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Wie dumpf und stickig das hier ist! sagte Melanie, als sie beim Vater unten war und sich staunend umblickte. Und eine Scheibe zerbrochen! Ei welche Nachlässigkeit! Du arbeitest, Vater?
Schlurck hatte sich in der Vernichtung, die ihn auf den Sessel geworfen, wenigstens das Ansehen gegeben, als läse er in den durcheinander geworfenen Akten.
Hackert blieb in seinem Versteck unbeweglich.
Die Kirche dauert lang, sagte Melanie etwas aufräumend, und ich glaube fast, die Mutter wird noch Besuche machen.
Schlurck nickte. Er hatte sich noch immer nicht sammeln können.
Väterchen, es ist recht lange her, daß wir uns nicht im Stillen gesprochen haben!
Schlurck seufzte und schauderte grade über die Todtenstille im Zimmer.
Warum sind wir nur seit geraumer Zeit so unglücklich! Mit diesem letzten Sommer sind alle unsre Freuden abgeblüht.
Schlurck sammelte sich, griff mechanisch nach der goldnen Dose und stotterte, sich zu künstlichem Humor zwingend, den Vers:
Des Lebens Mai blüht einmal und nicht wieder –
Hackert hätte dazwischen springen und rufen mögen, daß dies Wort auf Melanie nicht passe. Ihr schien ein ewiger Mai zu blühen. Wol ruhte auf der edlen Stirn eine Wolke von Melancholie, wol schienen die Formen des Antlitzes etwas herabgezogen, etwas in jenes Oval gesenkt, das den Kummer der Seele verräth; aber ein geminderter Schönheitsglanz war darum doch nicht sichtbar. Es war die alte sylphidische Gestalt, es waren die gewölbten Schultern, der stolze Nacken, das reiche, kunstvoll verschlungene dunkle Haar, die vollen Arme, die unter einem leichten Hauspelzüberwurfe in schöner Rundung hervorschimmerten und sich über den Sessel des Vaters lehnten... Hackert hielt den Athem an.
Darf ich dir eine Neugier verrathen, Väterchen? begann Melanie. Was hast du kürzlich mit dem Fürsten bei der Geheimräthin in dem türkischen Zelt verhandelt?
Schlurck's erster Gedanke war nun, zu erwidern, sie wollten hinaufgehen. Doch hinderte ihn die Angst vor Hackert. Er kannte ihn genug, um sich zu sagen, daß seine tückische Natur zu schonen war. Aber nicht nur Furcht vor dem versteckten Lauscher, sondern auch Mitleid bestimmte ihn, nicht vom Hinaufgehen zu reden. Er malte sich Alles aus, was in Hackert's Innern vorgehen mußte und gleichviel, welches der Grund seiner vorherigen Aufregung gewesen war, gleichviel welches Verbrechen der zerstörten, jetzt leidlich wiederhergestellten Ordnung des Zimmers zum Grunde lag, die Vorstellung war ihm fremd gewesen, Hackert zu sich zu locken und ihn in der Art, wie der Mistrauische es andeutete, verdächtig zu machen! Er litt ernstlich ebenso unter dieser Vorstellung, wie er ohnehin halb verzweifelnd sich schon vor Schaam fühlen mußte. Und so sagte er nur:
Ah! Bah! Laß diese Sachen! Erzähl' mir heitre Geschichten! Was hat dich denn plötzlich so musikalisch gemacht? Ich habe dich abonnirt auf die Symphoniesoireen. Siehst du! Wo sind nur die Billete? Hier, hier...
Er suchte...
Das ist sehr schön von dir, sagte Melanie. Aber jetzt weiche mir nicht aus, Väterchen, sondern sprich: Was hattest du so lange mit dem Fürsten?
Frag' ihn Das selbst! sagte Schlurck und faßte das Kinn seiner Tochter, es noch zitternd emporhebend.
Nein, Vater, antwortete Melanie ernst und unter dem Pelz die Arme zusammenschlagend; nein, ich frage den Fürsten nie nach solchen Dingen, die er mir nicht selbst erzählt. Ich habe gefunden, daß dies ein Mann ist, der seine eigne und höchst wunderliche Behandlung erfordert.
Unter andern Umständen hätte Schlurck zu dem Lächeln seiner Tochter selbst mitgelächelt. Diesmal standen ihm seine Mienen, die er zu einer feinen Anerkennung der Philosophie seines Kindes verzog, mehr schmerzlich als erfreulich.
Melanie wiederholte ihre Bitte und Schlurck, fast die Gelegenheit ergreifend, vor der anwesenden, so gefährlichen, so tief ihn durchschauenden dritten Person eine Rechtfertigung zu versuchen, antwortete:
Mein gutes Kind! Ich war kürzlich unten in meinem Keller, dem einzigen Orte, wo wir Männer uns sorglos der Gefahr aussetzen, den Schnupfen zu bekommen. Wie ich auf den Gestellen die umgelegten Sorgenbrecher sah, schlanke, lange, kleine, kurze, die geschmacklosen Boxbeutel aus Würzburg und was sonst dort zur Ansprache an Herz und Gemüth ausgelegt ist, überfiel mich recht der Kummer, daß der alte Rapport zwischen mir und meinen Zöglingen da unten hin ist. Wie behaglich wählt' ich sonst aus, was die Tafel schmücken, die Gäste erfreuen sollte! Wie schwelgte ich in den langen spanischen und portugiesischen Etiketten, die unsre Leute beim Serviren meiner Kostbarkeiten den Gästen gravitätisch zuflüstern mußten! Jetzt sagen alle diese Herrlichkeiten: Don Ranudo de Colibrados! Zu meiner Zeit war Das ein beliebtes Theaterstück, Kind, in dem ein pauvrer Edelmann vorkam, der auf seine Würde hielt, aber sich die Löcher seiner Kleider mit Tinte verschmierte. Liebes Kind, auf meine Würde fühl' ich leider, werd' ich in unsrer jetzigen Lage nicht viel halten können. Die Emporkömmlinge haben nichts von der Grandezza des gebornen Adels. Ich nun vollends, meine gute Melanie, bin zum Komödianten in einem Grade untauglich, daß ich im Stande wäre, aus der einfachsten und leichtesten Rolle zu fallen. Deine Mutter hätte wol allerdings das Talent, alle Welt glauben zu machen, daß wir nur in Folge unsrer veredelten Grundsätze, in Folge unsrer geistlichen Umkehr und Einkehr uns einzuschränken anfingen. Sie könnte die Rolle einer aus himmlischen Rücksichten sich beschränkenden irdischen Glückseligkeit vortrefflich durchführen. Ich kann Das nicht. Ich war früher in meinen guten Zeiten wahr, prahlte nie, sondern gab und freute mich des blauen Sonnenscheins; jetzt, wo mir soviel verloren gegangen ist, wo die Papiere im Werthe sanken, meine Administrationen neu geordnet werden und wohl ganz eingehen dürften...
Vergiß dein letztes Opfer nicht, warf Melanie trübe den Kopf aufstützend dazwischen, Lasally!
Es kam Eins um's Andre, Kind! Genug...
Nein, grade diese Summe in jetziger Zeit so baar auf den Tisch gelegt, ohne deshalb Anleihen machen zu dürfen, die du deines Credits wegen vermeiden mußtest...
Zehntausend Thaler sollten eine Bagatelle für mich sein...
Und sind es nicht, wenn sie plötzlich da sein mußten...
