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Die Geheimräthin fragte zuvörderst, wie der berühmte General sich zu ihm stelle.
Egon antwortete:
Ich weiß jetzt, warum General Voland von der Hahnenfeder sich scheute, in mein Ministerium einzutreten. Ich habe Entdeckungen gemacht, die mich bestimmen werden, den Hof vor diesem unklaren Charakter zu warnen. Entsinnen Sie sich jenes Professors Rafflard, der sich an Helenen so geflissentlich anschloß?
Die Geheimräthin bemerkte, daß sie von Helenen selbst erfahren hätte, dieser Rafflard wäre ein Jesuit.
Helene, sagte Egon, war leichtgläubig, ein Spielball jeder Schmeichelei. Sie hatte von Rafflard Beweise seiner Intriguen genugsam in Paris erfahren. Sie wußte, daß ich alle Ursache zu haben glaubte, mich von ihm gehaßt zu wissen. Dennoch nahm sie ihn auf. Und warum? Weil er ihr sagte, sie hätte die zartesten Hände und das weichste Herz. Helene ist das Opfer dieser Unfähigkeit, irgend einem freundlichen Worte zu widerstehen. Ich finde Das unter allen Umständen liebenswürdig, aber nicht unter jedem Umstande charakterfest.
Rafflard soll in Verzweiflung über Helenen's Abreise sein, bemerkte Pauline. Der gute d'Azimont schrieb mir, daß seine Mutter dem Jesuiten den Auftrag gegeben hätte, zu Gunsten seines Vermögens, das der Mutter und durch sie anderweitigen frommen Stiftungen anheimfallen solle, eine Scheidung zwischen ihm und Helenen zu veranlassen.
Deshalb dieser Eifer, mich mit Helenen zu versöhnen! Deshalb diese Leidenschaft, die mich zu einer Ehe zwingen wollte! Ich werde Helenen nie vergessen. Wo mir etwas Sanftes, Zärtliches, Weiches, Hingebendes Bedürfniß ist, werd' ich an Helene d'Azimont denken. Aber sie hatte den Fehler aller Frauen, für Liebe einen ganzen Menschen zu verlangen und nur da praktischen Charakter zu zeigen, wo man ihr nicht huldigte.
Egon gerieth immer in Feuer, wenn er gegen Helenen sprechen und weibliche Schwächen analysiren konnte...
Sie sind blasirt, Egon, sagte die Geheimräthin lächelnd. Und seit ich weiß, daß Ihnen Rafflard so früh den Casanova zu lesen gab...
Pauline hatte ein Bedürfniß, diese peinliche Unterhaltung heitrer zu modeln. Sie verschmähte dazu selbst ein frivoles Mittel nicht. Und Egon sagte:
Rafflard legte den Grund meiner ersten Leiden. Er pflanzte früh in die Seele des Knaben verbotene Vorstellungen und lehrte mich Ekel und Überdruß an den Freuden, die Andre beglücken. Diesem Schändlichen jetzt sagen zu dürfen: Sie verlassen dies Land binnen dreimalvierundzwanzig Stunden, gewährt mir eine große Genugthuung!
In der That? Wollen Sie Das?
Er kann Helenen folgen nach Turin, Rom, Paris, wohin er will. Ich habe die sprechendsten Beweise, unwiderlegliche Anzeigen, daß er hier im Interesse der Hierarchie zu wirken suchte und Sie würden erstaunt sein, wenn Sie wüßten, wer ihm Vertrauen geschenkt hat.
Rafflard bewegte sich zuletzt in den höchsten Cirkeln...
Es fehlte wenig, daß er in die »kleinen« kam und eine Vorlesung über isolirte Gefängnisse hielt.
Diese wunderliche Hofromantik kommt noch einst in die Lage, Heilige anzubeten, auf deren Reversseite sich Lovelace präsentirt. Wie komisch ist doch dies Jagen nach dem Aparten, Exclusiven! Glauben Sie aber, daß General Voland –
Ich glaube nicht, daß dieser kluge Mann irgendwie sich an untergeordnete Emissaire preisgibt, aber ich weiß, daß das Terrain für den Jesuitismus bei haltlosen, in allen Widersprüchen der Zeit hin- und herschwankenden Naturen gar nicht so ungünstig ist. Selbst aus dem Schooße der Freimaurerei, die sonst eine geschworne Feindin Loyola's ist, hat sich wieder ein päpstliches Autoritätswesen entwickelt, ganz wie im vorigen Jahrhundert...
Jetzt versteh' ich den Artikel, den Stromer vorgestern im »Jahrhundert« lieferte.
Er verfaßte ihn nach meinen Angaben und ich beobachtete die Wirkung desselben in den »kleinen Cirkeln«.
O erzählen Sie!
Als ich eintrat, fühlte ich an einer gewissen Stille in dem kleinen traulichen Zimmer, daß ich selbst eben der Gegenstand des Gespräches gewesen war. General Voland steckte eben eine Zeitung ein, die er ohne Zweifel vorgelesen und glossirt hatte. Prinz Ottokar, ein Gegner des Generals, stand auf und sagte mit lautem Nachdruck, indem er mir die Hand reichte: Prinz Hohenberg, Sie haben Recht, daß Sie unklare Schleicher abfertigen lassen! Als er gegangen war, sprach ich mich auf's Entschiedenste gegen die geheimen Gesellschaften aus...
Zitterte da die Altenwyl nicht für unsern geliebten Reubund?
Wohl! Man kam wieder mit all dem romantischen Geflimmer, dem ich nun- und nimmermehr das Wort reden werde. Dies Liebäugeln mit dem Mittelalter hat den modernen Staat in seiner monarchischkonservativen Form fast zur Unmöglichkeit discreditirt. Ich ließ die Altenwyl, die gutgeschulten Kammerherren, einige gottselige Präsidenten, die Hofmagier und Zeichendeuter alle reden, was sie wollten über diese Nothwendigkeit des Anschlusses gleichgestimmter Gemüther und was sonst für die Geschichte der Kreuzzüge und des Peter von Amiens Brauchbares vorgebracht wurde, und war zuletzt so frei, den General Voland über seine Meinung wegen der Jesuiten zu fragen. Die Königin, etwas gereizt, warf sogleich die Äußerung dazwischen, daß der General katholisch wäre. Der König in seinem scheuen Zartgefühl, in seiner Befangenheit vor allen extremen Meinungen brach diese Debatte durch ein Album ab, dessen Blätter er mir vorlegte. Es waren...
Doch nicht die Zeichnungen des Gethsemane? fragte Pauline.
O nein, sagte Egon lachend. Frau von Trompetta ist ja seit ihrer Sammlung für die deutsche Flotte so in Ungnade gefallen, daß Frau von Altenwyl sie kürzlich schon eine der gefährlichsten Hochverrätherinnen nannte, die man nur ihrer frommen Verwandten wegen schonen würde.
Pauline mußte über diese Anschuldigung der Frau von Trompetta in Lachen ausbrechen.
Nein, fuhr Egon fort, jenes Album war eine Siegel- und Wappensammlung, die General Voland seit Jahren geordnet hat...
Man sieht, daß wir im Frieden leben und uns nur zum Schein manchmal auf den Krieg berufen!
