre und meinen Kindern umhergehen und meinen Knaben unter ihnen sehen sollte, meinen Knaben, den ich vergessen, den ich, wie mir schien, nie gesehen, nie gekannt hatte. Ich glaubte, daß ich geträumt hätte und daß dies nie, nie geschehen könnte. Elsa würde es verhindern, sie würde nicht zugeben, daß es geschah. Sie würde wissen, welche Leiden es mir zufügen mußte, und mich schonen – obgleich ich ihr in meinem Brief gesagt hatte, daß es so sein müsse, daß Pierre es wollte, daß sie auf mich keine Rücksicht nehmen solle, und daß ich tapfer und munter sein würde, wie ein kleines Vogelweibchen, das sein Nest verteidigt. Ich ging tagelang umher und dachte daran, und es fiel mir nicht ein, daß eine einzige Zeile von mir – die Pierre nicht zu lesen brauchte – die ganze Sache zunichte gemacht haben würde. Es fiel mir erst eines Tages ein, als es schon zu spät war, und ich in meiner Hand Elsas Brief hielt, der mir sagte, daß sie kommen würden.

Pierre und ich lasen diesen Brief zusammen. Das heißt, ich übersetzte, und er hörte zu. Es stand kein Wort darin, das ich ihm nicht ganz so vorlesen konnte, wie es geschrieben stand. Darum hatte ich Elsa gebeten, weil es mir so qualvoll war, wenn ich Pierre das allergeringste verschweigen oder verbergen mußte. In dem Briefe stand: »Du solltest Erik jetzt sehen. Er ist so groß und tüchtig geworden. Er ist ganz außer sich vor Freude, weil er nach Frankreich kommen darf, und er grüßt Dich schon jetzt, obwohl er sich natürlich nicht daran erinnern kann, daß er Dich schon gesehen hat.« Wie oftmals hatte ich nicht früher derartige Mitteilungen vorgelesen! Wie oft hatte ich es nicht getan, ohne daß Pierre das Geringste gemerkt hatte! Ich hatte mich so sehr in den Gedanken eingelebt, daß diese Sache mein Geheimnis war, daß ich beinahe über das Gefühl, daß dies ein Betrug war, hinausgekommen zu sein meinte. Aber nun fühlte ich plötzlich, wie die Farbe aus meinen Wangen wich und meine Augen sich mit Tränen füllten. Ich saß da so voll Angst, daß Pierre etwas merken könnte, daß ich es nicht wagte aufzublicken. Ich versuchte weiterzulesen, aber die Stimme versagte mir, es wurde mir schwarz vor den Augen, ich war überzeugt, daß nun alle Hoffnung vorüber war und die Entdeckung kommen mußte. Ohne daß ich es hindern konnte, würde das Geheimnis meinen Lippen entgleiten, und dann . . . dann . . .

Aber nichts von all dem geschah. Sondern Pierre stand auf und sagte mit jener Stimme, die ich so wohl kannte – einem zärtlichen Tonfall, der kommt, wenn er so recht tief fühlt –: »Ich muß sehr egoistisch gewesen sein, wenn ich nicht früher gemerkt habe, wie sehr du dich gesehnt haben mußt, jemanden aus deinem eigenen Lande zu sehen.«

Er sah ein wenig grüblerisch aus, als er dies sagte, so als hätte er sich beinahe in dem Glauben enttäuscht gesehen, daß ich außer ihm niemanden brauchte, und er ließ mich bald allein. Wenn er mich damals geschlagen, mir die gröbsten Namen gegeben, mich beschimpft hätte – ich hätte mich nicht so unglücklich gefühlt wie jetzt, wo ich wußte, daß er sich meinethalben Vorwürfe machte.

Ein langer, langer Monat verging, bis Elsa kam. Sie kam erst im Juni, und in diesem Monat verließen wir Paris und zogen aufs Land. Das war sonst meine glücklichste Zeit im ganzen Jahre. Wir pflegten nämlich gerade dann hinauszuziehen, wenn der Salon vorüber war und alles in unserer Welt wieder anfing, sich in den gewohnten Geleisen zu bewegen. Die Skandinavier reisten heim, es wurde heiß in Paris, und nach all dem Lärm und der Unruhe kehrten wir in unser Heim am Ufer des kleinen Flüßchens zurück, das weich, ruhig, vornehm und lieblich zugleich durch die Landschaft fließt. Gerade Pappeln wachsen am Horizonte, der sich zu dem blauen Schleier verdichtet, den ich an den französischen Ebenen immer geliebt habe. Die Obstbäume blühten, Rosen und Mohn standen in Flor. Die Kinder wurden in den Garten gelassen, sie spielten frei auf Wiesen und Feldern, Pierre begann, draußen unter seinem großen weißen Sonnenschirm sitzend, zu malen, und ich selbst ging zwischen ihnen umher und freute mich über jede Stunde die ich lebte.