Da sein mußten! Ah! Ja, ja! Ich fand es in der Ordnung, daß sich dies Verhältniß so löste. Es ist ja erbärmlich, einen Bewerber seiner Tochter dulden, der von der Voraussetzung großen Vermögens ausgeht und ihm hernach sagen: Da hast du nun mein Kind! Das ist ein Kapital! Im Übrigen findest du reinen Tisch! Ich verurtheile Lasally nicht, daß er die Summe forderte. Er ist Philosoph wie ich. Er gehört einer andern Sekte an als ich; aber System war immer in seinen Demonstrationen. Sie waren ruhig, kalt bis zum Prügelnswerthen, aber in seiner Voraussetzung, daß ich reich wäre, hatte er Recht, sich nur mit jener Anleihe, wie er es nennt und ein Paar von deinen getragenen langen Handschuhen abfinden zu lassen...
Hackert empfand eben ein Gelüst, als hätte er in der Ottokarstraße mögen Feuer anlegen...
Genug, lenkte Schlurck, der sich vor seinem Pflegekind in diesen Dingen um so weniger Zwang auferlegte, als er sich rechtfertigen mußte, wieder seufzend ein, genug ich besitze das Talent nicht, mit dem Gefühl der Beengung Komödie zu spielen. Nur aus der Fülle heraus kann ich fröhlich sein. Wohl gibt es einen Ausweg, den große Geister in solchen Fällen oft mit Geschick eingeschlagen haben. Es gibt bewunderungswürdige Genies des Schuldenmachens. Auch zu diesen gehör' ich nicht. Die Elasticität, die zum Lügen gehört, kann ich mir nicht geben. Ich kann nicht bei Juden und Wucherern herumfahren, große Manieren, augenblickliche Verlegenheiten affectiren, ich kann Das nicht. Ich habe zeitlebens auf meine guten Eigenschaften gehalten und meine schlechten nie verdeckt. Ging' es nach mir, Herzlieb, ich spielte jetzt die Rolle des Parasiten, dem seine Gönner gekündigt haben, ich ginge in Lumpen über die Gasse...
Vater! unterbrach Melanie den schmerzlichen, von Thränen untermischten Humor des leichtsinnigen, so schlaff und doch wehmüthig haltlosen Justizrathes.
Gut, gut, gut! sagte er beschwichtigend. Ich thu' es nicht, ich weiß, daß die Rücksicht auf Euch mir den Übergang von der Schule Epikur's zur cynischen verbietet. Da ich also konsequent sein soll, was that ich neulich bei der Geheimräthin? Geh weg, der Fürst wird dir davon nicht gesprochen haben!
Nein, nein, Vater!
Aber Kind, du willst geheimnißvoll gegen deinen Vater sein!
In Schlurck's Blicken – die Brille lag vor ihm oder wurde in gewaltiger Aufregung mechanisch mit seinem ostindischen Taschentuche geputzt – spielten die kleinen Schlangen der Frivolität mit den Merkmalen der Trauer durcheinander. Er zupfte Melanie flüchtig am Ohr und da sie schwieg, sagte er, trotz Hackert, der athemlos lauschte:
Wirst doch mit deinem Vater nicht schäkern?
Schlurck wußte, wie Hackert zu Melanie stand. Tief durchschaut von einem jungen leichtsinnigen Manne, den er im Grunde liebte wie seinen Sohn, wollt' er ihn wieder, wie sonst, in die ganze Lage seines Hauses einblicken lassen. Er wußte, wie Menschen nie so verwildert und gewissenlos sind, daß sie nicht dem Gefühle der Großmuth noch zugänglich blieben. Er ahnte, daß Hackert von ihm in Güte scheiden, sich mit ihm aussöhnen, ihn, komme was da wolle, nimmer verderben würde, wenn er ihn Zeuge dieser Geständnisse bleiben ließ. Jetzt hinaufgehen – Das hätte den Lauscher gefährlich gemacht.
Melanie begann mit schmerzlichem Ausdruck:
Papa, dies Verhältniß ist ein närrisches Buch, in dem Vielerlei zu lesen ist und doch weiß man nicht, was der Verfasser eigentlich will.
Schlurck ergriff die Dose und horchte auf. Seine Blicke waren auf den dunklen Winkel gerichtet, wo Hackert mit einer Zurückhaltung, die den Justizrath ermuthigte, lauschte...
Ich sah diesen Egon zum ersten Male auf einem Ritt nach Solitüde. Neben ihm saßen die beiden Wildungen... Dankmar Wildungen...
Der Vater seufzte. Melanie schlug die Augen nieder.
Es hätte Dankmarn herabdrücken sollen, ein Geringerer neben einem Vornehmen zu sitzen. Und ich hatte den Abend doch nur Augen für ihn!
Für den Abscheulichen, sagte Schlurck, der in diesem Raume, dort auf deinem Sessel einst saß und...
Er brach ab, um Melanie nicht zu verwunden und nicht zu viel zu verrathen. Die Liebe für Dankmar war bei Melanie das heilige Kleinod, die wunderbare Reliquie, die im Schreine ihres Herzens, wenn auch mit hundert Gehäusen umschlossen, unentweiht ruhen geblieben. Die Sommertage von Hohenberg und Plessen konnte ihr kein Glanz überblenden. Keine Fürstenhuldigung, keine Anbetung des wirklichen Egon konnte jenem magischen Zauber gleichkommen, der diesen Erinnerungen geblieben war. Mit Dankmar hätte Melanie ihres eigensten Wesens sich entkleiden können, wie es der so heiß Geliebte nur von ihr fordern mochte! Der Vater kannte diesen Schmerz, kannte diese Anbetung, diese feste, unausrottbare Wurzel eines einmal empfangenen Eindrucks. Er sagte einmal: Mit diesem Dankmar bricht die Poesie meiner Tochter zusammen! Er wußte nicht recht, was er damit bezeichnete. Die Schönheit, die Anmuth, die Wirkung, auch der Leichtsinn, auch die Tändelei, jede flüchtigste Neigung blieb ihr; aber das Eine, das letzte allein mächtige Wort des Lebens lag doch nur in jener ihr erst den innern Halt gebenden Liebe, die wie auf verborgenem Meeresgrunde gebettet war und für diese Erde nun nicht mehr sein sollte! Damals nach den poetischen Tagen von Hohenberg hatte Schlurck Nächte daran gesetzt, Dankmarn für seinen spröden Übermuth in jener Frühstunde zu züchtigen. Er hatte mit einem Fleißaufwande, der ihn alle seine andern Angelegenheiten vernachlässigen ließ, daran gearbeitet, daß Dankmar den Prozeß mit der Stadt in beiden Instanzen fast so gut wie schon verloren hatte. Und dennoch, ihm gegenüber Sieger zu bleiben, schmerzte ihn fast um Melanie, die Dankmarn ihre stille, geheimnißvolle Liebe bewahrte und um einen Augenblick wie jenen, als sie in der Mondnacht an der Marmorvase im Hohenbergischen Garten von Dankmar's Arm ergriffen eine Weile an seinem Herzen ruhte, mit Freuden all' die Huldigungen hingegeben hätte, die ihr jetzt von einem wirklichen Fürsten so überraschend zu Theil wurden.
Sie erzählte:
Bei der Geheimräthin sah ich den Fürsten einige Tage nach dieser Begegnung auf dem Solitüder Wege. Ich erkannte ihn kaum wieder. Er war sehr artig, sehr zuvorkommend. Als ich ihm dann auf's Neue begegnete, schien er sich über mich orientirt zu haben. Er beklagte die Misverhältnisse, die ihn von dir getrennt hätten. Er erwähnte Dankmar Wildungen, Hohenberg und lachte über meine Täuschungen mehr, als mein Stolz ertragen mochte. Sein Selbstvertrauen, mich um meiner Eitelkeit willen schneller erobern zu können, reizte mich. Ich war ablehnend, spröde sogar bis zur ungnädigen Rüge der Geheimräthin, die mich fast zu benutzen scheint als ein Mittel, ihre Häuslichkeit dem plötzlich so ergebenen Prinzen behaglicher zu machen...
