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Zwölftes Capitel.

Zwei Todte.

Seit vierzehn Tagen hatte Hackert vergebens versucht, den gefangenen Murray zu sprechen und sich der von Madame Ludmer ihm gegebenen Aufträge zu entledigen. Assessor Müller war streng. Er anerkannte Hackerten nicht offiziell, da er ihm nur eine Privatbeziehung zum Oberkommissär Pax einräumen konnte. Pax kehrte noch immer nicht zurück. Ohne dessen Vermittelung litt das Untersuchungsamt keine Konfrontation mit einem Manne, der allerdings durch seine ruhige und ergebene Haltung, seine gebildeten Antworten, seine Auslegung des Vorfalles im Plessener Walde die Justiz fast schon entwaffnete. Die über den Schmied Zeck eingezogenen Nachrichten lauteten alle ungünstig. Herr von Zeisel stellte Murray schon um Louis Armand's und des Prinzen Willen im günstigsten Lichte dar. Die Ludmer erfuhr diese Wendung. Ungeduldiger, immer dringender wurde ihr Ersuchen an Hackert. Da aber Pax nicht zurückkehrte, konnte von dieser Seite ihrer geängsteten Wißbegier nicht geholfen werden.

Wie sich heute, an einem Sonntage, Hackert dem Profoßhause näherte, bemerkte er Menschen, die zahlreicher als sonst durch die Thür des alterthümlichen Gebäudes aus- und eingingen.

Eine öffentliche Gerichtssitzung, dachte er, oder was gibt's da?

Indem läuteten die Glocken; er besann sich, daß Sonntag war. Und dennoch diese Bewegung?

Wie er das Profoßhaus betrat und in eine große steinerne Halle zur Linken eintrat, bemerkte er, daß sich die Menschen um einen dort aufgestellten Gegenstand versammelten.

Es ist gestern Abend geschossen worden, sagte er sich. Wahrscheinlich einer von Denen, die dabei blaue Bohnen gegessen haben!

In der That war es der Leichnam eines jungen Handwerkers, der gestern, wie er hörte, bei der Sprengung des Maschinenbauervereins entweder zufällig oder als ein Opfer seiner Widersetzlichkeit gefallen war.

Viele Andre, hörte er, wären verhaftet, noch Einige verwundet worden...

Wie er noch so in der Ferne mit einer Miene voll Gleichmuth und achselzuckend zu der Gruppe hinblickte, die ab- und zugehend ihre Theilnahme nicht auszusprechen wagte, da Schildwachen und Polizeidiener genug in der Nähe standen, sieht er mit ängstlichem vorsichtig behendem Schritt Louise Eisold über den Marktplatz schreiten, an dem das Profoßhaus liegt. Sie hat vier ihrer Geschwister an der Hand, Wilhelm und Karoline, die Zeitungsträger, und die noch kleineren, Friederike und Heinrich...

Wie Louise in das gewölbte Portal des Profoßhauses tritt, wendet sie sich fragend nach der Halle und sieht die Gruppe der Neugierigen...

Ein so junges Blut! heißt es.

Sie hört Das... Sie tritt näher...

Die Geschwister wollen sie der Menschen wegen zurückhalten. Sie reißt sich von ihnen los, drängt sich heran, beugt den Kopf über die Tragbahre, hält sich wie schwindelnd an einem der ihr nahestehenden Menschen, blickt noch einmal auf die Leiche und stößt einen Schrei des Entsetzens aus.

Karl! rufen die Kinder und brechen in ein herzzerreißendes Weinen aus.

Karl! ruft Louise und faßt die Leiche, um sie emporzurichten; die Halle war niedrig, spärlich durch kleine runde Fenster erleuchtet, vom trüben Wetter fast düster... Sie hält den Kopf des Todten wie gegen das Licht, streift an den Kleidern entlang, sieht die Züge des kalten Angesichts noch einmal prüfend durch und hat von dem an der Brust geronnenen Blute die Merkmale seiner tödtlichen Wunde in der Hand... Der Todte war Karl Eisold, ihr Bruder. Sie mußte es so hinnehmen. Es war so. Gott hatte Das gegeben. Gott oder Wer? Es war so. Ihr Bruder Karl war todt.

Die Theilnahme der Umstehenden zeigte sich freilich als die innigste; aber was half Das? Louise lag über die Leiche hingestreckt und betrachtete sie stier. Dann redete sie wie im Wahnsinn mit dem Todten, als wenn er lebte, als wenn er selbst Auskunft geben könnte.

Karl hörst du nicht? Karl!

Sie schluchzte nun wenigstens und sprach doch wieder. Erst schien sie selber leblos.

Der Todte kalt und stumm. Das Blut quoll noch ein wenig aus der Wunde. Es war in größeren Massen die Nacht über auf eine Strohmatte gerieselt, die man unter die Bahre gelegt hatte. Das blasse Antlitz des sechzehnjährigen Jünglings war milde und wie verklärt. Er schien zu schlafen. Das blonde Haar hing schlicht, blutdurchronnen über die Stirn. Die Mütze, die er zu tragen pflegte, mit einer kleinen schwarz-roth-goldnen Cokarde, lag neben ihm. Der graue Tuchrock mit weißen Metallknöpfen war von Blut und Schmuz besudelt. Es war da nichts mehr zu ändern. Karl Eisold war das Opfer jener ersten energischen That des neuen Ministeriums gewesen.