Dieses Mal fand ich nichts von all dem wieder. Das kleine Häuschen hatte ein kaltes, seltsames Aussehen, das mich erschreckte, und die Weinranken, die sich um die Veranda schlangen, die Bäume, die unsere Fenster beschatteten, der kleine Fluß, der zwischen den flachen Ufern dahinfloß, ja sogar die grünen Fluren, die Blumen, die herrlichen Rosen – alles schien mir verändert, verwandelt, eng und klein geworden. Das Ganze sammelte sich gleichsam in einem einzigen Eindruck, der mir die Kehle zusammenschnürte, wenn die rasche Dämmerung einfiel, es dunkel wurde und die Frösche im Sumpfe quakten. Früher hatte ich immer diese milden Sommernächte geliebt, in denen die Luft von Düften erfüllt war und es so still wurde, daß man sich selbst atmen hörte. Jetzt fürchtete ich sie wie etwas Grauenvolles, und ganze Tage konnte ich umhergehen und daran denken, wie gräßlich es war, daß der Abend mit seiner Dunkelheit kommen würde.

Und eines Abends, als die Sonne gerade im Begriff war unterzugehen, fuhren wir zu der kleinen Station, um unsere Gäste abzuholen. Ich hatte alle möglichen Finten angewandt, um Pierre dazu zu bringen, nicht mitzukommen. Aber es war mir nicht gelungen. Fröhlich, aufgeräumt und strahlend saß er neben mir in dem geräumigen Wagen und lächelte und scherzte über meine Sehnsucht, die ihn eifersüchtig machte. Er faßte meine Hand und behauptete, daß ich friere. Sie muß eiskalt gewesen sein, obgleich ich es nicht wußte. Denn er ließ sie los, sah bedenklich aus, berührte meine Wange und sagte, ich hätte Fieber. Ich erinnere mich, daß ich lächelte, daß ich ihm auf alles antwortete, was er sagte, ja daß ich sogar selbst Gesprächsthemen fand. Aber es kam mir vor, daß all dies sich abspielte, ohne daß ich selbst mit dabei war. Es schien mir, daß ich träumte, und unaufhörlich klang es mir in den Ohren: »Nun erwachst du bald. Nun erwachst du. Nun mußt du durchaus erwachen.«

Wir kamen zur Station, und ich stieg aus, auf Pierres Hand gestützt. Die ganze Zeit war ich erstaunt, ganz einfach erstaunt darüber, daß nichts Merkwürdiges eintraf. Das Gefühl, daß das Ganze eigentlich äußerst lächerlich war, überfiel mich so heftig, daß ich mir beinahe Gewalt antun mußte, um nicht hell aufzulachen. Da kam der Stationschef, klein und geschäftig, grüßte uns und stellte sich mit seiner Amtsmiene hin und wartete auf den Zug, während er hie und da ein paar nichtssagende Worte äußerte. Was wollte er eigentlich von mir? Was wollten alle Menschen von mir? Ich hätte alle Leute vom Perron entfernen wollen, wenn ich nur gekonnt hätte, und ich wunderte mich, daß niemand sah, wie drohend ich sie betrachtete. »Jetzt kommt der Zug,« sagte Pierre. Warum mußte er das auch sagen? Der Zug, ja der Zug. Wie eine Riesenschlange kam er und ringelte sich über die glatten Schienen. Wenn ich mich auf das Geleise würfe, gerade während das schwarze Ungeheuer an mir vorbeizischte! Dann wäre alles vorbei, dann würde alles in mir mit einem zerschmetternden Laute verstummen, so wie wenn man einen in einen Glassturz eingeschlossenen Fliegenschwarm dadurch zur Ruhe brächte, daß man das Glas zerschlüge. Ich dachte an das oder es wirbelte durch mein Hirn. Aber ich wußte zugleich, daß es Unsinn war, und daß ich es nie tun würde. Lächelnd, winkend, verzweifelt, meine eigenen Bewegungen zu sehen, das Mienenspiel in meinem eigenen Gesicht ebenso deutlich zu fühlen, als ob ich mich im Spiegel gesehen hätte, stand ich da und sah, wie die Wagen an mir vorbeiglitten – ohne daß ich mehr sehen konnte als ein einziges Fenster, in dem ich Elsas Gesicht entdeckte und neben ihr ein wunderndes, verlegenes Knabengesicht, das ich meines Wissens nie gesehen hatte.

Die Spannung ließ nicht eher nach, bis ich fühlte, wie Eriks kleine Hand die meine faßte und ein paar große blaue Augen den meinen begegneten. Da beugte ich mich hinab und wollte ihn küssen. Aber ich konnte es nicht. Ich wandte meine Lippen ab, streichelte ihm nur sanft die Wange und ließ ihn dann los, und indem ich meine Arme um Elsas Hals schlang, brach ich in ein Schluchzen aus, das ich nicht beherrschen konnte.

Als ich wieder ruhig wurde, sah ich die großen blauen Augen des Kindes, die mich staunend betrachteten.

 


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