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Als Romanowna abends mit Doktor Dimsdale und seiner Frau plaudernd zusammensaß, erschien der junge Fremde, der am vorhergehenden Tag sich so hülfreich erwiesen hatte. Er wurde Romanowna als ein Herr Lowitz, Sohn des berühmten Petersburger Astronomen Lowitz, vorgestellt. Er war mit seinem Vater auf Befehl der Kaiserin in diese Gegend gekommen, um zwischen Don und Wolga Vermessungen zu machen wegen eines dort anzulegenden Kanals. Sein Vater war in Dmitrijewsk beschäftigt, während er etwas weiter oberhalb das Terrain untersuchen mußte.
»Gestern,« so erzählte er, »war ich gerade an der Arbeit, als ich mehrere durchgegangene Pferde daherrasen sah; ich hatte das Glück, ihnen in die Zügel fallen zu können und merkte an der Koppel, daß sie sich losgerissen haben mußten; nachdem ich die Tiere festgebunden, beeilte ich mich, nach dem Gefährt zu sehen. Meine geringe Mühe wurde herrlich belohnt, denn ...«
»Ihr Erscheinen war mir sehr willkommen,« sagte Romanowna, ihn unterbrechend, »denn ich war sehr in Angst und fühlte mich so tief unglücklich, daß ich beinahe eifersüchtig auf die bewußtlose Milna war.«
»Wie geht es der Patientin?« fragte Herr Lowitz.
Doktor Dimsdale teilte ihm mit, daß sie wohl noch einige Tage das Bett hüten müsse, aber daß es ihm scheine, als ob sie doch weniger gelitten habe, als er erst geglaubt. »Diese Damen hatten die Absicht, sich nach Dmitrijewsk zu begeben,« fügte er hinzu.
»Wie gut,« sagte der junge Mann hastig, »daß dieser Plan durch einen allerdings sehr unglücklichen Umstand nicht ausgeführt werden kann, denn was hätten zwei so junge und schöne Mädchen nicht zu fürchten von der wüsten Herrschaft des grausamen Pugatscheff!«
Romanowna hob bei diesen Worten betroffen den Kopf in die Höhe und sah den jungen Mann zornig an; der Doktor suchte ihn durch einen Wink zum Schweigen zu bringen, aber Lowitz bemerkte weder das eine noch das andere und fuhr, zu Frau Dimsdale gewendet, fort:
»Ja, man erhält täglich neue Beweise von seiner grausamen und rohen Gemütsart. Nicht zufrieden mit der schändlichen Behandlung des Gouverneurs von Dmitrijewsk, hat er vor ein paar Tagen dessen Frau und Kinder, sowie die sämtlichen Hausgenossen einer Truppe Kosaken übergeben, damit diese sie nach Belieben mißhandelten und töteten, wobei er Augenzeuge war.«
»Scheußlich,« rief Frau Dimsdale, die Hände ringend.
»Er hat jetzt,« fuhr der junge Mann fort, »die Maske der Frömmigkeit, mit der er die Menschen solange getäuscht hat, ganz abgelegt und zeigt sich in seiner wahren Gestalt. Noch vor kurzem kniete das Volk vor ihm und ließ sich von ihm segnen. Einige behaupten, der alte Roskolniki habe ihn verdorben, aber mein Vater sagt, daß im Gegenteil er den Priester noch schlechter mache. Er nennt sich frecher Weise Peter III. und hat sogar Münzen mit seinem Bildnis prägen lassen. Sehen Sie, hier ist eine,« sagte er, während er Frau Dimsdale einen Silberrubel hinhielt.
Noch ehe diese das Geldstück genommen hatte, sank Romanowna mit einem lauten Schrei zu Boden. Sie hatte mit Abscheu und Spannung dem Gespräche, das in französischer Sprache geführt wurde, zugehört und jetzt, da sie merkte, daß man in einer solchen Weise über ihren Vater spreche, konnte sie kein Wort hervorbringen, sondern überließ sich ganz ihrem tiefen Schmerze.