Ich mag etwas Ähnliches in meinen Mienen geäußert haben; denn mein Interesse an diesen bunten Malereien war sehr gering. Die Königin hob viele der in den Wappen enthaltenen Wahlsprüche hervor. Besonders gefielen ihr die provenzalischen, die General Arnheim gut übersetzen konnte. Ich litt, zu sehen, welchen Ideen und Beschäftigungen man bei Hofe in dieser Zeit nachgeht. Man betrachtet Siegel und treibt Wappenkunde! Man läßt sich erzählen, wie die Alten Glas brannten und wodurch besonders das glühende Rubin der gemalten Fensterscheiben gewonnen wird! Man sammelt Autographen und liest die Schriften über »innre Mission«, die zu Hamburg in der »Agentur des rauhen Hauses« erscheinen. Der König, gegängelt von den Frauen, hat die Liebhaberei des Allwissens und schlägt, da seine eignen großen Kenntnisse doch immer noch nicht ausreichen, die noch größern des Generals Voland auf. Ruhig gibt dieser seine Antworten, immer positiv, immer wie sich von selbst verstehend. Wir andern Menschen machen doch zuweilen einen Fehler, wir wissen doch zuweilen auch so gut wie nichts, allein der General ist unerschütterlich. Er ist ein Orakel und die Königin würde, wenn er behauptete, er zähle wie Graf St.-Germain bereits hundert Jahre, es unbedingt glauben und diesen Glauben dem Gemahl zu einem Beichtartikel, zu einer unumstößlichen Thatsache machen. Da ich Beweise in Händen habe, daß General Voland mit Rafflard und einem andern Krypto-Jesuiten vertrauten Verkehr getrieben, so zitterte ich vor Ungeduld und hätte diese Wappen, diese Siegel, diese Autographen, diese Miniaturen vom Tische hinunterwerfen mögen, allein ich mußte mich beherrschen. Die Rede kam auf die verschiedenen Formen des heiligen Kreuzes. Die Kenntnisse des Generals waren unerschöpflich. Er beschrieb zu großer Rührung der Altenwyl die Form des Kreuzes, wie sie von der heiligen Helena aus Jerusalem zuerst überbracht war. Er verfolgte die Geschichte dieser Formationen mit der Gründlichkeit eines Cuvier, der über die Erdrinde und ihre Revolutionen spricht. Er nahm einen Bleistift und malte das Kreuz nach allen seinen abend- und morgenländischen Metamorphosen. Die Kreuzzüge, die Ritterorden, die Klostergeschichte, bei allen brachte er das ecce signum in andrer Form und erläuterte die Symbolik, alle Veränderungen und Ausschmückungen jener ursprünglichen beiden geschälten Holzstämme, an die ich von Herzen glaube, mit wahrer Salbung und einer Rührung für die Gemeinde, als wenn es sich um die Leidensgeschichte der Menschheit handelte. Ungeduldig beschleunigte ich diese Orgelei und sprach plötzlich von dem protestantischen Johanniterkreuze, das sich in unsern Gegenden fände, nicht aber in dem alten Magistratsgebäude, nicht in den kleinen Zellen des Rathskellers, deren obere Wölbungen noch mit dem alten Kreuze geschmückt wären, dessen Enden in dem Drei-Kleeblatt ausliefen...
Pauline fragte erstaunt, was es mit dieser von Egon so scharf hervorgehobenen Anspielung für eine Bewandniß hätte?
Sie hätten des Generals fragenden, starren Blick sehen sollen, fuhr Egon fort, als ich eine Örtlichkeit erwähnte, an welcher er jüngst mit Rafflard Ansichten über den Weltlauf austauschte, die ich wörtlich vor mir liegen habe! Sein Auge hob sich. Die große breite Stirn verlor alle mystischen Runzeln. Der dünne spärliche Bart auf der Oberlippe schien mir zu zittern. Welch' ein Glück für ihn, daß die Königin diese Erwähnung des Rathhauses zur Veranlassung nahm, auf den Prozeß der Gebrüder Wildungen zu kommen und mir Vorwürfe machte, daß ich diesen Prozeß vom abgetretenen Ministerium wieder aufgenommen hätte –
Pauline schaltete hier die Bemerkung ein:
Aufrichtig, Egon! Man ist allgemein darüber erstaunt. Man weiß, daß Ihnen die Wildungen befreundet sind.
Egon zuckte die Achseln.
Ich habe mir, sagte er, vom Justizrath Schlurck, der die Sache der Stadt führt, die Akten dieses Prozesses kommen lassen und kann mich von den Ansprüchen, die Dankmar Wildungen so leidenschaftlich und im unbesonnensten Eifer geltendmachen will, nicht überzeugen. Noch weniger aber kann ich jetzt, wo ich auch den protestantischen Kirchenpapst, Propst Gelbsattel, durchschaut habe –
Pauline erfuhr von Egon unter dem Siegel der Verschwiegenheit, daß Gelbsattel, Voland und Rafflard in einem Austausch eigenthümlicher Ideen von der Polizei belauscht worden waren –
Noch weniger, fuhr Egon fort, kann ich jetzt ruhig zusehen, daß diese oppositionellen Elemente ihre Kraft aus dem Eigenthum des Staates selber schöpfen. Es thut mir leid, Melanie's Vater zum zweiten Male kränken und verkürzen zu müssen, aber seine Deduktionen für die Ansprüche der Kommune genügen mir nicht. Die zweite Instanz wird von unserm Staatsanwalte mit Eifer betrieben und vor der Revision dieses Prozesses beim Obertribunal ist mir dann, wenn auch diese zweite Instanz zu unsern Gunsten spricht, nicht mehr bange.
Die Bedienten meldeten, daß die Ludmer oben in den Salons bereits empfange und dringend bäte, sie abzulösen...
Pauline wünschte aber das Ende der Verhandlung in den »kleinen Cirkeln« zu hören...
Egon stand auf und sagte:
Das Ende besteht in der gesteigerten Erkenntniß, daß ich einen außerordentlich schweren Stand habe. Auf der einen Seite eine tollkühne Demokratie, auf der andern Seite eine gefährliche Romantik, die ohne Thatkraft ist. Mit meiner nüchternen Genfer Doktrin zwischen Beiden stehend, bin ich fast wie im Traume in die Lage gekommen, einen großen Staat von der Gefahr atomistischer Auflösung zu retten. Ich habe keinen andern Bundsgenossen, als die materielle Existenz der Gesellschaft und die gesunde Vernunft der guten Bürger. Jeder, der Demagoge, wie der Monarchist, ist angesteckt von Träumereien, die im Staate etwas Andres suchen als die Garantie der Ordnung, der guten Sitten und jener leidvoll-freudvollen Existenz, wie Klärchen in Egmont singt. Ja! Ich bin auch ein solcher Egmont zwischen den Alba's und den Vansen's unsrer Zeit und mein Klärchen will ich jetzt in Ihrem Salon suchen. Kommen Sie, verehrte Freundin, vergeben Sie meine Launen! Eine halbe Stunde unter Ihren Damen und dann zur Arbeit bis nach Mitternacht!
Pauline mochte noch nicht folgen. Bewegung einer Art Rührung, des tiefsten Interesses und noch eine Menge Fragen hielten sie zurück. Sie erwähnte noch einmal die Erbschaft, an der Egon's Freunde betheiligt waren und fragte nach diesen, nach Louis Armand, der von Hohenberg zurückgekehrt wäre, nach den Nachrichten, die er über Ackermann eingeholt hätte...