Die Verbindung des Fürsten mit Pauline von Harder war genugsam schon im Schlurck'schen Hause ihrer Seltsamkeit wegen besprochen worden. Schlurck ermunterte durch sein Schweigen zum weitern Bericht... Er prüfte dabei still für sich, wie das Alles auf den nicht zu entfernenden Lauscher wirken mußte.
Als ich Egon sah, seinen Bruch mit jener Gräfin Helene aus Paris erfuhr, sein Bedürfniß, wie die Geheimräthin es nannte, mich jeden Abend bei ihr zu finden, beobachtete, entstanden bei mir Reflexionen, deren Ernst mich mögen recht langweilig gemacht haben, Väterchen!
Sie legte den Arm über den Nacken des Justizraths...
Lasally wurde entfernt und ich begann mit Egon von Hohenberg zu philosophiren. Ich wollte ihn nie anders sehen als in Gegenwart der Geheimräthin. Ich duldete von ihm nie eine Wildheit. Mag es nun sein, daß die meisten Frauen in der Ablehnung von Zärtlichkeiten es versehen oder...
Melanie stockte fast erröthend. Der Vater ergriff ihre Hand und half nach.
O, sagte er, kein Oder! Das nur allein ist's! Die gewöhnliche Sprödigkeit der Frauen ist ja gleich abkühlend wie Eis. Ich glaube, daß mein Kind tugendhaft ohne Pedanterie war...
Das Lachen, in das Melanie ausbrach, dauerte nur kurz und war recht listig... Hackert spitzte die Ohren... Drei frivole Menschen, die sich hier so bald verstanden!... Melanie fuhr ernster fort:
Dieser Egon ist ein wunderlicher Heiliger und nach meinem Gefühl durch und durch unliebenswürdig. Die wahnsinnige Liebe einer Grisette und die noch tollere einer Gräfin haben ihn so verhätschelt, so verzärtelt, daß in ihm jede Fähigkeit eines leidenschaftlichen Aufflammens fast erstorben ist. Das ist ein Pedant, Vater, ein langweiliger, phrasenhafter, durch und durch von sich eingenommener Mensch, dem ich versucht bin, jeden Abend eine Douche zu geben aus allen Fontainen des Witzes, wenn ich ihn besäße, oder sogar aus allen Wasser-Karaffinen der Geheimräthin, die man ihm in einer Stunde dreimal füllen muß. Aber ich halte an mich, ich schone Se. Durchlaucht und langweile mich an den quälenden Gesprächen über Politik und Parteiwesen, die dort bis in die Nacht geführt werden...
Schlurck lächelte ein wenig...
Wenn Ritter Rochus vom Westen, sagte er, auf die Dose klopfend, uns eine Summe zahlte, daß du Egon's langweilige Gespräche ihm mittheiltest, ich glaube, wir würden sie durch Dich nicht einmal verdienen können...
Nein! Ich behielte nichts. Ironie, Schalkheit, Scherz sind dem Fürsten gänzlich fremd. Er faßt Alles im Ernste auf, geht an Jedes mit einer umständlichen, systematischen Vorbereitung und ist dabei von einer Grausamkeit auch gegen sich selbst, daß er sich um alle Freuden des Lebens bringt und billigerweise in einem Kloster und zwar in einem von der strengsten Regel endigen müßte.
Schlurck warf nur dazwischen:
Die Ehe wird doch nicht ein solches Kloster sein? Da würden seine Geißelhiebe immer gleich zwei Menschen treffen.
Melanie seufzte... und lachte doch auch. Sie lachte so schalkhaft, so aus ihrer innersten schadenfrohen Schlauheit heraus, so sich auf den Vater mit übermüthigem Triumphe lehnend, daß sie in diesem Augenblicke eine hinreißende Liebenswürdigkeit entfaltete.
Was hast du nur? fragte der Justizrath, der sich in diesem Augenblicke sagte: Hackert hat hundert solcher Scenen beigewohnt! Er war mein Sohn, Melanie's Bruder, sah, hörte Alles, er kann diese Geständnisse nicht misbrauchen!
Warum lachst Du? wiederholte Schlurck...
Papa! sagte Melanie. Ich habe dir oft meine künftigen Männer geschildert. Lasally war eigentlich das Modell. Männer ohne Vorurtheile, die mich lieben um meiner selbst willen! Fürst Egon von Hohenberg ist keiner von Denen, die auf dies Modell passen.
Er wird dich... Schlurck unterbrach sich selbst. Er wollte sagen: Er wird dich zu seiner Geliebten machen wollen!... Er besaß bei aller Leichtigkeit seiner Denkungsart die Kraft nicht, diese vernichtenden Worte auszusprechen.
Melanie verstand aber schon vollkommen, was er sagen wollte. Sie schwieg. Nach einer Weile schüttelte sie das Haupt und flüsterte:
So nicht!
Wie nicht?
Träumerisch wiederholte Melanie:
So nicht!
Und als Schlurck ungläubig über die Idee, der Fürst könnte Melanie zur legitimen Gemahlin erheben, aufschaute, die Brille, die er sich wieder aufgesetzt hatte, auf die Stirn zog und sein Kind mit den wasserglänzenden Augen fixirte, brach Melanie in eine Wehmuth aus, die ihn zum Tod erschreckte...
Was hast du? rief er und hielt das plötzlich umgewandelte Mädchen, das sich auf die Kante des Schreibtisches beugte und ihr Antlitz unter den gekreuzten Armen verbarg... Noch verstand er nicht recht, was sie bewegte.
Unmöglich! sagte er hastig. Wie kann dieser Kalte, Feindselige eine solche Aussicht im Ernste bieten! Ich war an jenem Abend mit ihm allein. Ich bat ihn um einige vertrauliche Worte. Er war die Sprödigkeit, die Feindseligkeit selbst. Voll Mistrauen begrüßte er mich. Wie so gern hätt' ich das Gespräch sogleich auf dich gelenkt, seine Gesinnungen über dich erforscht! Vergebens, er wich mir aus und blieb bei dem Schlurck, der seinem Vater diente, den er im Heidekrug hatte in einer Nacht Champagner trinken, Trüffeln essen sehen. Ich sagte ihm: Durchlaucht, Sie irren sich, wenn Sie glauben, daß ich in der Verwaltung Ihrer Güter leichtsinnig verfuhr. Schreiben Sie die heillose Verschleuderung nur Ihrem Vater zu! Mein Vater war brav! fuhr er auf. Durchlaucht, ich denke nicht daran, ihn herabzusetzen. Mein Vater war der edelste der Menschen, er wurde betrogen, getäuscht, hintergangen von aller Welt und von Keinem mehr als Denen, die ihm am nächsten standen! Einen solchen Zornausbruch zu bestreiten, war unmöglich. Ich mußte mildere Saiten aufziehen. Ich mußte ihm sagen: Durchlaucht, die Administration Ihrer Güter war die Hauptaufgabe meiner geschäftlichen Thätigkeit! Ich habe um ihretwillen meine Praxis vernachlässigt. Die Gläubiger schenkten mir ihr ganzes Vertrauen. Ich war fast der Minister dieser kleinen Besitzungen, deren schwierige finanzielle Verwickelung ich in einer Reihe von Jahren zu lösen hoffte. Nun ist Das hin! Abgeschnitten mit einem Scheerenschnitt! Ein Fremdling erntet die Vorbereitungen meines Fleißes! Geben Sie mir diese Administration zurück! – Der Fürst überlegt sich den Antrag eine Weile, eine düstre Wolke lagert sich auf seiner Stirn, er schüttelt das strenge, kalte, blasse Haupt. Nein! sagt' er. Nun dann, sagt' ich, Durchlaucht, dann ein Andres! Sie sind Minister. Lassen Sie den Prozeß des Staates wegen der Johannitererbschaft fallen! Ich komme an den Rand des Abgrundes, gestand ich ihm, wenn mir auch diese Hülfsquellen versiegen. Melanie, dasselbe Wort braucht' ich! Einem Menschen zum ersten Male dieses Wort! Dieses Geständniß der elendesten Situation, in der sich meine Angelegenheiten befinden, ihm!