Hackert, hinter einem von den kurzen Gewölbepfeilern der Halle verborgen, beobachtete mit sich verdüsternden Blicken die herzzerreißende Scene. Er hatte den jungen Arbeiter so gut gekannt. Wie rüstig war er, wie ernst und streng in seinem Berufe! Wie streng gegen ihn, den trägen Tagedieb! Er sah ihn, wie er zeitiger aufstand als alle Andern, die in jenem Hause beisammen wohnten! Er hörte ihn nebenan in der Küche sich schon waschen, während er im Bett sich noch wälzte und zum Frühschlummer sich auf die andre Seite warf! Er sah ihn an seinem Gitterfenster auf der Galerie vorbeigehen in die Willing'sche Maschinenfabrik... Er sah ihn nach Hause kommen, Abends, ermüdet, nur nach seinem Nachtessen fragend, das mit Ernst und schweigsam verzehrend und dann bald zur Ruhe gehen... Dies gegen zwanzig Millionen Seelen im Staate ganz unbedeutende, überflüssige Leben war nun beendet. Und doch war der Jüngling die Hoffnung, die Stütze einer Familie gewesen. Auf ihn bauten diese armen, verlassenen, elternlosen Kinder ihre Hoffnung. Eine kleine Rauchwolke war's. Nun verzogen! Hackert mußte sich unwürdig fühlen, die wahre Trauer um diesen Jüngling auszusprechen; doch grollte er mit dem Schicksal und erschrak fast vor der Majestät des Todes.

An Louise war es herzzerreißend zu sehen, wie die Phantasie des Mädchens sich in den schrecklichen Moment nicht finden konnte. Mullrich, ihr Vizewirth, der Polizeidiener, stand daneben und erzählte den Leuten, daß sie gestern Abend im Hause herumgesucht und gefragt hätte, daß sie eine jammervolle Nacht ausgestanden und am frühen Morgen schon wieder gesucht, schon in die Willing'sche Fabrik geschickt hätte – wo aber am Sonntag Niemand arbeitete – Er hätt' ihr gerathen, hier in's Profoßamt zu gehen. Bei dem Kommentar ihres Leids aus diesem Munde schwieg Louise und sah den Bruder starr an, als wenn sie sagen wollte: Das ist unser Loos! Nicht Eures, nicht das Loos der Reichen und Vornehmen, es ist das Loos der Armen und Verfolgten!

Kümmerlein, der neben Mullrich stand, erzählte den Vorfall von gestern Abend und berichtete, daß noch einige Verwundete und Viele gefangen wären.

Auch der große Breitschultrige, sagte er mit Beziehung, wißt Ihr Mullrich, damals vom Fortunaball, der den Hackert heraushieb? Er war erst vor vierzehn Tagen entlassen...

Danebrand! sagte sich Hackert in seinem Versteck. Er kämpfte mit sich, ob er näher treten sollte... Zum ersten Male fühlte er, daß er unwürdig war, sich dem heiligen Unglück zu nähern.

Louise, die auf der Leiche lag, sah nicht, daß die schluchzenden Kinder von den Umstehenden Gaben der Liebe empfingen, hörte nicht, daß Danebrand saß...

Der Verein sollte geschlossen werden, erzählte Kümmerlein, da ging's wieder her wie gewöhnlich. Lärmen, Toben, Schreien. Einem von uns griffen sie an den Säbel. Da pfiffen wir. Es kam Hülfe. Da sie den Aufrührern gegenüber zu schwach war, wuchs ihnen der Kamm. Sie warfen die Gensdarmen zum Hause hinaus. Nun aber: fliegende Kolonne! Vor'm Hause ein Geschrei, Reden, Winkelzüge, Fluchen, Hohngelächter. Drei Mal Auseinander! Nichts Auseinander. Ratsch! Zwölfe brannten los. Der Arme da war nicht der Schlimmste. Er ließ die Andern räsonniren und stemmte nur die Hände in die Hosentaschen und sah an der Thür zu. Die Rädelsführer rissen gleich beim ersten Trommelschlag aus. Der hat nun in's Gras gebissen...

Louise richtete den Kopf auf und sah sich im Kreise um. Alle redeten ihr zu, sich zu fassen, nach Hause zu gehen und sich in das Unabänderliche zu finden. Und wie sie so die sanften und gutgemeinten Worte hörte, fragte sie mit leiser Stimme den Mann, der eben so laut gesprochen:

Wo ist Danebrand?

Wo Danebrand wäre? wiederholten die Umstehenden fast einstimmig. Die geringen Leute sind dem Schmerz so aufmerksam, dem Leid so hülfreich...

