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Siebenundzwanzigstes Kapitel.
Die Spinnschule

O wie herrlich, Milna, ich sehe das Tageslicht durch die Spalten der Läden schimmern,« rief Romanowna beim Erwachen aus. »Heute werde ich endlich meinen Vater sehen. Was habe ich ihn nicht alles zu fragen! Ja, ich will mit ihm überlegen, ob ich nicht zur Kaiserin gehen und um seine Freilassung bitten soll. Meine Mutter wird wohl meine Bitte gewähren; ich werde ihre Kniee fest umfassen und sie so lange anflehen, bis sie meinen Wunsch erfüllt. Meine Mutter,« wiederholte sie langsam und nachdenklich. »Ich hoffe auch, daß mein Vater mir erklärt, warum man behauptet, er sei nicht der Zar; Katharina ist doch meine Mutter und er doch mein Vater, das fühle ich. Es ist unmöglich, daß er nicht mein Vater ist.«

»Aber Milna, schläfst du denn wieder ein?« rief sie verwundert aus, als sie sich nach Milna umdrehte. »Heute werden wir meinen Vater wiedersehen.«

»Ich hoffe,« sagte Milna, »daß du die Erlaubnis dazu erhältst, aber ich fürchte ... ich habe nämlich gestern abend gehört ... aber es ist vielleicht nur müßiges Gerede, daß der Gefangene schon heute nach Moskau gebracht werden soll, weil man fürchtet, seine Anhänger könnten einen Aufstand erregen, um ihn zu befreien.«

»Gott im Himmel,« rief Romanowna erbleichend, »schon heute? Dann muß ich mich eilen, zu dem General zu kommen. Meinst du, ich könne allein hingehen, oder soll ich die alte Ottekesa mitnehmen?«

»Nein, ich bin gleich fertig,« antwortete Milna, »und gehe mit dir.«

Als die jungen Mädchen, nachdem sie gefrühstückt und eine sehr weitschweifige Erzählung Ottekesas über das Unglück des gestrigen Abends angehört hatten, im Vorzimmer des Generals Panin anlangten, bekamen sie die Antwort, der General sei vor zwölf Uhr nicht zu sprechen.

»Ach, welch' lange Zeit für mein ungeduldiges Verlangen,« rief Romanowna. »Freund,« wandte sie sich zu dem Diener, »thut mir den Gefallen und fragt den Grafen, ob er mir erlauben will, den Gefangenen Pugatscheff zu besuchen.«

Der Bediente sah Romanowna einen Augenblick an, als ob er sie für irrsinnig halte und sagte dann etwas lauter als vorher, weil er glaubte, sie habe ihn nicht verstanden: »Der Kommandant ist vor zwölf Uhr nicht zu sprechen.«

»Ja, das weiß ich schon,« sagte Romanowna, »aber,« fügte sie hinzu, »ich werde Euch königlich belohnen, wenn Ihr mir den Gefallen thut.«

»Ha! ha, ha!« lachte der Leibeigene. »Man hat nach seinem Tode nicht viel von königlichen Belohnungen.«

»Der General kennt mich, und ich werde ihm sagen, daß Ihr auf meine Bitte seinen Befehl übertreten habt,« sagte Romanowna dringend.

»Nicht so unüberlegt, meine Dame!« sagte der Leibeigene, »es wird wenig darnach gefragt werden, warum ich ungehorsam war, und man wird mich um einen Kopf kleiner machen, wenn ich den Befehl des Generals übertrete.«

»Aber der Fall ist so ganz besonders,« sagte Romanowna.

»Besonders oder nicht,« versetzte der Leibeigne »gestern noch ist einer meiner Kameraden aufgeknüpft worden, weil er eine Flasche Wein auf den verkehrten Platz stellte.«

»Gräßlich,« sagte Romanowna mit einer Gebärde des Abscheues; aber der Leibeigne lachte und schien das ganz natürlich zu finden, so sehr war er an die Willkür gewöhnt, mit der die Herren das Leben ihrer Leibeignen behandelten.

Da sie einsahen, daß sie nichts erreichen könnten, machten die Mädchen einen Gang durch die Stadt, ohne irgend eine andere Absicht als die, ihre Zeit totzuschlagen, wie man zu sagen pflegt. Schweigend, und beide in Gedanken vertieft, waren sie eine Weile gegangen, als sie auf einmal sonderbare Töne vernahmen.

»Was ist das?« fragte Romanowna.