Und? warf Melanie gespannt ein, um den in stiere Abwesenheit und träumerisches Brüten versinkenden Vater aufzurichten. Schlurck erschrak fast über dieses Und?
Er schlug mir auch diese Bitte ab. Kalt wünschte er mir einen guten Abend! Kalt entließ er mich! O, Melanie, wie es da in mir gährte! Ach, verdammt! Nicht zu einer großen und edlen Handlung gährte es. Wo hätt' ich die Kraft dazu! Aber an das Äußerste... an den Tod dacht' ich –
Vater! Vater!
Melanie war hier aufgesprungen. Sie warf sich, erschüttert von der Andeutung... vielleicht eines Selbstmordes... über den Unglücklichen, der nicht arm sein konnte. Sie streichelte seine Wange, liebkoste sie, lachte unter Thränen...
Nein, nein, so nicht! sprach sie zärtlich. So nicht, Vater! Ich ergründe diesen Egon nicht. Die Grausamkeit gegen dich und seine Liebe zu mir! Nach jener Scene im türkischen Zelt kam er blaß und kalt in den Saal zurück und würdigte mich keines Blickes. Am folgenden Tage ließ er die Worte fallen: Ihr habt so recht Eure Fäden um mich gesponnen und wißt Euch Alle im Preise zu halten! Daraus entnahm ich, daß ihn Euer Gespräch verstimmt hatte. Und nun bitt' ich, Vater, um Eines! Es ist hier ein Ziel zu erreichen, das uns wenigstens vor der Welt nicht gering erscheinen darf. Aber es gehört Weisheit und Selbstbeherrschung dazu! Jede Andeutung eines persönlichen Vortheils, den wir etwa suchten, jede Gier der Eroberung, jedes marktende und schachernde Selbstgefühl wäre hier ein heißer Stein, auf dem alle Möglichkeiten in Dampf auseinander zischten...
Welche Möglichkeiten?
Daß ich den Mann, der mich einst tyrannisiren, quälen, morden würde, wirklich fände, aber ich müßte ihn doch wol nehmen, weil er – ein Fürst ist.
Schlurck erhob sich. Er begriff nicht ganz den Zusammenhang dieser verworrenen Kombination.
Wie ist Das? fragte er, sich an seinen Sessel lehnend. Dich morden?
Egon von Hohenberg liebt mich, Vater! sagte Melanie ruhig. Ich verrathe ihm, daß ich meinen Werth zu hoch halte, um ihn ohne Bedingung zu erhören. Er sinnt über die Möglichkeit einer Ehe. Zu werben um ebenbürtige Geschlechter ist er zu träge, zu lebensdüster geworden. Er haßt die Frauen sogar, vollends, da sich ihm jetzt Alle, Alle aufdrängen. Auch Pauline von Harder hat Angst vor der Anknüpfung neuer Verbindungen, die ihr den angebeteten Mann entführen. Als er dir so rundweg alle deine Bitten abschlug, war es erst der Zorn über eine Konspiration, der ihn so reden ließ; dann aber auch, ich ahn' es, ein edleres Gefühl. Er denkt, an mir gutzumachen, was er gegen dich seinem sonderbaren Pflichtgefühl, seiner staatsmännischen Würde schuldig zu sein glaubte.
Eine solche Idee würde Schlurck unter andern Verhältnissen nach seiner, etwas Großes und Stoisches nicht begreifenden Philosophie für Narrheit erklärt haben. Jetzt war er zu zerknirscht glücklich dafür. Er athmete auf, wie wenn tausend Lasten von seiner gequälten Brust fielen. Und nur das Eine noch preßte ihm die unendliche Wonne zurück:
Aber warum sollte dich Egon denn tyrannisiren, dich so mit Füßen von sich stoßen, daß dir nichts bliebe, als der in solchem Falle erbärmliche Titel einer Fürstin?
Es war todtenstill im düstern Gemach... Hackert wußte, was Melanie sagen wollte... Als Melanie eine Weile schwieg und dann in heiße Thränen ausbrach... ahnte es Schlurck.
Vaterzorn gegen Hackert brach so furchtbar jetzt in Schlurck hervor, wie damals, als er den aufgenommenen, wie einen Sohn behandelten und so früh verwilderten Findling fast mit Füßen trat und aus dem Hause warf. Es wallte in ihm auf wie siedende Glut. Er fühlte die Kraft, in den Winkel zu springen und den Lauscher, der so früh die Ehre seines geliebten Kindes zerstört hatte, zu erwürgen; aber ein Blick auf die zerbrochene Scheibe, auf die unter den Schrank gestoßene Brechstange, die Besinnung über die That, die er an diesem Sonntagvormittage wollte zu einem scheinbaren Ausbruch kommen lassen – Simulation eines Einbruchs in sein Comptoir – lähmte seine Kraft. Er konnte nichts, als sich über Melanie beugen, ihr Haupt erheben, ihre Stirn küssen, mit ihr weinen...
Da schellte es am Hause. Melanie erhob sich. Rasch gefaßt sagte sie zum Vater:
Papa, nur noch einige Wochen Muth und Selbstbeherrschung!
So war sie geschwind wie eine Gazelle auf die Wendeltreppe gesprungen und hinauf zum oberen Zimmer verschwand sie...
Noch vergeblich nach Fassung ringend wandte sich Schlurck, als er Hackerten schon vor sich stehen sah. Er erwartete von dem Elenden, der den Werth seines Kindes so tief herabgesetzt, ein Verbrechen an ihr begangen hatte, ein höhnisches, boshaftes, teuflisches Grinsen. Er fand dies aber nicht. Ruhig schlug Hackert die Arme unter und eher furchtsam, nicht drohend war sein Blick. Dieser Blick ermuthigte doch den von den innersten Qualen zerrissenen Mann und stachelte ihn zu der Anrede:
Bube! Hast du nun Alles gehört, was ich dir danke?
Hackert fuhr nicht auf. Er sah sich nur ruhig im Zimmer um...