Danebrand! meinte Kümmerlein. Den haben sie bei den Ohren festgehalten, meine Beste! Er sah den armen Jungen da fallen, rannte grade auf ihn zu, hob ihn auf die Schulter und wollte fort damit. Da tritt die Kolonne gegen ihn an und streckt ihm die Bayonnete entgegen. Er legt die Leiche – Der war gleich todt – legt sie auf die Erde, brüllt wie ein Stier und packt zwei, drei Gewehre und will sich Luft machen. Sie traten ihn aber doch nieder und haben ihm dann mit Schnupftüchern die Arme gebunden und fortgeführt. Wie er gebunden war, gab er nach.

Hackert wußte, daß Danebrand für Karl Eisold arbeiten half und sich dem Wohle dieser unglücklichen Familie ganz gewidmet hatte. Gern wär' er nun doch fortgeschlichen...

Aber jetzt grade schien Louise von der starren Betäubung des ersten Schreckens freigelassen. Sie brach in ein lautes Lachen und Weinen aus und rief:

Haben sie dich gemordet, Karl? Dich nun auch, wie so Viele, die in den zwei Jahren hingingen? Bist auch gefallen, wie schon die Tausend?

Mamsell! sagte Mullrich, gehen Sie nach Hause!

Lügt Ihr Menschen? fuhr sie fort, versteckt Ihr Euch hinter Eurer Furcht! Ihr Alle zittert und bebt vor dem Fluch, der über uns gekommen ist! Was haben wir Armen?

Geht, geht, Mamsell! drängte Kümmerlein...

Die Halle füllte sich von Menschen...

Die Kinder und die Alten, fuhr Louise mit bitterster, aus ihrem Innersten hervorbrechender Wehklage fort, die Kinder und die Alten holt die Krankheit, die uns Arme dahinrafft, die Jungen, unsre Brüder und Söhne, trifft die Kugel...

Laßt's jetzt gut sein! sagte Mullrich. Geht Kinder, geht nach Hause!

Die Halle füllte sich immer mehr... Hinaus da! riefen schon einige Polizeidiener. Zurück da! hier gibt's nichts!

Aber die Leute drängten... Louise schluchzte mit den Kindern laut und wollte sich von der Leiche des Bruders nicht trennen.

Klag' ich Euch denn allein an? sagte sie und lachte fast wie im Irrsinn. Ich, ich hab' ihn ja gemordet, Ihr nicht! Ich bin Schuld an deinem Tod, Karl! Karl! Ich bin Schuld!

Sie sank dabei so schwer nieder, daß die Leute sie aufgriffen und forttragen wollten...

Ich habe den Großvater umgebracht, stöhnte sie und murmelte nun Worte fort, die Niemand verstand.

Hackert hörte Alles hinter seinem entlegenen Pfeiler. Er verstand sie in der Halle von den hundert versammelten Menschen ganz allein. Auch fiel ihm der Mann mit rothem Barte und das Wort vom Punsch ein. Er konnte sich denken, daß Karl, der sittenstreng war und Danebrand liebte, diese Bekanntschaft nicht billigte. Vielleicht war er gestern deswegen nicht nach Hause gegangen, vielleicht deswegen nur in den Verein gegangen, den er seiner Jugend wegen und als Lehrling sonst nicht besucht hatte. Hackert, hinter dem Pfeiler schielend, sah das Anschwellen der Menge...

Louise gab dem Drängen der Polizeidiener, sich zu entfernen, nicht nach. Erst als der Assessor Müller erschien, die Wache herausrief und mit dem Bayonnet die Halle räumen zu lassen drohte, zogen sich die Neugierigen und offnen Tadler der Gewaltscene zurück. Kümmerlein mußte einen Fiaker für die Geschwister holen, die, um alles Aufsehen und alle Aufwiegelei, wie der Assessor sagte, zu vermeiden, sich im Wagen entfernen sollten.

Die Leiche wird heut Abend in das Todtenhaus auf den neuen Kirchhof gefahren! hieß es. Und nun fort! Fort hier! Keinen Auflauf!

Somit gingen auch allmälig die Menschen...

Die Geschwister, die sich plötzlich in der Halle fast allein sahen, zogen die Schwester von der Leiche fort...

Müller sprach von Leichenbeschau, Begräbniß, Bekleidung, neuem Kirchhof, ungestörtem Besuche daselbst, Armenrecht, Armenbehörde... Louise erwiderte mit den ihr so liebgewordenen Versen Louis Armands:

Des Volkes Tochter, arme Bettlerin!
Du bist nicht arm, was auch dein Elend spricht...

Gehen Sie jetzt! Da fährt der Wagen vor! Geben Sie keinen Anlaß zum Zusammenlauf! Fort Kinder, in den Wagen!

Auf die Straße will ich, rief Louise, auf dem Markt will ich ausschreien: Rache! Rache! Ihr habt meinen Bruder gemordet! Was that er Euch?

Man wollte das Mädchen mit Gewalt hinausführen. Ein Fiaker wartete. Das aus der Halle getriebene Volk mehrte sich nun draußen zu dichten Haufen am Eingang...