»Ich weiß es nicht,« war die Antwort, »aber es scheint aus jenem Gebäude zu kommen, wir wollen einmal hineingehen und sehen, was es ist.«

Das Gitter, welches das steinerne Gebäude umgab, stand auf, und so befanden sie sich bald vor dem Haus, in dem sich ihnen durch die offenstehende Thüre ein sonderbarer Anblick bot.

Das Gebäude bestand nur aus einem geräumigen Saal mit getünchten Wänden, an denen junge Mädchen zwischen fünfzehn und zwanzig Jahren, jedes mit einem Spinnrad, saßen. In der Mitte des Saales befand sich eine hölzerne Bank, auf der Flachs lag. An dem oberen Ende des Saales war ein bequemer Sitzplatz für eine alte Frau aufgestellt, die in ihrer holländischen Tracht sich unter den russischen Mädchen sehr sonderbar ausnahm. Aber noch sonderbarer als ihre Kleidung war ihr Benehmen; sie saß, mit einer Brille auf der Nase, spähend da, und sobald sie eine der jugendlichen Spinnerinnen über einen abgerissenen Faden in Verlegenheit sah oder im Begriffe, sich umzugucken statt weiter zu arbeiten, lief sie, mit einer Peitsche in der Hand, auf dieselbe zu und schlug die ungeschickte oder faule Spinnerin mit mehr Kraft, als man vielleicht ihren Jahren zugetraut hätte; dann half sie dem weinenden jungen Mädchen bei der Arbeit und ging wieder an ihren Platz zurück, wo sie aber wenig Ruhe hatte, da fast immer das eine oder das andere ihre Anleitung nötig hatte.

Romanowna und Milna hatten eine Weile an dem Eingang des Gebäudes gestanden, ohne daß eine der Anwesenden sie gesehen hätte.

»Gerade keine sehr hübsche Art des Unterrichtens,« sagte Milna leise.

»Nein, aber den Schülerinnen scheint das keinen Kummer zu machen; denn sieh, ihre Lippen bewegen sich, sie scheinen mit halber Stimme ein Liedchen zu singen,« entgegnete Romanowna.

»Welch' eine sonderbare Person die Lehrerin ist,« sagte Milna, »komm, wir wollen ein bißchen mit ihr plaudern.«

»Sie haben da viel Arbeit um sich, Frauchen,« fing Romanowna an, als die Alte gerade wieder ein junges Mädchen, das dicht neben der Thüre saß, durchgeprügelt hatte.

»Ich bin taub,« versetzte die alte Frau kurz, während sie Romanowna und Milna mit flüchtigem Blick von Kopf bis zu den Füßen musterte.

»Sie haben eine Menge Schülerinnen,« schrie Milna die alte Frau jetzt an.

»Ich kann keine mehr annehmen,« versicherte die Frau.

»Ach, wir kamen nur zum Zusehen,« sagte Milna lachend; aber sie wurde nicht verstanden, da die alte Frau sich gerade wieder genötigt sah, die Peitsche zu gebrauchen.

Sobald die Züchtigung vorüber war, kam sie wieder zu den beiden Fremden zurück und sagte: »Vielleicht fänden sich doch noch zwei Plätze, Ihr seid gewiß keine Russinnen?«

»Doch,« antworteten beide zugleich.

»O nein, dann ist hier kein Platz mehr,« sagte die Frau entschlossen. »Ich dachte, Ihr wäret vielleicht aus England oder Frankreich.«

»Sind Sie aus Frankreich?« fragte Milna.

»Ich? nein,« war die Antwort. »Ich komme aus Holland und bin so dumm gewesen, mich überreden zu lassen, mich in dem barbarischen Lande als Spinnerin niederzulassen. Ich wohne jetzt schon viele Jahre hier.«

»Gefällt Ihnen das Leben hier so schlecht?« fragte Romanowna.

»Es ist gar kein Leben,« sagte die Frau betrübt. »Es ist wahrhaftig kein Leben, wenn man sich immer unter einem Haufen Russen bewegen muß, die ...« während des Sprechens ließ sie ihre Augen durch den Saal wandern und sah wieder eine verlegene Spinnerin mit einem abgerissenen Faden. Im Augenblick war sie neben ihr, schlug sie und half ihr; dann kam sie wieder zu den Besucherinnen zurück.