Es sind die günstigsten, sagte Egon. Ich sprach Louis nur einige Minuten. Er ist früher gekommen, als ich wünschte. Auch Dankmar Wildungen, mein Doppelgänger, ist da, in tiefer Trauer. Er hat seine Mutter verloren. So gern ich ihn schonen wollte, mußte ich ihm sagen, daß ich gegen seine Interessen auftreten würde. Er lächelte mit Bitterkeit. Ich finde diesen Freund gereizt über meine politische Entwickelung, von Louis nicht zu reden, den ich sogar warnen muß, sich von signalisirten Persönlichkeiten fern zu halten. Glauben Sie mir, Pauline, ich bedarf meiner ganzen gesammelten Kraft, um den Rücksichten nach allen Seiten hin nicht zu erliegen. Diese Freunde, die ich liebgewann, weichen in ihren Meinungen von mir ab. Sie verstehen eine Position nicht, die ihre bestimmten Pflichten hat. Mit einer so nachgiebigen Natur wie Siegbert Wildungen würd' ich mich verständigen. Mit Dankmar, seinem Bruder, nie. Ich bot ihm eine Stellung in meinem Kabinet. Er hat sie ausgeschlagen und mir aufrichtig, weil ich ihn um Aufrichtigkeit bat, die Misbilligung meines ganzen Systems ausgesprochen. Ich habe ihm nur mit einem Seufzer antworten können und ihn vielleicht für immer entlassen. Louis vollends ist ein Schwärmer. Er muß nach Frankreich zurück. Die Erinnerungen, die sich an ihn knüpfen, hemmen meine Bahn und Gott ist mein Zeuge, ich will etwas Fruchtbringendes, Festes, Großes, mag ich nun mit meinem Werke stehen oder selber mit seinen Trümmern fallen.
Eben hatte Egon diese mit feierlichem Ernst und mit dem ganzen Nachdruck eines sich selbst vertrauenden starken Willens gesprochenen Worte beendet, als es draußen an der Thür rauschte, raschelte, klopfte.
Herein! rief Pauline, die schon merkte, wer die »Fledermaus« war...
Es war Melanie, die muthwillig hereinsprang und mit einer Neckerei den jungen Fürsten begrüßte.
Ist es erlaubt, sagte sie, ihre sich bauschenden Kleider hinterwärts zurückstreifend, die schöne Frau von Spitz so lange warten zu lassen, bis Durchlaucht die Staatsgeschäfte in ihren blauen Augen vergessen?
In braunen Augen nur vergess' ich meine Pflichten, Melanie! erwiderte Egon und wollte die schlanke Hüfte umfassen und das schöne Mädchen an sich ziehen.
Himmel! sagte Melanie. Da fällt ein durchlauchtigstes Haar auf meine Schulter. Helfen Sie mir es suchen, Geheimräthin! Ich sammle diesen Herbst, um der Gräfin Wachendorf einen geheimen Brochenschmuck daraus flechten zu lassen.
Melanie! seufzte Egon. Spotten Sie nicht über einen Menschen, der seit drei Wochen täglich nur fünf Stunden geschlafen hat!
Aber nicht Opium nimmt! Hören Sie, Prinz! Man erzählt Das! Um Gotteswillen nicht!
Melanie sprach diese Bitte mit wirklicher Theilnahme und ging auf Egon, dem sie entflohen war, freundlich zu.
Wie bemitleid' ich Sie! sagte sie fast traulich zu ihm.
Wär' ich so jung und schön, wie Sie! warf Pauline dazwischen und hielt ihre Hand fest, so würd' ich Mitleiden mit diesen umflorten müden Augenlidern haben und sie küssen.
Ein solches Wort konnte nur möglich sein bei einer schon weitgediehenen Vertraulichkeit.
Wenn Sie die Augen schließen wollen! sagte Melanie, berühr' ich sie mit meinen Handschuhen. Ich hörte immer, das Handschuhleder der Frauen magnetisirt.
Egon schloß die Augen. Melanie näherte sich leise und hauchte die Lider mit ihrem Athem an. Egon merkte die Nähe des schönen Mundes. Er wollte Melanie im trunknen Taumel haschen, aber sie entfloh ihm. Er ergriff seinen Hut um sie zu verfolgen. So huschten Beide fort und erst auf der Emporstiege nahmen sie einen gemessenen, vernünftigen Schritt...
Pauline aber machte etwas Toilette. Sie gestand sich, daß sie ein großes Glück genoß. Ein junger, liebenswürdiger, von aller Welt bewunderter Mann war ihr seit der Entdeckung, daß er nicht den Fürsten Waldemar von Hohenberg, sondern einen Unbekannten, Namens Heinrich Rodewald, zum wahren Vater hatte, zugethan wie ein Sohn, zuweilen wie ein Gefangener. Sie schloß ihn wirklich in ihr Herz, das jener enthusiastischen Einseitigkeit, die man nach Rudhard's Theorie Liebe nennt, im höchsten Grade fähig war. Sie schloß ihn da mit aller Vorliebe um so inniger ein, als sie, wie wir gesehen haben, fast spielend, wie im Scherz durch Egon über die wichtigsten Ereignisse des Staates in Kenntniß gesetzt wurde und sich endlich in jenem Zusammenhange mit ihrer Epoche fühlte, den sie so lange vergebens erstrebt hatte. Es war ein hoher triumphirender Stolz, mit dem sie ihre Gemächer verließ, um hinaufzusteigen in ihre wie es schien heute mehr als je gefüllten, jetzt gegen früher sehr veränderten Salons, die wir diesmal nur vom Standpunkte eines nur mittelbar zu ihnen Eingeladenen von der Hintertreppe aus belauschen wollen...
Ein Theil der Gesellschaft war schon versammelt, als Fritz Hackert, der an ihn ergangenen Aufforderung gemäß, sich in dem Hotel der Geheimräthin von Harder einstellte...
Schon hielten einige Wagen vor der Thür. Er erkannte die Livree des Fürsten und einiger andrer vornehmen Besucher, die einstweilen von der Ludmer empfangen wurden...
Als er eine Hintertreppe emporgestiegen und in einen mit Decken belegten und von Glaskugeln mit milchweißem Lichte erleuchteten Korridor getreten war, gab man ihm den Bescheid, daß er erwartet würde, sich aber einige Zeit gedulden müsse, bis Madame Ludmer zu sprechen wäre. Man wies ihn in derselben Etage, wo die Gesellschaft sich versammelte, in ein hinteres Zimmer und stellte ihm ein Wachslicht hin mit dem Ersuchen, sich die Zeit nicht lang werden zu lassen.
Es kommt überhaupt darauf an, sagte er zu dem Bedienten ziemlich vorwitzig, ob ich Zeit habe.