Laßt mich! schrie Louise und warf sich wieder auf den Bruder. Karl! Nicht einmal eine arme Hütte haben wir, in die wir dich tragen dürfen, wo du drei Tage bei uns bleibst, bis sie dich unter die Erde holen! Aber an deinem Grabe sollen sie zittern; da sollen sie's hören, die Feigen, die dich gemordet haben! An die Mauer sollen sie dich nicht werfen, wie einen todten Hund. An deine Grube sollen die Freunde treten, die freie Gemeinde soll singen, der Prediger reden und die Frauen werden Blumen bringen! Laßt mich, Schändliche! Wer gibt mir meinen Bruder wieder! Karl, ich lasse dich nicht!

Schon drängten vom Volke Muthigere herein, um das jammernde Mädchen, das da Allen das unverstandene Weh der Nichtbefriedigung im Volke austobte, vor der Polizei zu schützen, die sie mit Gewalt entfernen wollte. Die Wache im hintern Hofe trat in's Gewehr und entsandte eine Verstärkung zur Thorbesatzung. Louise aber schleuderte ihren Zorn heraus.

Und wenn Ihr Euch rüstet mit Kanonen und Mordfackeln gegen Weiber und arme Kinder! rief sie. Euer Tag wird hereinbrechen! Eure Haare sind gezählt, nicht blos von Gott, auch von uns! Hetzt uns nur, jagt uns nur wie das Wild! Stört uns nur in unserm reinen Glauben! Euer Glanz wird düster werden, wie Sturmgewitter! Eure kostbaren Gewänder werden Euch wie Spinnweben zerrissen werden und Euer Purpur wird Euch von den Schultern fallen! Auch unser Gott ist langmüthig, aber sein Gericht wird schrecklich sein, Ihr Tyrannen, Meineidigen, Gottesleugner!

Eben warf man krachend die Thorflügel zu, um die zuströmende Menge zurückzuhalten. Louise wurde von den Händen der Polizei ergriffen. Aber Riesenkraft fühlend, wand sie sich los, nahm die Geschwister mit Gewalt unter ihren Schutz und flüchtete sich zu der Säule hin, hinter der eben Hackert hervortrat.

Hackert! rief sie schaudernd...

Das Gefühl, einem Mädchen, das ihn so hoch verehrte, beizuspringen, hatte den fast kalten Beobachter hervorgetrieben. Die Aufwallung eines edlen Zorns kannte Hackert nicht, aber eine Vernunftreflexion, Mahnung zur Besonnenheit, stand ihm vollkommen zu Gebote.

Was ist denn? sagte er ruhig, die Hände aus den Taschen ziehend und wandte sich, da er Louisen's vorwurfsvollen Blick nicht ertragen konnte, zu den Polizeidienern und Soldaten. Laßt doch die Arme sich ausjammern! Injurien von Unzurechnungsfähigen steckt man nach Landrecht Theil 3, Titel so und so, geduldig ein! Ja, liebe Louise, das ist Malheur. Der arme Karl! Fassen Sie sich! Ich wünschte, ich könnte ihn mit einer Rede aufwecken; aber Sie wissen wohl, ich kann schlecht trösten. Guten Tag Riekchen! Guten Tag Wilhelm! Ja, Das ist schlimm! Es ist nun aber. Faßt Euch! Kommt! Hier! Geht hier heraus! Hier ist eine Seitenthür! Kommen Sie, Louise! Wenn Eins helfen könnte! Aber es ist so. Man verwindet's wieder. Was ist Leben? Nichts, als daß man weiß, daß man lebt. Wenn der Karl wüßte, daß er nicht lebt, und nichts Besseres hätte, Das wäre schrecklich; aber in Dem ist Nacht, da ist's dunkel. Sie glauben ja, Louise, an's Paradies; es läutet jetzt eben von allen Kirchen ganz feierlich. Hier auf Erden ist der Himmel und die Hölle beisammen, dacht' ich mir. Aber die Glocken draußen singen dem guten Karl ein besser Grablied. Kommt, Kinder, der Gang da! So! Die Droschke fährt uns schon nach. Ich führe mit Ihnen, liebe Louise, wenn ich ein Tröster wäre...

Und so sprach Hackert blasirt durcheinander fort und Louise schwieg und die Kinder faßten ihn bei der Hand und sie waren von dem Schauplatz des Jammers entfernt, sie wußten nicht wie. Und für Louise... für sie lag in Hackert's Art doch ein Trost. Er wiederholte ihren Schmerz nicht, er unterstützte ihre Verzweiflung nicht durch gleiches Entflammen. Und grade dadurch bot er eine wirkliche Anlehnung. Louise mochte nicht nach seiner Lage fragen. Sie konnte es auch nicht, da ihr dazu die Sammlung fehlte. Der Wagen war an eine entgegengesetzte Thür des weitläufigen Gebäudes gefahren, wo sie jetzt das Gebäude verlassen mußten, die Menschen hatten sich verlaufen...