Einen Fürsten als Schwiegersohn, sagte er dann mit der ihm eignen heiseren, kalten Tonlosigkeit. Ist Das so wenig? Aber es ist wahr. Sie hätten mich lieber im Waisenhause lassen sollen, Justizrath! Ich will gehen. Durch diese Thür kann ich's nicht. Das Schloß ist ja prächtig verdorben. Na! Ich will mich oben durchschleichen. Ich denke, Sie schicken heute noch nicht auf die Polizei, um den Einbruch anzuzeigen. Sonst, Schlurck, legen Sie sich keinen Zwang an! Ich glaube, daß Sie nur sich, nicht mich in's Unglück bringen wollten. Vom nächsten Sonntag an will ich jeden Morgen daran denken, daß ich für mein Alibi Zeugen habe. Sonst können Sie thun, was Sie wollen! Es ist wahr, ich habe nichts in Ihrer Schule getaugt, Justizrath! In Ihrer! Ihrer! Aber Eins kennt auch Melanie an mir, ich bin diskret. Ja, Schlurck! Ihre verdammte Dose da, aus der Sie bei jedem Besuche eine Prise nahmen und Witze niesten. Ich naschte aus derselben Dose und war zu jung mit meiner Nase, ich mußte nur Dummheiten niesen. Ihr gabt mir Wein statt Milch. Juchhei am Morgen. Juchhei am Abend. Des Nachts lief ich sogar im Schlafe um und konnte aus dem Jubel nicht mehr herauskommen. Melanie kam einst mit mir von einem Kinderball. Sie war grade vierzehn Jahre! Ich hatte getanzt, daß ich trotz meiner Haare der Abgott der – Kinder war! Das vierzehnjährige Kind... Genug! Justizrath, weinen Sie nur nicht! Sonst thaten Sie's ja nur, wenn Ihr Geburtstag war und Melanie Ihnen ein Paar Hauspantoffeln gestickt hatte! Oder bei Ihren Jugenderinnerungen weinten Sie... Jetzt... sammeln Sie sich! Versuchen Sie's noch zu guter Letzt, ein Herz von Stahl zu haben! Adieu, Justizrath! Alibi oder nicht... Lassen Sie unterwegs, was Gefahr bringt. Ich möchte nicht, daß Sie auf Ihre alten Tage... Justizrath, lieber keine Seide mehr spinnen, als... Wolle! Wir sehen uns wieder, wo's der Teufel bescheert; nur nicht in... Bielau!
Schlurck blickte nieder, wollte Hackert's dargereichte Hand nicht nehmen und sagte nur:
Hast den Ring?
Ich hab' ihn; antwortete Hackert fast hohnlächelnd und triumphirend. Dann schlich er wie eine Katze über die Wendeltreppe und durch die Zimmer, die er wie seine Tasche kannte, zum Hause hinaus.
Schlurck folgte vernichtet. Er sann darüber nach, wie er bis zu einer Entscheidung über Melanie's seltsame Andeutung den Zustand seiner Angelegenheiten verdecken sollte. Zum zweiten Male verdankte er seinem geliebten Kinde einen großen moralischen Sieg über sich selbst! Vor Hackert hatte er niemals Furcht gehabt...
Hackert schwankte seiner kaum selbst bewußt durch die Straßen. Er war nicht im Stande, zum Profoßhause zurückzukehren. Es war ihm, als sprächen Stimmen mit ihm aus der Luft. Was ihn sonst von ähnlichen bewegten Regungen auf frivole Stimmungen gebracht hatte, verfehlte heute seine Wirkung. Wie malte er sich aus, was er erlebt hatte! Erst den blutigen Tod, die Trauer, dann ein Verbrechen, erstickt wol nur im ersten Keime, dann Melanie und ihre Geständnisse! Wie einsam, wie jammervoll sah es in allen diesen Herzen aus! Zum ersten Male kam es ihm, daß er sich selbst fast ohne Schuld, ohne Reue erschien. Ein junger Lebensmuth konnte sich über Das, was Melanie beklagte, keine Vorwürfe machen. Es rührte ihn, aber es peinigte ihn nicht.
So bracht' er den Tag bis zum Abend hin, wo in den Straßen die Zeitungen ausgeboten wurden, die die Geschichte vom gestern gesprengten Maschinenarbeiterverein erzählten. Am Schloß des Königs standen die kleinen »fliegenden Buchhändler«, unter ihnen trotz der Trauer, trotz ihres häuslichen Leids, Wilhelm und Karoline, die eignen Geschwister des Getödteten. Sie riefen ihres eignen Bruders Tod aus...
Und Hackert kaufte ihnen ihre Blätter ab und hörte, daß sie eigentlich deshalb weinten, weil sie heute zum letzten Mal die Zeitungen auf der Straße verkaufen durften.
Und Euer guter armer Bruder Karl?
Darauf sagten sie nichts, als weinend die Worte:
In der heutigen Zeitung steht Alles... Es ist aber die letzte...
Und indem verkauften sie ihr Leid. Daß die Regierung den Straßenverkauf der Zeitungen heute zum letzten Male gestattete, war ihnen fast größerer Kummer...
Hackert wollte bitter werden. Er fand im Menschen Etwas, was vom Uranfange an zum Schlimmen zieht. Er sagte sich, daß die Lage, in der wir uns der Materie gegenüber befinden, unsre Tugenden und unsre Laster bedinge. Der Mann mit dem rothen Barte! spottete er. O! O, Louise!
So leicht bizarre Äußerungen bei Hackert den Übergang zu seinem genußsüchtigen, gedankenlosen Leichtsinn bezeichneten, heute verlockten sie ihn nicht recht. Er ergab sich nur der Verachtung aller Lebensverhältnisse und beschloß, am Montag zu Assessor Müller zu gehen und ihn zum letzten Male, da Madame Ludmer ihm wiederholt geschrieben hatte, um Einlaß bei Murray zu bitten.
Wie er am Montage in der Frühe an das Profoßhaus kam, ging eben eine Gruppe von Menschen aus dem Hause tretend an ihm vorüber. Die Menschen schienen ihm bekannt. Der, welcher ihm am meisten auffiel, war Murray selbst; er erkannte ihn an der schwarzen Binde. Die Übrigen waren Dankmar Wildungen, der von Melanie so Heißgeliebte; jener wunderliche, verwachsene Fremde, den er in die Stadt hatte einfahren sehen und ein ihm Unbekannter, wir kennen ihn, Louis Armand. Louis hatte den gebückten, lächelnden Gefangenen unter'm Arme gefaßt und führte ihn wie im Triumph. Auch Otto von Dystra schien den Befreiten wie einen längst Bekannten zu begrüßen und Dankmar betrachtete ihn so forschend, daß er Hackerten übersah, obgleich dieser dicht an ihm stehen blieb und verwundert den Vieren nachsah. Am Portal des Profoßhauses erfuhr er, daß man auf eine persönliche Bürgschaft jenes Herrn im Schnurrock und die Niederlegung einer großen Summe eingewilligt hätte, Murray während seiner Untersuchung, die sich ohnehin schon zu seinen Gunsten gewandt hätte, auf freien Fuß zu stellen...
Zu spät gekommen! sagte er und gedachte des üblen Eindrucks, den er mit diesem so gescheiterten Auftrage bei der Verwandten seines Vorgesetzten Pax machen würde. Diese Entdeckung war ihm nicht gleichgültig; ja, als er lauernd jenen Vieren folgte und Murray's Ruhe, die Freundschaft und Zuvorkommenheit jener Ehrenmänner für den Verdächtigen beobachtete, witterte er schnuppernd die Fährte neuer Lügen und Laster. Doch zu nahe wagte er sich den ruhig Dahinschreitenden nicht. Es war ihm, als könnte sich Dankmar wenden und ihm ein Wort zurufen wie einst auf dem Hohenberg. Wenn er dich einen elenden Spion hieße, was könntest du erwidern?
Die Möglichkeit mehrte doch seine Pein. Louisen's Jammer an der Leiche ihres Bruders, die sittliche Gefahr des Justizraths, Melanie's Thränen hatten sein Inneres nicht erweicht, aber ein wenig erhellt. Er wurde Andern ein Licht, wie sollte es in ihm selber dunkel bleiben! Er sah sich wenigstens wie im Spiegel und war aus der brütenden Ruhe seiner Unmittelbarkeit aufgeschreckt. Da überfiel ihn eine solche Angst, daß er jener Frau, die ihm so viel Vertrauen geschenkt hatte und beunruhigt einmal über das andre in seine Wohnung schickte, ob Herr Hackert nicht sogleich zur Geheimräthin von Harder kommen wollte, keine Anzeige von Murray's Freiheit zu machen wagte, ihm aber nachschlich und außerhalb des Gefängnisses, in das ihn die Richter nicht hatten einlassen wollen, sich ihm irgendwie zu nähern suchte.