Der Bediente beobachtete den Anzug des kühnen Sprechers. Hackert hatte eine gewähltere Toilette gemacht und einmal an sein struppiges Haar, dem er keine Sorgfalt widmen mochte, weil er es der Farbe wegen haßte, sorgsamlichst die Bürste gebracht. Der schwarze Frack, den er trug, war etwas eng geworden, die Weste von verschossenem gelben Piqué; sie hatte früher dem Justizrath Schlurck gehört, von dem er überhaupt, seiner Stellung zu ihm gemäß, die abgelegten Kleider trug. Seine Handschuhe waren von weißem, frischgewaschenem Baumwollengespinnst. Da es draußen empfindliche Novemberkälte gab, so fror ihn in seinem leichten Staatsanzuge. Glücklicherweise fand sich ein Ofen. Er setzte sich an die ausströmende Wärme desselben, gerade einem Spiegel gegenüber, in dem sich wiederfindend Hackert vor sich her brummte:
Gerade wie ein Junge, der eingesegnet wird und das erste Mal das Abendmahl nimmt! Wenn die Dame, die mich sprechen will, noch hübsch ist, so fürcht' ich, hält sie mich meines Hemdkragens wegen für einen unschuldigen Jüngling und wird roth statt meiner. Wenn ich den Hemdkragen aufstellte! So! Jetzt das schwarze Tuch breiter gelegt – Ha! Nun hab' ich das Ansehen eines jungen Engländers aus einer Pension! Hackert, Hackert! Du hältst dich für schön und die Sorgfalt deiner Toilette wird sich rächen!
Es währte geraume Zeit, ehe die Stille um ihn her durch irgend etwas Bemerkenswerthes unterbrochen wurde. Er hörte zuweilen einen Wagen rollen, zuweilen die Hausthür gehen und Etwas die große Treppe, wie er sagte, heraufknackern. Im Übrigen war es still. Die zurückgelegte Gardine zeigte den Hof und einen Blick in den kahlen, winterlichen Garten. Er sah Remisen, einen Stall und fand es in der Ordnung, daß in dieser Einsamkeit auch einige gewaltige Hunde klafften.
Bei Alledem, sagte er sich, bin ich begierig, was man von mir will. Ich wette, es ist ein silberner Löffel gestohlen worden und die Herrschaft hier will, daß ich mit Klugheit entdecke, welcher von den Bedienten der Thäter ist. Der impertinente Schlingel, der mir hier nichts als ein Wachslicht vorsetzte, ahnt vielleicht sein Schicksal nicht.
In diesem Augenblick hörte er nebenan, in einem Zimmer, das gleichfalls nach dem Hofe hinausging und allerdings hintertreppenartig genug aussah, einige Worte, die ungefähr so lauteten:
Wohin, wohin, werthester Herr Justizrath?
Lassen Sie mich, Beste! Ich kenne diese kleine Retraite –
Bleiben Sie in dem türkischen Zelt! Spielen Sie, Justizrath?
Danke! Danke! Ich warte hier, bis Se. Durchlaucht kommen. Ein paar Worte mit ihm, dann ist mein Geschäft abgemacht.
Wie Sie wollen, Justizrath! Ich schicke Ihnen den Thee hier herein! Aber, Himmel! Sie sind ein Einsiedler geworden, menschenscheu so zu sagen! Was ist Das nur?
Die Stimme, die diese Worte sprach, gehörte irgend einer alten in ihrem Organe verwahrlosten Frau.
Sie war krächzend und unmelodisch. Hackert kannte sie nicht. Aber Schlurck's Stimme war ihm sogleich gegenwärtig. Es erregte ihn nicht wenig, dem Manne wieder nahe zu sein, den er eine so lange, glückliche Jugendzeit hindurch gewohnt war wie seinen Vater zu betrachten und der ihn erst dann in Überwallung des Zornes aus dem Hause entfernte, als er sich ihm gegenüber rühmte, daß eine Jugendliebe nicht ohne Erwiderung geblieben war.
Es wurde Alles still nebenan. In den vordern Zimmern, die zur Allee hinausgingen, merkte man die belebte Gesellschaft, der der Justizrath offenbar entfliehen wollte. Nebenan nur hustete und räusperte sich zuweilen derselbe Mann, der nicht ahnen mochte, daß ihm sein ehemaliger Pflegesohn, der Schreiber Fritz Hackert, so nahe war.
Hackert konnte dem Reize, sich dem Justizrathe bemerkbar zu machen, auf die Länge nicht widerstehen. Er fing gleichfalls an zu husten und trällerte leise. Er glaubte jetzt damit Eindruck machen zu können, daß man ihn in ein so vornehmes Haus beschieden hatte und stand, da der Justizrath ganz allein zu sein schien, mehrmals auf dem Sprunge, zu ihm einzutreten. Nur der Gedanke, daß jeden Augenblick nun doch wol die Dame kommen konnte, die ihn zu sprechen verlangt hatte, hinderte ihn an der Ausführung. Endlich als diese sogenannte Madame Ludmer in ihrer Rücksichtslosigkeit auch zu weit ging und immer noch nicht kam und zuletzt gar Kuchen und Wein mit der Bitte schickte, nicht ungeduldig zu werden, faßte er sich ein Herz und entschloß sich, den Justizrath zu überraschen und wär' es auch nur, daß er so thäte, als hätte er sich in den Zimmern geirrt und gleich wieder zurückprallte... Er öffnete die Thür. Ein Lichtstrahl fiel ihm entgegen aus einem bunten Gemache, das ohne Zweifel jenes obengenannte türkische Zelt war. Zwischen seinem Zimmer und jenem geöffneten Zelte lag noch ein einfenstriger Verbindungsraum, unerhellt. Ein Sopha stand hier gegen die Wand so gestellt, daß Hackert den darauf Sitzenden zwar bemerken, aber auch thun konnte, als säh' er ihn nicht, während er selbst halb unbemerkt blieb.
Schlurck blieb ruhig sitzen. Er glaubte, ein Bedienter sähe nach dem türkischen Zelte und ließ Hackerten ruhig gewähren, der auf den Zehen nach vorne schlich und dem lauten Gespräch der vorderen Säle folgen zu wollen schien. Ein Seitenblick zeigte ihm Schlurck's Perrücke, seine goldne Brille, seinen blauen Frack mit den gelben Knöpfen. Hackert ging so weit vorwärts, daß er schon im türkischen Zelte stand und sich grell genug in der Beleuchtung desselben, von dem kleinen Zimmer aus gesehen, abschnitt. Nun richtete Schlurck doch den Kopf empor, erkannte Hackert und von dem Gedanken ergriffen, der böse Dämon wage sich in diese Zimmer, um Melanie zu beunruhigen, sprang er auf, war mit zwei Schritten in dem türkischen Zelte, faßte Hackerten am Arm und riß ihn gewaltsam zurück.
Gemach, Herr Justizrath! rief Hackert. Was unterstehen Sie sich?
Was soll Das hier? Hackert! Welche Dreistigkeit!
Nun, nun – ereifern Sie sich nicht, Herr Justizrath... stör' ich Sie in Ihren Betrachtungen?
Was soll Das? Wie kommen Sie hieher, Hackert? Entfernen Sie sich! Augenblicklich!
Hackert lachte höhnisch und sagte dem Justizrath, daß ihn hieher eine Einladung beschieden hätte und er nachgrade gestehen müsse, daß ihm die Zeit lang würde.
Da er sich bei dieser Erläuterung zurückzog und Miene machte, wieder in sein Zimmer zurückzutreten, polterte der Justizrath, der gegen keinen Menschen in der Welt persönlichen Muth hatte, nur gegen Hackert, jetzt aber schon etwas besänftigt war:
Eine Einladung? Von wem?
Von Madame Ludmer!
So! so! Hackert, hier vorn ist Gesellschaft. Warten Sie da, wo man Ihnen Platz angewiesen hat.
Danke für die Auskunft, Herr Justizrath! Guten Abend, Herr Justizrath!
Damit wollte der Schreiber höhnisch und die weißen Zähne weisend langsam sich zurückziehen. Still und voll genoß er die Wonne, sich hier gezeigt zu haben. Er zog die Thür nach sich, ohne sie zu schließen.