Seht, Ihr Kinder, sagte Hackert ruhig mit gewagter Wirkung, als Louise einstieg, Euch tröstet schon die Gelegenheit, einmal fahren zu können! Das muß Euch erst geschehen, wenn Euer Karl todt ist! Brandgasse Nr. 9!

Hackert bezahlte den Kutscher, die fünf waren untergebracht, der Wagen fuhr fort. Louise sah nicht mehr zu dem Polizeiagenten auf. Die Kinder schluchzten noch, aber schon nur noch deshalb, weil die Schwester weinte. Das Fahren war ihnen in der That... ein Trost!

Hackert, der die schwache Menschennatur so traurig gut kannte, kehrte in die Halle zurück, die inzwischen leer geworden war. Der Thorweg blieb geschlossen. Es sah düster, fast furchterregend in der Halle aus. Er trat an die Tragbahre, auf die blutige Strohmatte. Unwillkürlich war's ihm, als sollte er zu dem blassen, wachsgelben Antlitz sagen: Karl, stehen Sie auf! Es schlägt fünf Uhr! Großvater hustet schon, wie er immer thut, wenn der Hahn kräht und die Uhren aufgezogen werden sollen... Er kannte den grauen Rock mit weißen Knöpfen, die schwarze losgeknöpfte Halsbinde, die Mütze mit der kleinen Cokarde... Die Kugel war durch die Gegend der oberen Rippen gefahren...

Stumm und nachdenklich sah Hackert auf das arme Opfer politischer Aufregungen, die seinem Sinne fremd waren. Es war eine andre Welt, in der Karl Eisold gelebt hatte, eine andre, in der sich Hackert tummelte. Wie die Sonntagsglocken draußen so dumpf läuteten, war's ihm, als flüsterte ihm eine Stimme zu:

Fehlt dir Elenden nicht die Liebe? Du bist nicht einmal werth, so wie Der zu sterben! Es gibt ein Jenseits, wo die Rollen sich umtauschen und dieser Jüngling im weißen Gewande mit der Märtyrerpalme in die Hallen der Seligen tritt! Was ist diese Welt? Was sind diese Anmaßungen? Was sind diese Häuser, diese Bayonnete dort, diese Eisenstäbe vor den Fenstern? Höre die Glocken! Sie mahnen dich an eine andre Welt!

Es überkam Hackerten wirklich ein geistiger Zustand wie der seiner physischen Krankheit. Er wandelte wie im Traum. Er fühlte, daß er wachte, aber er war seiner nicht mächtig. Er verließ die blutige Strohdecke, die einsame Halle, das Profoßhaus. Er dachte nicht mehr an den Assessor, nicht an sein Anliegen, endlich Murray zu sprechen. Er irrte so über die Straßen hin. Erst im Gewühle der lebhaftesten Stadttheile kam er zu sich und mußte sich's von den Augen wegwischen, so stand's ihm wie ein Bild vor ihnen. Der graue Novemberhimmel tröpfelte. Es fror ihn. Er sah sich um, wo er war. Er stand grade vor des Justizraths Wohnung. Die Glocken läuteten in nahen und fernen Stadttheilen. Die hinter dem alten Tempelhause gelegene Johanniskirche war schon lebendig vom brausenden Orgelstrom...

Da gedachte er der neulichen Aufforderung seines Pflegevaters, ihn zu besuchen, wenn Sonntags in der Kirche gepredigt würde.

Er schellte also an dem Hause seiner Jugend. Es öffnete sich. Er trat ein. Niemand da. Er klopfte an die Geschäftsthüren. Sie waren verschlossen. Er ging an die hintere Thür, wo Schlurck arbeitete. Auch sie verschlossen...

O, sagte er sich, wenn du nur nicht irgend Einem begegnetest, der dich aus deinem Traume risse! Nur Bartusch, nur Jeannette nicht! Nur nicht Menschen! Nur nicht Erinnerungen von sonst! Wär's Melanie!... Ganz wohl that ihm, daß Alles so öde und einsam in dem Hause war. Die Treppen zu ersteigen wagte er nicht. Er sah die alten bekannten Bilder, die auf den Wänden der Treppen hingen. Er hörte Niemanden. Daß die Hausthür aufgegangen war auf sein Schellen, war wie von Geisterhand geschehen.

Aber zuletzt war es doch Jeannette, die die Treppe herunterrief:

Wer ist da?

Hackert stand zur Hälfte oben und fragte nach dem Justizrath.

Staunen, Verwundern, Zögern –

Er hat mich bestellt – Wie geht's? Was sagte der Stallmeister?

Neumann ist bei Lasally – ich zieh' auch zu ihm, Fritz! Hier wird's still – öde – die Justizräthin ist in der Kirche – Melanie liest den ganzen Tag Bücher und spielt Harfe wieder und Klavier – Hören Sie – da – da spielt sie...

Melanie, die im Klavierspielen sonst so Träge, spielte ein träumerisches Adagio. Auch sie schien die Predigt in der Kirche durch die Wahl des Musikstücks zu ehren...