Am Mittwoch früh fand das Begräbniß des Karl Eisold statt unter Umständen, die die ganze Bevölkerung in Bewegung setzten und Veranlassung wurden, daß Hackert den Privatauftrag erhielt, die am Grabe gehaltenen Reden zu überwachen. Die Sicherheitsbehörde hatte keinen feierlichen Leichenzug dulden wollen und deshalb sogleich den Todten auf den neuen Kirchhof schaffen lassen, wo er bis zum Begräbniß im Leichenhause beigesetzt blieb. Die Arbeiter der Willing'schen Fabrik aber hatten den Todten bei Nacht aus jenem Hause mit Gewalt entfernt und ordneten ein Begräbniß an, das durch die ganze Stadt gehen sollte. Es war eine eigenmächtige Handlung, die später einer strengen Untersuchung verfiel. Ein Ministerrath verbot das öffentliche Begräbniß, bis bei Hofe jene religiöse Scheu vor Allem, was Leben und Sterben berührte, entschied und man von dorther wünschte, es sollte dem Drange jener Menschen, diesen Todesfall in ihrer Weise aufzufassen, kein Hinderniß gesetzt werden. So fand denn jenes Begräbniß unter Vortragung von Insignien aller Art und mit Begleitung einer Trauermusik unter dem Zustrom von Tausenden Statt. Alle Maschinenarbeiter folgten. Sogar einige elegante Trauerkutschen schlossen sich an. Am Grabe wurden Reden gehalten, Choräle gesungen. Man bemerkte überall die Zeichen einer an diesem Trauergepränge sich aussprechenden Demonstration der erzürnten Gemüther.
O, rief ein junger Redner, der auf die feuchte gelbe Erde der Grube trat, das Haupt entblößte und die zuckenden Mienen seines blassen Antlitzes kaum vor innerer krampfhafter Erregung bemeistern konnte. O, so kommen sie denn immer näher die Boten des Sturmes, der bald uns Alle wie Staub aufwirbeln und durcheinander treiben wird! Noch eine kurze Ruhe und die Zornschaalen der Prophezeiung werden ausgegossen werden! Bis dahin, Brüder, wankt und verzagt nicht! Der Tod hält seine Ernte. Wie ein Schnitter fährt er dahin und mäht mit seiner Sichel schonungslos und grausam! An das Leben muß sich nun schon Niemand mehr klammern. Die Zeiten sind vorüber, wo ein Jeder sich hütete, unter den Dächern der Häuser zu gehen, um nicht von einem fallenden Ziegel erschlagen zu werden. Die Zeiten sind vorüber, wo man seines Leibes und Lebens schonte und pflegte und sich vornahm, gebessert, reich an Tugenden und gesammelt vor den Thron des ewigen Richters zu treten. Jetzt geht es im Fluge. Das Leben ist nichts. Die Kugeln werden Niemanden schonen. Eine Leiche? Hunderte werden wir begraben sehen, Tausende! Die Wuth der Menschen, die es ahnen, daß ihre Stunde schlug, ist grenzenlos. Nicht mehr Könige und Könige bekämpfen sich, nein, alle Monarchen, alle Reichen, alle Großen werden Frieden unter einander schließen und die Armeen sind nur noch da, um Schlachten den Brüdern zu liefern. Unsre Plätze und Straßen, unsre Stuben und Kammern werden die Schlachtfelder werden, wo künftig die großen Feldherren ihre Lorbeern sammeln. Tod ist nichts mehr, Brüder! Wo wir hinblicken, krachen die Flinten der Executionen. Die Diplomaten schreiben die Bluturtheile auf ihren seidnen Polstern, ihre Chokolade schlürfend. Die Maschinen dieser Menschen vollführen es und jeder Soldat sieht auf seine Büchse, sein Pulverhorn, drückt los; was geht ihn die Kugel und ihr Ziel an! O Brüder, verzagt nicht! Zittert nicht, daß Ihr Euch erscheint wie zusammengetriebenes Wild in einem Walde. Alle Wege sind umstellt. Unser Denken, unser Fühlen, unser Reden ist ein Verbrechen! Wir stören den Staat, wenn wir uns versammeln. Wir sollen nur arbeiten. Hört Ihr, nur arbeiten! Arbeite und iß dein Brod im Schweiße deines Angesichtes, Das ist der Fluch, mit dem du in die Welt getreten bist! Aber die Stunde wird schlagen mit ehernem Glockenschlag, furchtbar dröhnen wird sie durch alle Lande die Sonntagsfrühe der Erlösung...
Weiter konnte der Redner nicht sprechen. Denn eine Anzahl der Polizeidiener, die in der Nähe stand, trat auf den Hügel und zog mit lärmender Unterbrechung den jungen Mann von ihm herunter.
Dies wurde das Signal eines allgemeinen Tumultes, der mit der Ruhe des Friedhofes und mit dem Schmerz der auf dem Sande knieenden Louise und ihrer Geschwister in schreiendem Widerspruche stand. Man entriß den Häschern ihre Waffen, man tobte, schrie, stieß Verwünschungen aus. Die Häscher ließen ihre Nothpfeifen ertönen, um von der Wache eines nahegelegenen Thores Hülfe zu bekommen. Die Wächter der öffentlichen Ordnung waren so bedrängt, daß ihnen fast nichts übrig blieb, als sich an den durch diese Scenen entweihten Sarg zu flüchten, der auf den Brettern über der Grube stand und eben hinabgelassen werden sollte.
In diesem Tumult rief eine donnernde Stimme:
Ruhe! Friede am Grabe! Achtung vor den Todten!
Es war Leidenfrost, dessen Autorität unter diesen Menschen Wunder wirkte. Seine gewöhnlich nur polternde Art hatte ihn ganz verlassen. Der Augenblick begeisterte ihn. Er war nur bei der Sache und ganz von ihr durchglüht.
Wenn mein Wort unter Euch etwas gilt, rief er, so steht von Aufruhr und Empörung ab! Ehret den Schmerz der Leidtragenden, die dort auf dem kalten Boden verhindert sind, ihre Andacht zu verrichten! Schreckt den Schlummer des gebrochenen Auges nicht auf! Wir kommen so nicht fort, wie Ihr meint, wir nützen uns nichts und Denen nicht, die nach uns kommen werden! Glaubt doch nicht, daß Ihr allein dasteht mit Eurem Kummer um diese Zeit! Gebt dies weichliche Jammern um Eure Lage auf und erschließt Euern Geist einer höhern Betrachtung. Es arbeiten mehr, als Ihr denkt, wenn auch nicht mit Schwielen in der Hand. Aber es denken auch mehr und hoffen auch mehr. Ihr seid nicht die Einzigen und seid nicht verlassen! Ihr fahrt nicht wie dieser Jüngling in die Grube und düngt nur die Erde! Haltet Schritt mit dem Allgemeinen! Folgt nicht dem nächsten Gelüst Eures Zornes, sondern glaubt an den im Stillen arbeitenden Weltgeist, der uns mit Schöpfungen überraschen wird, von denen Ihr keine Ahnung habt. Eine Ordnung in diesem Leben muß sein! Sie beruht nicht auf der Vertheilung der Güter, die nur Mord und Brand erzeugen würde, sie beruht auf dem geänderten Begriffe vom Staat. Dahin arbeitet! Nicht zur Auflösung, sondern zur neuen Bildung hin! Gehorchen wollen wir, dienen, uns beherrschen, Das ist das Ziel, das wir nur im Siege des Geistes, nicht dem Siege der Materie finden können. Die rechte Freiheit und die rechte Begrenzung! Darin liegt Glück, darin die Bürgschaft neuen Friedens. Die Römer wußten, was sie wollten; die ersten Christen wußten, was sie wollten; wir wissen noch nicht, was wir wollen. Deshalb entwaffnet die materielle Kraft, die Euern Forderungen gegenüber steht, entwaffnet sie nicht durch die schwache, sogleich besiegte Faust, sondern durch den milden Sonnenschein des Geistes und der Verständigung. Der Sonnenschein blies dem Wanderer den Mantel ab, den der Sturm nicht abblasen konnte. Gebt Ruhe, Friede den Todten! Scheidet von diesem Grabe mit der Hoffnung auf einen neuen Frühling und werfe Jeder eine Handvoll Erde dem edlen Jünglinge nach, als Zeichen, daß wir Erde werden, wie er und uns versöhnen wollen mit unserm Loose, das uns diese Welt gab als einen Schauplatz der Entsagung und eine dunkle Kammer räthselvoller Hoffnung!