Da sie aufblieb und sich der Justizrath wieder rückwärts an die Wand auf sein Sopha gesetzt hatte, wie Jemand, dem Gesellschaft zum Ekel ist und der nur auf eine Veranlassung wartet, nach irgend einem vollzogenen Geschäfte sich zu entfernen, trat eine unheimliche Pause ein. Hackert regte sich nicht. Schlurck stützte den Kopf auf und durchbohrte mit den Augen seine Brillengläser.
Das kleine Zimmer war nicht sehr erwärmt. Schlurck mußte niesen.
Helf Gott! rief Hackert nebenan von dem Ofen aus, wo er sich wärmte.
Schlurck blieb das Danke! schuldig, stand aber nach einer Weile auf und kam in Hackert's Wartezimmer.
Wie geht es Ihnen denn, Hackert? begann er jetzt mit einer Güte, die ihm eigentlich angeboren war, die er aber meist hinter äußrer Kälte und negativen philosophischen Maximen versteckte.
Danke, Herr Justizrath. Sie sehen, ich stehe auf Wartegeld.
Sie sind ja bei der Polizei eingetreten, fuhr Schlurck in künstlich barschem Tone fort.
Steht Das im Amtsblatt? fragte Hackert.
Ich hab' es von Pax. Der Oberkommissär ist unser bester Polizist. Es macht ihm Ehre, daß er sich fähige Menschen aussucht und jungen anschlägigen Köpfen den Vorzug gibt.
Danke! sagte Hackert mit einer kalten trocknen Malice.
Sie hören nicht gern, Hackert, daß Sie bei der Polizei sind. Es geht Jedem so. Anfangs hat man Gewissensskrupel. Später treten die Erfolge ein, die sich belohnen und der Wetteifer mit den Kollegen thut das Übrige. Man gewinnt in solchen Fällen selbst sein Elend lieb.
Gelecktes Blut macht wilder...
Pax benutzt Sie zu geheimen Aufträgen. Auf solchem Wege kann man jetzt Carriere machen, aber stellen Sie Ihre Bedingungen ja immer vor den Coups, die Sie ausführen, nie nachher! Hören Sie! Auch muß man Grundsätze haben –
Den Grundsatz, keine zu haben.
Das ist Dasselbe, Hackert! Ich prophezeie Ihnen eine glänzende Laufbahn, wenn Sie sich an Pax anschmiegen, nie mehr anerkannt wissen wollen, als was Sie zu seiner Zufriedenheit ausführen und überhaupt sich mit Verstand unterordnen. Bei diesen Menschen, die selbst wieder einem Höheren dienen, muß man nur nicht verrathen, daß man sie in Händen hat oder daß sie mit Dingen prahlen, die eigentlich den Subalternen gelungen sind. Sie haben sich lange von Bartusch kein Geld geholt. Bekommen Sie einen bestimmten Gehalt, Hackert?
Hackert nickte.
Kann man fragen, wieviel?
Zweihundert Thaler fix und für's Übrige Gratificationen.
Prisengelder so zu sagen! fiel Schlurck lachend ein und fuhr dann mit der Behaglichkeit, die er immer fühlte, wenn er sah, daß es jedem Menschen in der Welt leidlich gut und flott ging, fort:
Hackert, da gratulir' ich! Ihre Anschlägigkeit wird Ihnen den Weg bahnen. Sie haben bei mir etwas gelernt und wenn Sie auch nichts mit auf die Welt bekamen, als ein paar Windeln in dem Korb, mit dem Sie vor's Waisenhaus gestellt wurden, Witz und Raffinement hat Ihnen die gütigere Mutter Natur geschenkt.
Wenigstens hab' ich ihr auch schon manches Lehrgeld dafür zahlen müssen! antwortete Hackert bitter.
Sind Sie immer wohl? Gesund, Hackert?
Hackert schlug bei dieser Ablenkung die Augen nieder.
Kein Rückfall mehr in das alte Übel?
Hackert schwieg. Jedem Andern würde er mit einer Insolenz geantwortet haben. Schlurck's im Grunde weichliches Gemüth aber kannte er und fühlte die Theilnahme aus der barschen und äußerlich feindseligen strengen Art, mit der der Justizrath ihn examinirte, hinlänglich heraus. So antwortete er ihm denn auch nach einigem Besinnen:
Manchmal find' ich meinen Stubenschlüssel anderwärts, als wo ich ihn des Abends hingelegt habe. Das ist Alles, was ich von dem Zustand jetzt grade weiß.
Sie wohnen bei einem Barbier, Namens Zipfel?
Sollt' ich einmal Unglück haben, so ist Verband in der Nähe...
Schlurck fing von seinen Unterstützungen, von Hackert's Stolz, von Bartusch an...
Gestern besuchte er die Frau Gerichtsdienerin Spieß im Rathhause. Er geht recht klapperbeinig. Was ist ihm nur?
Schlurck meinte geheimnißvoll lächelnd, das käme davon, daß er Geister gesehen hätte...
Hat Bartusch Geister gesehen? fragte Hackert.
Ich erlebe, daß er noch fromm wird! fuhr Schlurck kopfschüttelnd und frivol fort. Zur Spieß geht er vielleicht, um zu beten...
Hackert lachte und stellte die Vermuthung auf, daß Bartusch sich manchmal der Gefahr aussetze, von Treppen zu fallen, mit Wassergeschirren begossen zu werden und ähnliches Unglück zu erleben. Auch Schlurck lachte nun herzlicher. Beide aneinandergewöhnte Menschen fanden sich durch Frivolität wieder. Sinnenmenschen geht's nicht anders. Sie finden sich nicht, wenn sie die Feierkleider der Seele anziehen, immer aber, wenn sie sich im Negligée belauschen.
Hackert, sagte Schlurck und kam ihm zutraulicher entgegen; ich habe Sie manchmal recht nöthig –
Warum dutzen Sie mich denn nicht mehr, Herr Justizrath? Sie wissen doch –
Ich weiß, daß ich dich immer gern gehabt habe, Junge, und ein solches Ende unsrer Freundschaft nicht voraussah. Seit du aus dem Hause bist –
Herr Justizrath, Sie sehen recht traurig aus...
In der That zitterte Schlurck's Stimme und seine Brillengläser liefen vom umflorten Auge an. Er mußte die Gläser abnehmen.
Hackert'chen, ich bin der Alte nicht mehr, sagte er, die Gläser mit seinem ostindischen Taschentuche putzend, ich habe zuviel auf Einmal erfahren müssen. Es ist doch wohl, daß ich mich in diese Zeit nicht recht schicken kann...
Alle Geschäfte gehen schlecht...
Das wollte weniger sagen, Kind, obgleich auch – der Trieb, Neues zu beginnen, gehört nur der Jugend. Unser Fleiß im Alter ist an die einmal gezogenen Gleise gebunden. Ach, und die Welt ist so verkehrt, die Menschen rennen so toll an Einem vorüber, es ist kein Frieden, keine Gemüthlichkeit mehr in den Auffassungen! Drommeldey ist der einzige Philosoph, der noch übrig geblieben ist von der alten Zeit und auch Der fängt an, von Systemen und einem fertigen Glauben zu reden...
Sie wollten ja immer nach Kissingen, Herr Justizrath –
Unterleib meinst du? Hypochondrie? Kissingen – ja, ja! Bist doch ein guter Junge!