Er hat Sie bestellt? sagte Jeannette staunend. Hackert, ist's auch wahr? Haben Sie doch nichts Schlimmes im Sinn –?

Hackert lauschte den Tönen und blinzelte nur mit den grauen Augen –

Bartusch ist auch in der Kirche und die Justizräthin – Hackert, soll ich Sie wirklich melden?

Hackert nickte.

Man hörte einen Schlafrock rauschen. Er kam von oben her. Es war der Justizrath, der rasch, scheinbar in großer Aufregung, mit Papieren in der Hand, von einer Corridorthür oben in die von Jeannetten geöffnete eintreten wollte.

Herr Justizrath –

Was ist? rief Schlurck auffahrend, fast wild...

Hackert ist da...

Wer? Was? rief Schlurck und blickte um sich wie irrsinnig und sah den auf der Treppe stehenden Pflegesohn...

Was wollen Sie? fuhr er mit plötzlich leichenblasser Miene den ihn auf seine eigne Aufforderung Besuchenden an und doch erstarb ihm das Wort auf der Zunge. Er war von Hackert's Begegnung an dieser Stelle, um diese Stunde so betroffen, wie damals, als er ihn auf dem Heidekrug um Mitternacht hatte schlafwandeln sehen...

Hackert, befremdet über diese Aufnahme, mit dem ihm immer gegenwärtigen Zorne auflodernd, ließ die tonlosen Worte fallen:

Es ist ja Sonntag Vormittag, Herr Justizrath! Die Glocken läuten ja! Aus der Johanniskirche hört man die Orgel...

Schlurck besann sich auf seine eigne Aufforderung und suchte sich zu fassen. Er schien zu bereuen, daß er sich auf einem so heftigen Erschrecken über Hackert's Anwesenheit hatte ertappen lassen...

Ich störe Sie! Ein ander Mal! sagte Hackert und wollte gehen...

Nun aber schien über den Justizrath eine neue Gedankenreihe zu kommen. Er rückte die goldne Brille in die Höhe, strich sich die spärlichen grauen Haare und sagte:

Nein, nein, ich besinne mich ja! Ja wohl, ja wohl! Jeannette geh' Sie! Was lauert Sie! Fort! Aber daß Sie Melanie nichts sagt! Hört Sie?

Jeannette hielt diese Aufregung des Justizrathes für völlig in der Ordnung. Sie wußte, wie gewagt es von Hackert war, in diesem Hause zu erscheinen. Sie wandte sich nach den Zimmern, die zum Hofe hinaus lagen...

Daß du auch grade heute – begann Schlurck und schien wiederum zu überlegen, ob er Hackert in die Zimmer lassen sollte oder nicht. Melanie spielte am Klavier. Das beruhigte ihn wenigstens... es klang so wehmüthig, so schmelzend, so sanft aus den vordern Zimmern her...

Ich wollte nur wegen des Rings, von dem Sie neulich sprachen, sagte Hackert, als der Justizrath ihm zuwinkte, leise aufzutreten, und ihn auf die Thürschwelle nöthigte.

Welcher Ring? Ah so! Ja! ja! Das kann ja geschehen. Komm, mein Sohn! Leise! Leise! Sie spielt...

Alle diese Worte sprach Schlurck durcheinander wie Jemand, der seiner selbst nicht bewußt war...

Was ist ihm nur? dachte Hackert und trat in die ihn so traulich begrüßenden Räume... hier auf gebohnte Fußböden, dort auf bunte Teppiche. Er sah die überwinternden Blumenstöcke, die Porzellananhäufungen hinter Glasschränken, die Gemälde, die Vasen in den kleinen niedrigen, aber kostbar austapezierten Zimmern. Ein Papagey in einem großen Messingbauer kreischte auf, als wenn er Hackerten erkannte...

Schlurck ging voran. Sein Auftreten war schwankend. Er hielt sich zuweilen und blieb wieder stehen, sah Hackerten an und rückte die Brille hin und her...

Sind Sie krank, Herr Justizrath?

Schlurck hörte nicht, sondern brummte nur vor sich hin:

Der Ring! Warum auch grade heute... was sagst du Hackert? Nein, nein, rede nicht! Sei still! Sie könnte hören...

Damit waren sie an jenes Zimmer gekommen, von wo aus eine Wendeltreppe in die untere Arbeitsstube des Justizraths führte. Beide Gemächer gehörten ihm selbst an. Er schien in der Meinung zu sein, den Ring in dem obern Zimmer zu finden...

Er schloß einen Schrank auf und suchte überall, indem seine Hände zitterten...

Hackert kannte seinen Pflegevater hinlänglich, um sich zu sagen, daß eine solche Aufregung nur mit einem seltsamen, ganz unerhörten Vorgange in Verbindung stehen konnte. Noch vor wenig Tagen war ihm Schlurck so nicht entstellt, so todtenbleich, so abgefallen nicht erschienen. Er erklärte auch, sich entfernen zu wollen und ein ander Mal wieder zu kommen...