Diese wie ein Strom hervorquellenden Worte verfehlten ihre Wirkung nicht. Einer nach dem Andern trat an die Grube und warf eine Handvoll Erde über den Sarg. Louise und die Kinder schütteten Blumen. Die Frauen vieler Arbeiter umringten die Weinenden und führten sie an das Thor des Friedhofes zurück, wo einer der schönsten Wagen, dem ein zweiter, in welchem Mangold saß, folgte, sie aufnahm. Die verstärkte Thorwache machte Spalier. Die Arbeiter gingen ruhig auseinander. Leidenfrost erhielt den Handschlag Dankmar's und jenes kleinen mit dem Offizier der Wache sich unterhaltenden Fremden, in dem Hackert wieder den vornehmen Reisenden erkannte, den er in die Stadt Rom gewiesen hatte.
Als der Kirchhof von dem Menschengewühl sich entleerte und nur noch die Todtengräber thätig waren und das Grab zuschütteten, bemerkte Hackert in einiger Entfernung einen einsamen, zurückgebliebenen Wanderer. Es war Murray, der Alte mit der schwarzen Binde. Er sah, daß er die Hände über den Rücken zusammenschlug und von Grab zu Grab trat trotz der Kälte, trotz der schon schneidenden trocknen Winterluft. Er hatte ihn schon vorher im Auge gehabt und nur im Tumult nach der ersten Grabrede verloren. Jetzt schlich er sich ihm nach. Jetzt spornte ihn Neugier und die Eitelkeit, sich das Haus einer Geheimräthin verbindlich zu machen... Doch immer stand der Alte, wenn er dicht an ihn heran kam, an einer Grabschrift und las sie, was ihm schwer zu werden schien, da er sich nur eines Auges bedienen konnte.
Hackert fühlte, daß er über den Tod, über diese Grabschriften mit ihm reden mußte, wenn er ihn ansprechen wollte. Dazu konnte er sich trotz der auch in ihm durch die Grabesscene hervorgerufenen Erschütterung nicht entschließen. Religiöse Empfindungen waren ihm fremd.
Murray las unter dem feuchten, modernden Blätterabfall hinschreitend zuweilen die Grabschriften halblaut.
Derselbe Mann, den er als zweideutigen Gauner im Gefängnisse besuchen sollte, der ihm als hochfahrend, anmaßend, frech bezeichnet war, sprach, indem er bei einer entblätterten Trauerweide stand und er ihm von ferne zuhörte:
»Sanfter Schlaf halte dich umfangen bis zum Tage des Wiedersehens.«
Es war eine Grabschrift auf ein junges Mädchen...
Hackert blickte zu Murray hinüber, der weiterging und sprach vor sich hin:
Es ist kein Engländer! Das hör' ich doch wol schon...
Murray stand vor einem Kreuze und las wieder halblaut:
»Seit ich entbehre, glaub' ich.«
Murray stand nachdenklich, überlegte offenbar diese Worte und ging wieder weiter.
Hackert vergegenwärtigte sich die Kennzeichen, die ihm die Ludmer genannt hatte.
Das Haar ist nicht echt, sagte er sich und las nun selbst die Inschrift, die Murray vor ihm gelesen hatte...
Murray war inzwischen weiter gegangen und flüsterte vor einem andern Denkstein die Inschrift lesend.
Hackert bemerkte, daß sich das Haar verschob und unter ihm ein helleres sichtbar wurde.
Er ist's! sagte er sich.
Indem murmelte Murray vor einem Kreuze von Gußeisen:
Anbetung Ihm, der die große Sonne
Mit Sonnen und Erden und Monden umgab, Der Geister erschuf, Ihre Seligkeit ordnete, Die Ähren hebt, der dem Tode ruft, Zum Ziele durch Einöden führt und den Wandrer labt, Anbetung Ihm! |
Finden Sie nicht, sagte nun Murray, sich selbst zu dem nahegetretenen jungen Manne wendend, der wie er an den Gräbern Interesse zu nehmen schien, finden Sie nicht, daß alle diese Denksteine sich recht an den Tod anklammern wie an den einzigen Enthüller des großen Lebensräthsels? Es ist doch schlimm damit. Man glaubt erst, wenn man an die Schwelle unsres Daseins tritt und in der Stille, die um einen Sterbenden waltet, es doch so gar sonderbar rascheln und flüstern hört, grade wie Sie immer so hinter mir her raschelten, ohne daß ich Sie sah.
Hackert konnte nicht recht antworten. Er bemerkte, während Murray sprach, die Ohrlöcher, von denen ihm die Ludmer gesagt hatte. Sie waren verwachsen, aber unverkennbar.
Murray ging ohne die Antwort abzuwarten weiter und sprach, halb lesend, an einem kleinen sehr geschmackvollen Denkmal von Marmor:
Ein Kind von drei Jahren? Der kurze Traum eines Schmetterlings! Sehen Sie die Idee des Künstlers! Ein Kind mit einem Schmetterling! Wie es fürchtet, daß eben der Schmetterling von der erhobenen linken Hand fliegen will! Es will ihn haschen! Knabe, die Seele entfliegt dir nicht! Tröste dich! Aber nach mußt du ihm!
Hackert bemerkte, daß Murray fast keine Augenbrauen hatte. Und damit er doch nicht zu lange schwieg, äußerte er kalt:
Ganz hübsch!
Haben Sie die Reden an dem Grabe gehört? fragte Murray den ihm sonderbar nun sich anschließenden jungen Mann mit den magern Gliedern, dem durchglasten Auge, dem blassen Gesicht, dem rothen Haar, in einfacher Tracht mit schäbigem Paletot...
In zu großer Entfernung! sagte Hackert.
Die Scene war ein Bild unsrer Zeit, fuhr Murray fort. Noch Kampf am offnen Grabe! Der besänftigende Redner fand gute Wendungen, aber die Wechsel, die er ausstellte, haben zu lange Sicht. Da werden die Zinsen so groß wie das Kapital.
Hackert, in der sichern Überzeugung, daß die Vermuthung jener Frau über diesen Mann vollkommen zuträfe, konnte natürlich solche Art, sich zu äußern, solche stille Ergebung und philosophirende Ruhe nicht begreifen. Von einer Verstellung, ihm gegenüber, konnte doch wol kaum die Rede sein. Er mußte sich gestehen, daß er hier ja ein ganz kindlichgestimmtes, frommes, ergebenes Gemüth vor sich hatte, von dem Schlimmes zu denken er sich schämen mußte...
Murray wanderte immer so fort. Hackert folgte ihm und hörte forschend zu, wenn er sprach oder Grabschriften las. Manche schrieb sich Murray auf.
Er zog sein Portefeuille und merkte sich manchen Gedanken, manches tröstende Bild.