»Sie würden etwas ganz anderes sehen, wenn Sie einmal zu uns nach Holland kämen, da hat jeder doch wenigstens ein bißchen Verstand, aber hier ist unter dem ganzen Haufen nicht eine einzige, die nur ein bißchen Begriffsvermögen hat, es giebt« ... wieder sah die alte Frau ein paar Schülerinnen zugleich an und drehte sich dann verzweifelt nach Romanowna und Milna um; es waren von neuem verschiedene Hände unthätig, weil die Spinnerinnen durch die Gegenwart der Fremden abgezogen wurden. »Es giebt,« fuhr die Alte fort, als sie wieder einen freien Augenblick hatte, »hier keinen Menschen, nein, keinen einzigen, nur einen Haufen Maschinen, und ich glaube wahrhaftig, die Spinnräder haben noch mehr Verstand als die Wesen, die sie hier Menschen nennen. Das glaube ich fest, denn – sehen Sie nur einmal,« unterbrach sie sich selbst und zeigte auf fünf junge Mädchen, die alle unthätig dasaßen und so dumm aussahen, daß die Klage der alten Frau wahrhaftig begründet schien.

»Ich glaube nicht, daß nur ein einziges von diesen Wesen jemals lernen wird, den Flachs selbst aufzuhaspeln oder den Faden zu befestigen, und wenn ich noch so lange lebe, ja gerade so lange wie – ja, wie hieß doch der Mann, der so lange lebte?« sagte die Alte verzweifelt.

»Sie sind nicht sehr von den Russen eingenommen,« bemerkte Romanowna.

»Wie kann das auch sein?« fragte die Alte, »wenn man einmal gewohnt war, unter Menschen zu leben?«

Romanowna und Milna lachten und benutzten eine neue Züchtigung, um wieder fortzugehen.

»Sonderbar,« sagte Romanowna im Weitergehen, »wie unser Volk so dumm ist. Ich habe hie und da einmal gelesen, daß andere Völker, vornehmlich die Engländer und die Holländer, soviel mehr natürlichen Verstand hätten. Sonderbar, nicht wahr, daß Gott dem einen viel Geist giebt, während Er den andern so kärglich bedenkt?«

»Aber das ist gar nicht der Fall,« bemerkte Milna, »ich habe Herrn Doktor Dimsdale viel mit Herrn Lowitz darüber sprechen hören.«

Es war jedenfalls zum erstenmal, daß der Name über Milnas Lippen kam, denn sie wechselte die Farbe und sprach in ganz verändertem Ton. Romanowna that, als ob sie nichts davon bemerke und verbarg die Aufregung, die der Name aus verschiedenen Gründen in ihr hervorrief, um in gleichgültigem Ton zu fragen: »Sprach der Doktor darüber, und was sagte er?«

»Daß das Vorhandensein von Herren und Leibeignen sehr nachteilig für die geistige Entwicklung ist,« sagte Milna.

»Wie meinst du das? Ich verstehe das nicht,« meinte Romanowna.

»In England,« versetzte Milna, »scheint jeder sein eigner Herr zu sein, jeder scheint dort frei zu sein.«

»Giebt es dort gar keine Dienerschaft?«

»O ja, Diener, aber keine Leibeignen. Wenn in England jemand etwas erfunden hat, so kann er damit sein Glück machen. Der ganze Gewinn gehört ihm, während bei uns der Leibeigne, der etwas erfindet, um so gewinnbringender für seinen Herrn ist. Ich weiß nicht, ob ich mich deutlich genug ausdrücke?«

»Ja, ich verstehe dich ganz gut,« sagte Romanowna; »ein englischer Unterthan kann sich emporringen, wenn er Geist und Talent hat, ein russischer Leibeigner nicht!«

»Jawohl,« versetzte Milna, »die armen Menschen gewinnen hier nichts, ja sie verlieren eher noch mehr von ihrer Freiheit, wenn ihre Herren mehr Nutzen aus ihnen ziehen können, und darum üben sie hier im allgemeinen ihren Verstand nicht. Das ist eine der Hauptursachen der Volksverdummung; auch die häufige Trunkenheit trägt viel dazu bei, das Denkvermögen allmählich abzustumpfen.«

»Und,« meinte Romanowna, »wenn der Jugend hier alles in der Weise beigebracht wird, wie wir es eben gesehen haben, dann kann der Verstand nicht sehr geweckt werden. Ich glaube, ich möchte es gern einmal auf eine andere, sanftere Weise versuchen.«

»Wenn dein Vater seine Freiheit nicht wieder erlangt,« sagte Milna langsam, »werden wir keine Mittel zum Leben haben, und obgleich Pater Alexius uns eine Zuflucht geboten hat, möchte ich doch lieber irgendwo anders als in einem Kloster leben. Doktor Dimsdale hat mir erzählt, daß in England viele Frauen ihren Lebensunterhalt durch Unterrichten gewinnen, und dadurch verfiel ich auf den Gedanken, daß wir vielleicht auch einmal so etwas thun könnten; denn wir müssen uns doch auf die eine oder andere Weise Geld verschaffen, da unser Vorrat schon sehr erschöpft ist.«

»Wenn ich von der Kaiserin die Freilassung meines Vaters erlange, und wir uns dann irgendwo niederlassen, z. B. in dem Hause, in dem jetzt Doktor Dimsdale wohnt, wie glücklich könnten wir dann noch werden!« sagte Romanowna beinahe heiter.