Nein, nein, Hackertchen, sagte der Justizrath, es liegt so viel auf mir. Deine Stelle ist noch immer nicht würdig besetzt. Der Ring! Ich entsinne mich doch... ein rothes Etui war's, worin ich ihn aufbewahrte... ich gratulire, wenn du deinen Stammbaum entdeckst. Ich habe mir Mühe genug gegeben, dir einen bessern Vater zu verschaffen, als ich bin, Fritz...

Und während der Justizrath noch so plaudernd und seine Erregung bergend suchte und suchte, hielt er plötzlich inne, sah Hackerten mit einer Miene fast des Mitleids an, schlug sich an die Stirn und ließ die Worte fallen:

Nein aber, daß grade Du...

Ich? Was ist?

Eben so rasch wollte Schlurck den Eindruck seiner Worte verwischen.

Warum ich?

Nichts! Nichts!

Sie finden den Ring nicht! Er liegt unten...

Unten? Nein!

In dem Depositenschrank...

Was weißt du? fuhr Schlurck auf.

Ein rothes Etui! Im Fach Nr. 13 links liegt ein rothes Etui!

Du irrst, du irrst! lenkte ungeduldig, fast zitternd der Justizrath ein, wühlte noch einige Augenblicke in dem Sekretär, erklärte das Etui nicht finden zu können und wollte eben zuschließen und Hackerten wieder zurücklassen nach vorn, als er hörte, daß Melanie mit dem Klavierspiele aufgehört hatte. Thüren gingen. Schlurck's Unruhe verrieth, daß er annahm, seine Tochter suchte ihn vielleicht und könnte den ihr so tödtlich verhaßten Hackert hier finden...

Er winkte fast mechanisch dem Besuch, näher an die Wendeltreppe zu treten, hielt ihn dort aber zurück und bedeutete ihn zu schweigen. Er flüsterte, er wollte selbst hinuntergehen, um unten nach dem Etui zu suchen...

Sonntags pflegte dies untere Kabinet durch die vorgelegten und geschlossenen Fensterläden dunkel zu sein. Heut' war es hell. Um so auffallender mußt' es Hackerten erscheinen, daß der Justizrath ein weiteres Nachfolgen auf der Wendeltreppe entschieden verbot...

Bleibst da! Bleibst da! sagte er fast schnarrend und heftig.

Ich kann ja unten gehen, wenn ich doch...

Bleibst da! Bleibst da!

Hackert begriff nicht, was hier vorging. Unten hörte er den Justizrath rumoren. Er selbst blieb erst oben, dann auf der viertel, zuletzt auf der halben Treppe. Schon entdeckte er eine sonderbare Unordnung in dem Kabinet, eine Verwirrung, die sonst nie in ihm herrschte. Papiere mit Siegeln lagen auf der Erde. Die Schubläden sonst verschlossener eichner Schränke waren aufgezogen, ein Sessel umgestürzt, die Fensterläden nur leise angelehnt, Geld klimperte, wie wenn es auf der Erde läge und der nach dem rothen Etui Suchende darüber stolperte. Endlich schien Schlurck das Kästchen gefunden zu haben, sah sich um und bemerkte, daß Hackert gefolgt war. Er erstarrte darüber.

Bleibst oben! rief er tonlos. Verdammter...

Und wie Schlurck eben so fluchend hinaufstieg, hörte man ganz in der Nähe Thüren gehen und Kleider rauschen. Jemand schien den Justizrath zu suchen. Vielleicht Melanie. Unwillkürlich trat Hackert trotz des Verbotes niedriger und war mit seinem Kopf schon in ebner Linie mit der ersten Stufe der Treppe, so hurtig, so behend, daß ihn die etwa eintretende Melanie nicht sehen konnte. Und im selben Augenblick erscholl ihre Stimme:

Papa!

Schlurck konnte nicht hindern, daß Hackert nun mit zwei Sprüngen unten war.

Papa! rief es wieder von oben.

Ich kann ja hier unten gehen, sagte Hackert und wollte durch jene Thür sich entfernen, durch welche damals der Justizrath dem draußen lärmenden Bello des Fuhrmanns Peters Ruhe gebot. Er wußte, daß der Schlüssel von innen stak.

Doch fehlte dieser Schlüssel und Schlurck stand da, rathlos, wie vom Donner gerührt, wohl lächelnd, aber wie in wahnsinniger Verlegenheit.

Zum Glück hörte man Melanie nicht wieder, aber die Unordnung, die hier unten herrschte, war doch nicht mehr zu verbergen. Durch die nichtgeschlossenen Fensterläden brach ein Lichtschimmer, hell genug, um den ohnehin an das Dunkel inzwischen schon gewöhnten Augen Dinge zu zeigen, die befremdlich genug waren...

Aber, zum Teufel, Justizrath, brach Hackert aus. Hier möchte man ja meinen, hier ist Einer eingebrochen!

Wie? Was? stotterte Schlurck und versuchte, aufathmend, daß wenigstens Melanie fernblieb, einige Scherze in seiner alten Art...