Lowitz sprang auf, um ihr zu helfen, aber der Doktor wehrte ihm, nahm das bewußtlose junge Mädchen selbst in seine Arme und trug sie auf sein Zimmer.
Während er mit seiner Frau beschäftigt war, Romanowna wieder zu sich zu bringen, suchte Herr Lowitz vergeblich nach einem Grunde für das plötzliche Unwohlsein der Fremden; denn daß sie ein persönliches Interesse an seiner Erzählung haben könne, kam ihm gar nicht in den Sinn; aber als der Doktor nach einer Weile zurückkam und ihm erzählte, daß Romanowna Pugatscheffs Tochter sei, bedauerte er seine unvorsichtigen Worte von Herzen.
»Hätten Sie mir nur einen nachdrücklichen Wink gegeben, Doktor,« sagte er.
»Es war mir nicht möglich, das zu thun, ohne daß sie es merkte,« sagte der Doktor, »und nachträglich glaube ich, es ist besser für sie, sie gleich die ganze Wahrheit erfahren zu lassen, als sie langsam auf eine Nachricht vorzubereiten, die sie tief betrüben muß. Das arme Kind sprach heute morgen noch mit soviel Liebe und Verehrung von dem Elenden, daß ich kaum an mich halten konnte.«
»Aber wer ist sie denn eigentlich?« fragte Lowitz.
»Ja, das verstehe ich auch nicht recht. Sie ist am Hofe aufgewachsen und behauptet, daß die Kaiserin ihre Mutter und dieser Betrüger, der sich Zar nennt, ihr Vater ist; ich bin schon ganz wirr geworden durch das Grübeln, wie das möglich ist. Haben Sie in Petersburg nichts davon gehört?«
»Nein, aber ich bin sehr lange in Frankreich gewesen und deshalb gar nicht unterrichtet über alles, was sich in Petersburg ereignet hat. Ich werde meinen Vater einmal darnach fragen; aber, Doktor,« fuhr er fort, »wer ist denn das andere junge Mädchen?«
»Sie heißt Milna und ist eine Waise,« antwortete der Doktor, »sie scheint eine Freundin von Pugatscheffs Tochter zu sein.«
»Wird sie bald wieder hergestellt sein?« fragte Herr Lowitz zum zweitenmal mit großer Teilnahme.
»Ich hoffe und glaube es,« sagte der Doktor, »sie fühlt sich zwar noch schwach von dem erlittenen Blutverlust, im übrigen scheint ihr der Stoß nicht sehr viel geschadet zu haben.«
»Darf ich mich täglich nach dem Befinden Ihrer Patienten erkundigen?« fragte der junge Mann, aufstehend.
»Der Sohn meines Freundes Lowitz ist immer willkommen,« war die herzliche Antwort des Arztes, während er dem jungen Mann die Hand zum Abschied reichte.
»Sie schläft,« flüsterte Frau Dimsdale ihrem Manne zu, als dieser, nachdem er Lowitz hinausbegleitet hatte, noch einmal nach Romanowna sehen wollte.
»Gott sei Dank,« sagte der Doktor zu sich selbst und trat nicht ein. Seine Frau zündete ein Licht an, stellte etwas davor, damit dasselbe die Patienten nicht störe, legte noch allerhand Kleinigkeiten zurecht, die die Mädchen vielleicht nötig haben könnten, und verließ dann das Krankenzimmer.
Kaum hatte sich die Thüre hinter Frau Dimsdale geschlossen, als Romanowna aus dem Bett sprang. Sie hatte nicht geschlafen, wie ihre freundliche Wirtin meinte, sondern sich nur so gestellt, weil sie allein zu sein wünschte. Jedes Wort, das die gute Frau Dimsdale zu ihr sagte, that ihr weh und sie freute sich, als diese endlich, in der Meinung, sie schlafe, schwieg und war beinahe dankbar, als sie schließlich das Zimmer verließ, denn das Bett beengte sie, und sie glaubte am Tische freier atmen zu können.