Die Verdauung...
Nicht die Verdauung! Ich bin nicht krank, ich verdaue! Nur and're Freude hab' ich nicht mehr viel. Die Menschen sind so verteufelt ernst geworden, so albernklug, so dummgescheut, so vielseitigeinseitig und die Frauen, wo ist noch eine Frau, die lachen, scherzen kann, die Humor hat, die über dumme Dinge wegsieht und alle klugen versteht?
Melanie!
Meinst du? Ich glaube fast, meine Melanie ist die letzte, die das Leben zu verschönern weiß. Ach Hackert, wenn wir früher zusammensaßen, die Rittergutsbesitzer kamen, brachten Capitalien, die Bauern hatten Prozesse, da gab's Mündel mit großen vormundschaftlichen Depositen, es war eine andre Zeit. Man arbeitete mit Lust, man spritzte die Feder aus und ging dann zu einem Freunde, um zu diniren, Anekdoten zu hören, etwas Musik, etwas Frauenanmuth zu genießen. Man lachte, man sprach von einem alten boshaften Schriftsteller. Man küßte den Damen die Hände, flüsterte ihnen eine Huldigung in's Ohr, hörte dafür wieder die Beichte der schönen Sünderinnen... freilich, Hackert, man war jünger...
Ich denke aber, Herr Justizrath, Sie wollten nie alt werden?
Wollt' ich Das? Das war Prahlerei, den Ärzten gegenüber. Drommeldey vergriff sich manchmal in seiner Apotheke. Er kam eben von einer hysterischen Dame und hatte mit der über den Nervenäther gesprochen, und zerstreut wie er ist, kam er dann bei mir auch mit dem Nervenäther. Da hab' ich so manchmal eine kräft'ge Renommage dazwischen geworfen und von noch feineren Dingen als den Nerven geprahlt, vom freien menschlichen Willen, stolz sich hebend in der Atmosphäre von Sauerkraut und Pökelfleisch...
Es werden wieder beßre Zeiten kommen, die Sie aufheitern, Herr Justizrath –
Meinst du, Junge? Leichte, fröhliche Menschen, gesunde Zeiten? Glaub's nicht, Kind – du denkst, Pax und seine Genossen könnten die Unruhe ausfegen wie alten Sauerteig? Unserm Jahrhundert ist gar nicht mehr beizukommen und wenn Ihr noch so viel Demokraten einsteckt! Die Freude, die Lust ist gewichen, die Poesie des Lebens ist hin! Eine schöne Phrase! Himmel, was hab' ich früher an einer schönen Phrase geschlürft! Wie Melonensaft floß mir Das um den Mund, wenn ich so ein Kapitel von Rochefoucauld oder Chesterfield las... Du kennst die kleinen Bücher, die ich zuweilen zwischen der Mehlspeise und dem Fisch von dir aus meiner Bibliothek holen ließ, um meinen Gästen einen Satz aus der...
Philosophie der Bagatelle, wie Sie's nannten –
Philosophie der Bagatelle! Nannt' ich's so? Sieh, ich bin selbst Schuld daran, daß du uns Allen über den Kopf gewachsen bist. Wenn ich ernst sein wollte und fragte mich: Wer hat die Verantwortung für Alles, was den Frieden unsres Hauses, unsre Freundschaft störte –
Lassen Sie Das doch, Herr Justizrath!
Wie liebt' ich dich, Fritz! Wie schmiegsam, gewandt warst du! Welche Handschrift! Welche Auffassung, wenn ich dir einen Brief zu schreiben überließ!
Ich nahm alle Menschen für schlecht. Da hatt' ich's kurz.
Ja, ich, ich lehrte dich auch diesen Cynismus. Bist ein Cyniker, Junge! Eine respektable Philosophie des Alterthums! Suchst nichts im Äußeren! Du hattest, was Du begehrtest. Wie fröhlich ging es bei uns her! Wir haben noch Champagner, Fritz. Er schmeckt uns aber nicht mehr. Bartusch grämelt, meine Frau grämelt, Melanie grämelt, Alle möchten gern des Teufels und fromm werden und können's doch nicht – der Durchbruch fehlt! Du mein Himmel, wenn der Unsinn des Jahrhunderts und die langweilige Ernsthaftigkeit unsrer Epoche sich auch in meine alte Komthurei einschliche –
Oder Sie gar die Komthurei verlassen müßten?
Meinst du? Auch dieser Prozeß ist mit an meiner Verstimmung Schuld. Mit dem Schrein in Hohenberg fing das Trauerspiel an. Nicht, daß ich fürchtete, den Prozeß zu verlieren. Nein, auch die zweite Instanz spricht für die Kommune und das Recht des Besitzes. Aber es sind dabei Dinge vorgekommen, die mich aufgeregt, erschüttert haben, Dinge, wo ich mit mir selbst in Widerspruch gerieth und zuweilen nasse Augen hatte. Es ist nicht gut, weich zu werden.
Sie weinen doch sonst manchmal recht gern, Herr Justizrath!
Das ist's eben! sagte Schlurck lächelnd, fast wehmüthig. Es kommt jetzt zu oft. Du weißt, wie ich mich gegen Rührungen sträube. Diese Rührungen sind die eigentlichen heimlichen Kalendermacher; Rührungen, mein Sohn, sind die Leichentücher, an denen man so ganz sanft und ruhig allmälig unsern Sarg in die Grube läßt! Rührungen weichen den ganzen Menschen auf, als wär' er von Lehm gebacken und der Frühling käme so über Einen und versetzte uns sanft und lind in einen auseinandergehenden dünnen Brei, den man das himmlische Leben nennt. Sonst wurde bei uns gelacht, gescherzt – jetzt –
Wo Sie Schwiegervater einer Durchlaucht werden können –
Schwiegervater einer –
Besser konnten Sie sich doch dafür nicht revanchiren, daß Ihnen die Administration genommen wurde...