Hier ist der Ring, sagte er zu dem dämonisch aufblickenden Hackert und stieß zu gleicher Zeit, während er diesem ein Etui reichte, einige Schlüssel und eine eiserne Stange hinterrücks von sich. Siehst du? Dieses zerbrochene Stück... Komm jetzt hinauf!

Lassen Sie doch noch! Ihr Fensterladen ist ja offen...

Hackert trat an's Fenster und hatte durch eine zerbrochne Scheibe nur nöthig, den Laden zurückzustoßen. Da sah man denn den Zustand des Zimmers. Nur eines einzigen Überblicks bedurfte es für den gewandten jungen Spürkopf, die Situation zu übersehen. Der furchtbarste Verdacht wurde ihm zur augenblicklichen Gewißheit. Schlurck wollte die Miene annehmen, als wär' er an diesem stillen Sonntagsmorgen durch Einbruch beraubt worden. Das stand ihm im Nu fest. Und eben so rasch schoß ihm wie mit einem Tigersprunge der Gedanke durch den Kopf: Wärst du nicht hier unten, dem Justizrath gegenüber, nun selbst gewesen, so hättest du in die Lage kommen können, für den Dieb zu gelten! Und darum hergelockt an einem Sonntag Vormittag? Darum die Versuchung mit dem Ring? Darum...

Er riß das Etui an sich mit krampfhafter Wuth, sprang auf Schlurck zu, daß dieser zurücktaumelte und rief:

Schlurck!

Was ist?

Ein durchbohrender, tief in alle Falten der Seele wie mit tausend Pfeilen zugleich zielender Blick aus Hackert's starren Augen auf den Justizrath...

Aber zu sagen wagte er doch nicht, was er dachte...

Schlurck aber verstand ihn sogleich, bebte und meinte nur:

Welche Unordnung! Hilf mir aufräumen, Fritz! So, so! Wie müde bin ich! Schon frühmorgens! Hilf doch! Aber denke nur nicht, ich wäre gewissenlos. Ich habe viele Clienten verloren! Da lagen sonst Tausende, jetzt sind's Papierschnitzel. Hast den Ring! Sieh nach! v. R. v. R. Weiter nichts, aber viel gesagt! Prinzessin von Rudolstadt, von Rußland... ho! ho! Junge! Siehst du, hier hast du oft genug gesessen und die Feder gekaut. Die Welt, mein Sohn, ist ein Dudelsack, bei dem der Wind die Hauptsache ist. Nur Luft, nur Wind, dann pfeift sich's und tanzt sich's! Hast den Ring? Adieu, mein Sohn! Adieu! Mußt oben gehen! Leise! Leise! Hier fehlt der Schlüssel! Leise! Leise!

Und dies »Leise!« war's, was Hackert nicht ertragen konnte. Er hätte sich in Alles gefunden, jeden Verdacht niedergeschlagen, er hätte mit Schlurck Mitleid haben können, sich selbst überwunden, aber jetzt: leise? Immer leise? Ewig leise?

Und doch sagte er noch nichts, sondern hielt an sich und lugte nur zu den Schränken und sprach:

Justizrath, ich weiß noch Alles! Da lagen die Mündelgelder der minorennen Grafen Werdenbach; da lag eine Erbschaft, die so viel Prozesse kostete; ist sie nun entschieden? Da weiß ich, in Nr. 9, die angesammelten Zinsen und Kapitalien der polnischen Äbtissin Sybille im Kloster zum Herzen Jesu, die für die Nachkommen eines gewissen Kaminski ausgesetzt waren, der nach Frankreich floh...

Recht! Recht, mein Junge! Warst ein Genie! Kennst Alles: Jetzt aber leise! Leise!

Leise! Zum Teufel! wandte sich Hackert. Vor wem hab' ich mich denn zu fürchten?

Fritz, misbrauche meine Gutmüthigkeit nicht!

Gutmüthigkeit, daß ich hierhergelockt wurde, während hier Alles vorbereitet wird, zum Schein, als wär' ich's, der hier gestohlen...

Hackert! stieß Schlurck halb ohnmächtig heraus. Seine Lippen bebten, sein Auge blickte starr. Er mußte das Geländer der Wendeltreppe fassen, um sich zu halten. Er begriff jetzt doch erst ganz, was in Hackert's Seele vorging. Von dem Gedanken: der Unglückliche glaubt, ich wollte ihn zum Verdächtigen eines Verbrechens machen, das vielleicht in seiner eignen Brust noch schlummerte und vielleicht eben erst halb ausgeführt war, war er bis zur Ohnmacht überrascht und überwältigt...

In dem Augenblick ging oben eine Thür. Gewänder rauschten. Melanie rief... Väterchen! Sie war an der Treppe. Sie kam. Hackert springt in eine Ecke des Zimmers, wo jener Schirm stand, hinter welchem einst Dankmar's Schrein mit dem Kreuze gestanden.

Melanie beugte den Kopf über das Geländer der Treppe... ein paar Sprünge... sie war unten...

Schlurck wie todt taumelte in einen Sessel.


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