»Ist es wahr?« fragte sie sich selbst in ängstlichem Ton. »Ist es wahr? wiederholte sie noch einmal und starrte in die Kerzenflamme, als wenn sie von dort eine Antwort erwarte.
»Ist es möglich? hat der junge Mann die Wahrheit gesprochen und ist er ... ist mein Vater ein? .. ein ... nein ... nein! ... es kann nicht sein. Vor kurzem hat er mir noch selbst gesagt, er beklage, daß so viele Menschenleben geopfert werden müßten. Aber der junge Mann sagte, er trage die Maske der Frömmigkeit. O Gott! ist es wahr?
»Wie tief unglücklich bin ich dann ... und er selbst! Seine Seele ist rettungslos verloren. Den Gouverneur aufgespießt und ich ... ich ... soll seinen Palast bewohnen. Ach nein! es ist nicht wahr ... und doch ... Der Fremde mit den klaren Augen sagte das alles. Was sagte er doch nur? Ich muß mich aller seiner Worte erinnern. Blutdürstig, grausam und scheinheilig, und ich glaubte ihn so groß und edel, so liebevoll und gottesfürchtig. O! wie furchtbar habe ich mich in meinem Vater getäuscht. Könnte ich nur an irgend einen Irrtum glauben, aber! ich muß fast annehmen, daß die schreckliche Kunde nur Wahrheit enthält, denn welch' sonderbaren Blick warf Doktor Dimsdale heute morgen auf mich, als er von meinem Vater sprach!
»Er wußte gewiß, daß ... O! welch' ein unbeschreibliches Gefühl des Alleinseins habe ich; es ist mir, als wenn ich ganz allein in eine große Wüste verzaubert wäre. Wie kann ich nach solch' einer Nachricht nur noch leben? jetzt, da ich weiß, daß er, um deswillen ich alles aufgab, ein Nichtswürdiger, ein blutdürstiger Tyrann ist, der ... o nein, ich mag die Worte gar nicht wiederholen, denn er liebt mich und ich ihn auch. Ach, ich will nicht hart gegen ihn sein, ich will lieber hingehen und ihn anflehen, ein anderes Leben anzufangen, sich ganz Gott zu weihen. Ich will suchen, durch meine Gebete seine Sünden gutzumachen.
»O, ich möchte wohl auf den Knieen liegen bleiben, und sollten auch meine Kniee, wie die des heiligen Athanasius, den kalten Marmor aushöhlen, wenn ich nur wüßte, daß ich damit die große Sündenschuld meines Vaters büßen könnte.
»Was wird Milna nur dazu sagen, wenn sie erfährt ... aber sie soll es gar nicht erfahren, ich will mein Leid im stillen tragen, bis ... wenn es aber vielleicht doch nicht wahr ist ...?«
In dieser Weise verbrachte die arme Romanowna den größten Teil der Nacht. Einmal war sie überzeugt, daß Lowitz die Wahrheit gesprochen habe, ein andermal glaubte sie, es sei alles nur Verleumdung, dann meinte sie, unter dem Eindruck eines beängstigenden Traumes zu stehen. Wenn sie sich den Abend des Festes von Zarsko-Selo wieder in die Erinnerung zurückrief, schien es ihr unmöglich, daß der Mann, den sie dort hatte kennen und lieben lernen, derselbe sei, von dem man jetzt so viel Böses erzählte.
Trockenen Auges starrte Romanowna in die Flamme, während sie immer abgespannter wurde, als ihr plötzlich die Worte des Pater Alexius einfielen:
»Leidet jemand unter Euch, der bete.«
Und sie knieete nieder und betete lange und inbrünstig für ihren Vater und für sich selbst, und nach dem Gebet wurde sie ruhiger und konnte sich wieder zu Bett legen, und wenn sie auch überzeugt war, daß sie nicht schlafen könne, blieb sie doch still liegen in dem Gedanken, daß sie ihre Gesundheit schonen müsse; endlich siegte die Ermüdung, und sie fiel in einen traumlosen, ruhigen Schlaf.