Der Justizrath besann sich. Er fühlte sogleich, wie dreist und vorlaut diese Worte waren. Es fiel ihm plötzlich ein, daß im Grunde doch Hackert an Allem Schuld war, was ihn jetzt drückte. Er hatte Lasally, den Verlobten seiner Tochter, mit einem Darlehn von zehntausend Thalern entschädigen müssen, das gewissermaßen à fond perdu geradezu gesagt als Abfindungssumme gegeben war. Er hatte diese Summe nur mit großer Mühe in der jetzigen schwierigen Geldklemme aufgetrieben. Er sah ein Verhältniß zwischen Melanie und dem Fürsten Egon entstehen, das ihm weit weniger willkommen war, als wenn etwa Melanie und Dankmar Wildungen sich vereinigt hätten, wie ihm damals vorschwebte, als sein Verstand, sein juristischer Scharfsinn, seine ungemeine Rechtsgewandtheit noch nicht dem bekannten Prozesse die Wendung gegeben hatte, die der Kommune günstig war. Er hatte Möglichkeiten gesehen, Dankmar Wildungen gewinnen zu lassen. Er hatte Melanie's Liebe zu Dankmar wohl errathen, wohl erwogen, welche Zukunft er sich und ihnen zaubern könnte. Dankmar hatte aber Melanie verschmäht, sich für immer ihr entfremdet, sie nur als eine vorübergehende Episode seines Lebens betrachtet. Vermögen war dem Justizrath lieber als jeder Titel. Was lag ihm an dem armen Prinzen Egon, den er gleich bei seinem ersten politischen Auftreten für einen Narren und Phantasten erklärte! Konnte er mehr erwarten, als daß Melanie zuletzt, wie dies in solchen Fällen zu geschehen pflegt, schwach genug sein würde, auch nur mit einer »Liaison« zwischen ihr und dem Fürsten sich zufrieden zu geben! Sein Scharfblick ahnte diesen Ausgang, der ihn bekümmerte, sogar der Moral wegen. Seine Melanie eine Fürstenmaitresse! Er schauderte. Und nun dieser abenteuerliche, verschuldete, arme Egon! Er wußte, daß seine Güter nur noch geringen Werth hatten, daß sie einem Projektenmacher, für den er Ackermann hielt, überlassen waren; er wußte, daß Egon, in plötzlicher aristokratischer Anwandlung, neue Schulden, ganz wie sein Vater gemacht hatte. Er wußte, wie tief er sich mit dem Bankier von Reichmeyer eingelassen. Was blühte da seiner ehrgeizigen Tochter? Von der strengen puritanischen Natur Egon's, der im Stande war, Melanie wirklich zu heirathen, hatte er keinen Begriff. Ein junger offenbar im Banne der Phantasie und der Sinne stehender Fürst schien ihm unmöglich die Anwandlungen einer stoischen Selbstkasteiung haben zu können, von denen wir wissen, daß sie Egon wirklich besaß. Egon und Schlurck waren zwei diametral entgegengesetzte Charaktere, beide voll Phantasie, beide den Frauen ergeben und beide doch so völlig anders, wie Süd und Nord, wie Flamme und Eisblume.
Der Justizrath fuhr sich über die Stirn, die sich ihm plötzlich runzelte. Hackert's Dreistigkeit, ihn an diese Möglichkeiten und Familienverhältnisse zu erinnern, war ihm peinlich. Er wollte sich anfangs rasch entfernen und brach auch das Gespräch ab, indem er vorschützte, zur Gesellschaft zu müssen. Dennoch blieb er in der Thür stehen und wandte sich noch einmal mit den Worten zurück:
Wirst doch nicht glauben, Hackert, daß Charlotte Ludmer, die dich herbestellt hat, eine hübsche junge Kammerzofe ist? Du Teufelskerl! Warum läuft nur bei dir Alles auf die Weiber hinaus?
Ich denke mir, es ist der alte Drache, der mit Ihnen vorhin sprach.
So hast du von der Kehle doch auf die Visage geschlossen? Ich denke mir immer, daß die alten Hexen, die Fausten in Griechenland begegnet sind, wohin ihn mein göttlicher Goethe reisen läßt, so aussahen wie diese Ludmer, und im Vertrauen gesagt, ihre Gebieterin, die Geheimräthin, geht auch schon stark in das Geschlecht der einäugigen Phorkystöchter über. Ich bin nicht neugierig. Was will die Alte von dir?
Soll ich erst hören.
Willst du wissen, was es sein wird?
Ein gestohlner Löffel, den ich bei den Pfandleihern aufsuchen soll.
Glaub' ich nicht. Hier im Hause weiß man die geheime Polizei besser zu schätzen. Ich denke, die Alte wird die Frage an dich richten, ob es im alten Rathsarchive hier wirklich Gespenster gibt?
Gespenster? fragte Hackert erstaunt und fühlte sich so sonderbar getroffen, daß er Schlurck groß ansah.
Ja, ja! sagte Schlurck, ohne Hackert's Befremden besonders zu bemerken. Diese Menschen sind prosaisch. Sie erfahren von Geistern und rufen nicht den Pfarrer, sondern gleich die Polizei.
Aber ich verstehe nicht –
Die Alte hatte mir einen Auftrag gegeben, in den von unserm Stadtarchive aufbewahrten Kirchenregistern einer kleinen zu unserm Weichbilde gehörenden Ortschaft irgend ein Dokument, zu irgend einem namenlosen Zwecke, zu suchen. Ich übertrug diese Aufgabe, mit der einige delikate Rücksichten verbunden waren, dem im Suchen und Spioniren kundigen alten Maulwurfe –
Bartusch! ergänzte Hackert gespannt.
Bartusch besucht den genannten Ort, findet den rechten Schrank, das rechte Papier und behauptet, eine Geisterhand hätte es ihm fortgerissen –
Das rechte Papier? fragte Hackert.
Ja, so zu sagen, ein alter verfallener Pfandzettel! Genug, es spukt im Archiv und ich wette, die Alte ist ein Rationalist, wie alle Sünder, ehe sie auf dem Todbett liegen. Sie wird wissen wollen, ob die Polizei an Archivgespenster glaubt.
Daß im Rathskeller Geister sind, lernt' ich schon früh an den Weinfässern des alten Kellermeisters kennen –
Wie so?
Wissen Sie nicht mehr, als ich so klein war –
Junge, rühr' mich nicht! Ich weiß, du willst mich daran erinnern, daß ich dich oft mit in den Rathskeller nahm, wenn die Sitzungen des hochedlen Magistrates zu trocken wurden. Hackert, ich wünschte, ich hätte dir als kleinem Anfänger von acht Jahren mehr Prügel und weniger Niernsteiner zu kosten gegeben. Ich habe den Pestalozzi immer so affektirt und die Natur wirklich immer im Natürlichen gefunden. Aber thu' mir den Gefallen, gib der Alten nicht nach und sag' ihr etwa, im Archiv hausten zuweilen Ratten und Diebe. Sag' ihr, es gäbe Geister! Hörst du! Diese Menschen sollen und müssen an Geister glauben. Ich selbst glaube dran.
Das ist ja etwas ganz Neues, Herr Justizrath, sagte Hackert, dem die Bartuschen entrissene Urkunde über den Taufakt des Paul Zeck plötzlich an Bedeutung gewann. Seit wann glauben Sie denn an Geister?
Seitdem meine Frau nicht mehr in unserm guten Leitwasser, sondern im Jordan baden will, Hackert. Etwas muß der Mensch haben, an das er sich hält und das außer ihm liegt. Mögen sie in die Kirchen rennen die alten Sünder und falsche Gesangbuchverse singen: Nr. 814, wenn der Küster und die Orgel Nr. 514 meint! Mögen sie zu Jesu halten, den ich herzlich lieb habe, weil er so tolerant war. Ich will auch etwas über mir anerkennen: Ratten, Mäuse, Geister, was man will. Und mit den Geistern hat es etwas auf sich. Voltaire hätte nur noch ein Jahr länger leben sollen und ich wette, er hätte nicht nur an die Ratten von Ferney, sondern auch an Gespenster geglaubt. Alle großen Männer nehmen Geister an. Also...
Hackert wußte nicht, ob der Justizrath im Ernst oder Scherz sprach. So durcheinander pflegte er bei Tisch zu plaudern.
Nicht wahr, mein Ende ist nahe, Fritz? sagte der Epikuräer. Ich werde gläubig, aber es muß pikant, neu, schauerlich sein, was ich glaube. Ich schließe jetzt öfters mein Schränkchen, auf das du immer so neugierig warst, auf, binde mein Schurzfell öfters um, als sonst und bin ein fleißiger Maurer. Wir haben zwei Sekten in der Maurerei, eine vernunftaufgeklärte und eine mystische. Ich habe mich an die mystische, an die dunkle angeschlossen... Ja, ja, lach' du nur! Ich hab' in meinen jungen Tagen auch gelacht, wenn ich las, daß Epikuräer in ihren alten die Beichtväter riefen und die Zauberer. Die Beichtväter mögen zu Madame Schlurck gehen. Ich möchte Zauberer rufen, Schatzgräber, Todtenbeschwörer. Wenn ich nicht noch gar Jesuit werde! Wärst du klug, Hackert, sagt' ich dir ein paar Jesuiten, die gut zahlen...