»Ich werde sehr glücklich sein, wenn du zufrieden bist; aber erwarte nicht zu sicher die Freilassung deines Vaters, ich fürchte sehr, daß die Kaiserin einem Manne gegenüber, der so gefährlich für ihre Regierung ist, keine Gnade üben wird,« sagte Milna.

»Ja, aber wenn ich selbst zur Kaiserin gehe und sie anflehe, meinen Vater frei zu lassen und ihr verspreche, daß ich mit ihm irgendwo ein zurückgezogenes Leben führen will,« sagte Romanowna, »warum sollte sie es mir abschlagen?«

Während die jungen Mädchen auf diese Weise sich unterhielten und langsam weitergingen, erblickten sie auf einmal eine Menge Soldaten, die alle schwer bewaffnet hinter einer Art Wagen hermarschierten, der an allen Seiten geschlossen war.

»Was kann das sein?« fragte Romanowna und fügte sogleich hinzu: »Welch' ein sonderbarer Zug, er gleicht einem Leichenzug. Komm, wir wollen in diese Straße einbiegen, sonst geraten wir ins Gedränge;« bei diesen Worten zog sie Milna mit sich fort. »Wovon sprachen wir doch?« fragte Romanowna.

Milna sah ihre Freundin etwas betroffen an und sagte: »Sollen wir jetzt gleich zum General gehen?«

»Jetzt schon?« fragte Romanowna verwundert, »ich meine, es sei noch keine Viertelstunde vergangen, seit wir dort geschellt?«

»Dann hat meine angenehme Gesellschaft dir die Zeit sicher so verkürzt,« scherzte Milna, »denn es ist zwölf Uhr.«

Romanowna antwortete mit einem leichten Seufzer, denn sie fühlte, was es sie kosten würde, sich von Milna zu trennen.

Die jungen Mädchen mußten beinahe eine halbe Stunde in dem Wohnzimmer des Generals warten, bis dieser endlich erschien.

»Zwei junge Damen wünschen mich zu sprechen,« begann Graf Panin, als er eilig ins Zimmer trat, »was steht zu Diensten?«

»Wir wünschen Ihre Erlaubnis, Herr Graf,« sagte Romanowna, »das Gefängnis besuchen zu dürfen.«

»Sie wollen Zutritt ins Gefängnis?« fragte der Graf verwundert. »Welcher Schurke hat denn die Ehre, diese Auszeichnung zu genießen?«

»Wir wollen Pugatscheff gern sehen,« antwortete Romanowna.

»Den Empörer?« rief der Graf aus.

»Er ist ...« fing Romanowna an; aber Milna, die fürchtete, daß Romanowna in Ungelegenheiten geraten könne, wenn sie erzählte, daß Pugatscheff ihr Vater sei, kam ihr zuvor: »Wir kannten Pugatscheff in den Tagen seines Glanzes, und wir wollen ihm zeigen, daß wir ihn nicht vergessen haben, wenn auch sein Stern von Wolken verhüllt ...«

»Oder untergegangen ist,« verbesserte der Graf, während er auf seine Uhr sah; »aber ich merke,« fuhr er fort, »daß ich keine Minute Zeit mehr habe.«

»Erfüllen Sie meine Bitte, Herr Graf?« fragte Romanowna flehend.

»Sie können in das Gefängnis gehen,« sagte der Graf gleichgültig, »aber der Aufrührer befindet sich nicht mehr dort, er ist bereits fortgebracht, und mein Pferd steht gesattelt, denn ich muß ihm nach.«

»Fortgebracht?« wiederholte Romanowna in dem Tone bitterster Enttäuschung. »Wohin?«

»Nach Moskau; leben Sie wohl, meine schönen Damen,« rief der Graf, während er durch dieselbe Thüre, durch die er gekommen war, wieder verschwand.

»Fortgebracht nach Moskau,« wiederholte Romanowna ein paarmal, als ob sie den Sinn der Worte nicht sogleich begriffen habe, »also wieder eine Enttäuschung,« flüsterte sie leise, während sie ihren Arm in den Milnas legte und sich von dieser fortführen ließ.


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