Als sie erwachte, stand Doktor Dimsdale an ihrem Bett. Romanowna sah ihn forschend an und hätte beinahe ihre Frage wiederholt: »Ist es wahr?« aber der Ausdruck seines Gesichts und die leise teilnehmende Frage: »Wie geht es Ihnen?« machten eine Frage überflüssig, denn sie begriff, daß sie nicht länger zweifeln dürfe.
»Der Schlaf hat mich erquickt,« antwortete Romanowna, »und ich glaube, daß ich jetzt Kraft genug habe, meine Pflicht zu thun.«
Der Doktor fragte sie nicht, was sie unter ihrer Pflicht verstehe, sondern sagte nur: »Die arme Milna ist schwer krank.«
»Sie schlief doch die Nacht so ruhig,« bemerkte Romanowna.
»Sie ist viel schwächer, als ich dachte und muß sehr sorgfältig behandelt werden. Ich verstehe den Zustand Ihrer Freundin nicht recht!« sagte der Doktor, als Romanowna nach einiger Zeit im Wohnzimmer erschien, »ihre Kräfte müssen schon vorher durch irgend etwas untergraben worden sein, denn ich meine, der Blutverlust allein könne sie nicht so schwach gemacht haben. Wissen Sie, ob sie viele Sorgen hat?«
Romanowna erzählte ihm von dem Tode von Milnas Vater. »Aber das,« sagte sie nachdenklich, »kann ihre Gesundheit nicht so erschüttert haben, denn sie hat mir selbst mehr als einmal gesagt, sie sei sehr froh, ihn noch einmal gesehen zu haben, aber sie betraure seinen Tod nicht, da er selbst sich kein längeres Leben gewünscht habe.«
»Könnte denn irgend etwas anderes ...«
»Doktor,« unterbrach ihn Romanowna lebhaft, »sollte Milna vielleicht etwas davon gehört haben, daß ... ich meine, könnte sie vielleicht etwas über meinen Vater gewußt haben?«
»Das ist nicht unmöglich,« sagte der Doktor. »Sprach sie mit Ihnen viel von ihm?«
»Nein,« antwortete das junge Mädchen; »in der letzten Zeit schien sie es sogar zu vermeiden, von ihm zu sprechen; denn ich erinnere mich, daß es mich befremdete, daß sie allerlei Vorwände brauchte, um unsere Abreise von Tatischtschewa noch hinauszuschieben, und daß sie, als ich fragte: ›Hast du kein Verlangen, meinen Vater wiederzusehen?‹ die Antwort gab: ›Wir leben hier so ruhig und gemütlich.‹«
»Das kann es wohl sein,« sagte der Doktor nach einigen Augenblicken ruhiger Überlegung; »sie wußte, daß die Nachricht Ihnen Kummer bereiten würde und that deshalb ihr Möglichstes, Sie nichts merken zu lassen.«
Diese Vermutung schien richtig zu sein; denn bald entschlüpften Milna in der Fieberhitze Worte, aus denen mit Sicherheit zu schließen war, daß ihr das Betragen von Romanownas Vater bekannt sei. Mehrere Tage lang war Milna in großer Gefahr; aber endlich gelang es dem Doktor Dimsdale doch, die Krankheit zum Stillstand zu bringen, und das junge Mädchen fing an, mit Hilfe der geeigneten Heilmittel und der aufopfernden Sorge ihrer beiden Pflegerinnen, Frau Dimsdales und Romanownas, sich langsam zu erholen. Aber so langsam, daß der Doktor häufig einen Rückfall fürchtete; und so war es Romanowna nicht möglich, Milna zu verlassen und ihren Vater aufzusuchen, wie dies zuerst ihre Absicht gewesen war.