Ich kenne zwei... Propst Gelbsattel und General Voland von der Hahnenfeder.
Junge, bist du toll? Das wißt Ihr schon auf der geheimen Polizei? Ihr seid doch mit dem Teufel im Bunde! Aber verurtheile die Leute nicht nach dem gemeinen Standpunkte eines Oberkommissärs, Hackert! Jesuiten, mein Sohn, sind die einzigen praktischen Menschen der Jetztzeit. Du hast Verstand, Umsicht, du kannst Carriere machen. Affiliire dich! Sie brauchen Kräfte, Intelligenz und Niemand ist ihnen willkommner, als wer zugleich im Dienste dieses dummen Zwangsstaates steht, dem sie seit drei Jahrhunderten Feindschaft geschworen haben. Denke nicht, daß ich ein Jesuit geworden bin. Aber werde bei Zeiten katholisch, mein Sohn! Nur das Aparte kann einen Mann von Verstand befriedigen und wär' es auch die Glorie des Unverstandes! Mit den Beinen oben, Kopf unten! Warum nicht? Nur nicht wie die Schuster und Schneider! Nur nicht wie die dummen Gelehrten, die Staatsmänner, die ehrlichen Leute, die tugendhaften Weiber! Nur nicht die Sonne Sonne nennen! Ich bitte dich, Hackert, wenn die Alte von der Polizei spricht, sprich ihr von Geistern. Laßt uns die Furcht und die Gespenster leben! Das ist noch die letzte Poesie, die uns übrig bleibt und der Tod ist fürchterlich. Guten Abend, Hackert'chen! Halt dich brav! Guten Abend!
Hackerten war es doch wirblich geworden bei diesem tollen Humor des Justizrathes, der plötzlich wieder seine ganze alte mephistophelische Färbung bekommen hatte. So kannte er ihn. So saß der Justizrath sonst beim Champagner bis in die Nacht und warf die lustigsten Raketen bunt durch alle Weise und Philosophen und Spötter, die mit ihm zechten! Wenn ein geistreicher Mann sich ausspannt aus der gewöhnlichen Maschine des Denkens, dem gewöhnlichen Karren der gesunden Vernunft, so kommen wunderliche Sprünge zum Vorschein. Schlurck polterte Alles durcheinander, war an demselben Abend katholisch, dann ein Botokude, dann wieder Grieche und ebenso rasch streitsüchtiger, verstandesscharfer Calvinist. In der Politik ohnehin fand er jede Partei gut oder dumm, je nach Laune oder innerer Regung. Hackert hatte sich eigentlich nach dieser Alles ironisirenden Art seines Pflegevaters gebildet, hörte ihm mit Lust zu und sah ihn nun ungern zur Gesellschaft zurückkehren.
Noch einmal wandte sich der Justizrath nach ihm um und sagte zu einem Menschen, der ihm schon viel Kummer bereitet hatte und der ihm dennoch lieb war:
Fritz! Ich habe immer gedacht, ich käme doch noch dahinter, welchem leichtsinnigen vornehmen Patron du dein Leben verdankst und wer die Rabenmutter ist, die dich in einem Waschkorbe vor das Waisenhaus stellte!
Sie wissen gewiß längst, antwortete Hackert, daß es ein Schneider vom Hofe war, der grade rothe Livreen nähte, in denen sich meine Mutter versah und sie mir an die Haare hexen ließ...
Nein, nein –
Sie wollen mir nur aus Schonung verschweigen, daß meine Sucht bei nachtschlafender Zeit herumzutappen wie ein Wachender, von einer armen bettelnden Frau kommt, die des Nachts für die Reinlichkeit –
Nichts da! Nichts da, Junge! Du stammst von einem hohen Hause –
Wo drei Balken einsam stehen, auf dem Rad die Raben krähen –
Was? Wo?
Von da her, wo kein Gras im Grünen wächst und die drei Pferde, die ich umbrachte, in klappernden Knochengerüsten wiehern: Hackert's Vater handelte mit rothen Hähnen!
Ah bah! Dummes Zeug! Hackert, wenn du einmal sicher bist, daß grade meine Leute in der Kirche sind, Sonntags, wenn Gelbsattel predigt oder du sonst glaubst, daß du mich allein triffst, komm' zu mir! Ich muß dir noch das Bettzeug geben, in dem du im bewußten Korbe lagst und ein Stück von einem zerbrochnen goldnen Ring, auf dem ein Buchstabe eingegraben war –
Z. nicht wahr? Hinter'm Z. steckt nichts, Herr Justizrath!
Z. sagte Schlurck erstaunt. Nicht Z. mein Junge! Wenn es wirklich Z. wäre?
Warum nicht Z.? fragte Hackert.
Ein R. ist es und ich wette, vor dem R. stand ein v., als wärst du –
Von Adel sogar? Justizrath, gute Nacht! Sie wollen mich um drei Thaler bringen, die ich heute aus Cavaliervergnügen noch springen lasse oder Sie erleben, daß ich Ihnen jetzt vor Hochmuth vorn in die Gesellschaft folge –
Schlurck nahm den Scherz für möglichen Ernst und erschrak.
Bei Leibe nicht! Gute Nacht, Junge! Brauchst du Geld, sag' mir's. Und endlich! Einen Sonntag Morgen, wenn sie in der Johanniskirche am Bret Gesangbuch Nr. 514 singen sollen und die alten Weiber, die trübe Brillen haben, Nr. 814 singen und es doch geht, doch zusammenklingt zu Gottes Herrlichkeit – dann komm' zu mir, Junge, und laß dir den halben Ring zeigen. Z. nicht. Ich glaube v. R. Ein V. gewiß! Verlaß dich drauf!
Damit mußte sich Schlurck entfernen. Denn eben schlug man auf dem Vorplatz eine Thür zu und deutlich hörte man, daß Jemand nebenan in's Wartezimmer kam. Zugleich hörte man vom türkischen Zelt den Frauenruf: Justizrath! Hier sind Se. Durchlaucht! Justizrath, wo stecken Sie denn? Es war die Geheimräthin. Im Nu war die Thür, die zum Zelte führte, geschlossen und zu gleicher Zeit trat die Ludmer ein, auf die in der That die vom Justizrath citirten Worte seines Lieblingsdichters Wolfgang Goethe paßten:
Welche von Phorkys' Töchtern bist du?
Denn ich vergleiche dich diesem Geschlechte! Bist du vielleicht der graugebornen Eines Auges und eines Zahnes Wechselsweis theilhaftigen Grajen Eine gekommen? |
Die Alte, geschmackvoll gekleidet, ließ sich erschöpft auf einen Sessel nieder und bat um Entschuldigung wegen ihres langen Ausbleibens. Sie begann dem geheimen Polizeiagenten Hackert, dem Schutzbefohlnen des so anerkannt gewandten Polizeioberkommissärs Pax, ihres zufällig abwesenden »Neffen«, jetzt ein geheimes dringendes Anliegen vorzutragen.