Hackert wurde davon fast ergriffen. Er hörte keinen Frömmler sprechen, keinen phrasenhaft Gläubigen, sondern einen Mann, der das Leben und die Welt als ein Geheimniß nahm und deshalb, weil er mit zu diesem Geheimniß der Welt gehörte, ein höheres Walten, eine Harmonie des uns nur unharmonisch klingenden Lebensspieles voraussetzte.
Und doch verließ Hackerten noch immer nicht die schlimme Vorstellung, die ihm die Ludmer eingeflößt hatte. Er sah, daß Murray schön schrieb und bemerkte dies, ihm über die Schulter schielend...
Ich bin ein Kupferstecher, antwortete Murray in aller Ruhe und steckte den Bleistift durch die Löcher, die sein Portefeuille zusammenhielten.
Auch diese freiwillig eingestandene Beschäftigung paßte...
Murray schien von dem heftig brausenden Novemberwind, der die Blätter aufwirbelte, nichts zu fühlen. Hier und da hatte sich noch ein Blumenstock von den vielen, die hier auf den Rasenhügeln welkten, frischer erhalten. Er verweilte dann bei ihm und lobte seinen Widerstand gegen den Sturm.
Halt aus! Halt aus! sagte er. Aber noch zwei Tage, so mußt du dich auch ergeben!
Dann wandte er sich an Hackert mit den freundlichen Worten:
Glauben Sie denn an ein Wiedersehen nach dem Tode, junger Mann?
Hackert war betroffen, faßte sich rasch und schüttelte entschieden den Kopf.
Ich kann Sie nicht widerlegen, mein Lieber, nahm Murray sein Bekenntniß entgegen; allein denken Sie sich doch einmal, als wäre die Menschheit vielleicht ein Baum oder ein großes Wachsthum, will ich sagen, das immer steigt, immer neu ansetzt, immer drängt und drängt und irgend etwas werden will – was, weiß ich nicht. Aber es ist ein Geheimniß damit. Ich glaube, unser physisches Leben ist der Durchgang eines großen räthselhaften Naturtriebes, eines Dranges zur Unsterblichkeit. Sehen Sie, es ist mir fast, als wenn diese Erde, deren beste Produkte wir doch sind, etwas aufhat, ein Thema, nämlich das, uns so vollkommen hinzustellen als nur möglich, möglicher Weise unsterblich. Die Erde kann Das nun nicht vollbringen. Da sinkt Einer hin, da und dort. Meinen Sie nun wirklich, daß der unglückliche Knabe, der so mit sechszehn Jahren sterben mußte, nun rein ausgeblasen ist? Hier ist er's. Das, was in ihm irdisch war, ist hin. Aber wenn Einer so stirbt an einem ererbten Übel, an der Schwindsucht, an unverschuldeten Fehlern der Organisation, bei einem Eisenbahnunglück – kommt da der schwachen Erde, die uns so gibt, wie sie eben kann, nicht vielleicht doch ein höherer Geist zu Hülfe und nimmt Die in seine rettenden Arme, die die Erde nicht fertig bringen konnte und führt uns in andern Verhältnissen, andern Bedingungen fort und hinüber in andere Substanzen?
Hackert hörte ruhig zu.
Ich philosophire stümperhaft, sagte Murray. Was kann man auch anders, als sich hier der Natur gefangen geben und sagen: Da hast du mich mit gefesselter Vernunft! Liefre mich dem Tode aus auf Gnade oder Ungnade! Wenn man aber doch ein Bild für diese Hoffnungen haben möchte, so mein' ich immer, man nimmt getrost die christlichen Bilder und überantwortet sich einem liebenden Vater, einer allwaltenden Fürsorge und sagt: Durch Christus, durch seine Lehre ist dafür gesorgt, daß wir nicht zu Staub verwehen! Es sammelt uns schon Jemand irgendwie in dem Schooße Gottes.
Alsdann sprach Murray ein altes Lied, von dem er sagte, daß man es zu seiner Zeit gesungen hätte. Es war Salis' schönes Lied: »Das Grab ist tief und stille.« Murray sprach alle Verse ohne Pathos, ohne Übertreibung, melodisch und weich. Als er mit dem Verse geschlossen hatte:
Das arme Herz, hienieden
Von manchem Sturm bewegt, Erlangt den wahren Frieden Nur, wenn es nicht mehr schlägt – |
war es Hackerten doch, als wühlte eine Geisterhand sonderbar sein Inneres um. Thränen, die, wie er oft gesagt hatte, nicht in sein Herz wären gesäet worden, meldeten sich freilich nicht, leise quillend und unwillkürlich, aber er mußte doch zu Murray sagen:
Sie sind ein Priester von der Art, wie wir keine haben! So wär's mir schon recht. Jeder müßte eigentlich seinen eignen...
Hackert stockte; aber Murray verstand und fuhr rasch fort:
Seinen eignen Erlöser finden...
So etwas! sagte Hackert; wenigstens Einen, der ihn hinausführte in die Natur und ihn durch Milde bekehrte!
Junger Mann, sagte Murray... Suchen Sie nur die Einsamkeit, dann ist der Priester immer bei Ihnen.
Hackert dachte an den schönen Julitag, wo er zu Tempelheide im Korne unter den blauen Blumen lag und sich an Siegbert anschließen wollte, aber nicht konnte, da es noch viel zu wild in ihm damals tobte...
Indem fesselte Murray eine neue Inschrift. Er zog sein Portefeuille, um sie aufzuschreiben. Indem er es aufschlug, klang etwas auf dem Grabstein, vor dem er stand. Etwas Metallenes war ihm entfallen.
Hackert hob es auf.
Es war ein halber goldner Ring...
Wie Murray diesen halben goldnen Ring, den ihm Louis Armand nach dem Wiedersehen und dem Erörtern des im Schranke der Jägerwohnung Gefundenen gegeben hatte, von Hackert empfing und wieder in das Portefeuille legen wollte, sah er in dem jungen Manne eine seltsame Bewegung.
Was ist Ihnen? fragte Murray.
Unwillkürlich griff Hackert in seine eigne Rocktasche und zeigte mehr wie zu spielendem Zufall die andre von Schlurck empfangene Hälfte eines Ringes.
Murray erst scherzend, hielt seine Hälfte an diese, sagte aber nun plötzlich erschreckend, während seine Hand zitterte:
Gott! Sie passen ja!
Hackert, wirklich nicht minder bewegt, blickte in den innern Rand. Wie er die Buchstaben P. v. R. deutlich zusammengefügt erblickte, mußte er sich an einem Kreuze halten, so erschütterte seine schwachen Nerven dies Zusammentreffen...
Und Murray rief mit schon ersterbender Stimme:
Was ist Das? Woher haben Sie die Hälfte dieses Ringes?
Dabei streifte er mit der Hand die Binde zurück, sein Hut entfiel, die Binde entfiel, die Gestalt hob sich...
Ich bin ein Findelkind, sagte Hackert. Wie man mich an der Thür des Waisenhauses dieser Stadt aussetzte, fand sich in dem Korbe, in dem ich schlief, die Hälfte dieses Ringes...
Und Murray sank schon halb auf einen Leichenstein, halb hielt er Hackert's Arm, bohrte seine Augen in die des jungen Mannes, hob die Lippen, als wollte er sprechen, wischte die Augen, als wollten sie weinen, lachte, griff nach seiner Stirn, betrachtete den Ring –
Paul? rief er endlich.
Nicht Paul... sagte Hackert...
Gütiger Heiland, nicht Paul Zeck... stammelte Murray erblassend.
Paul Zeck? Paul Zeck?... rief Hackert sich besinnend.
Und schon wühlte er in den Papieren seines Portefeuille.
Der Schein, den Hackert in jener Nacht Bartuschen abgenommen, zitterte in Murray's Händen...
Dann sammelte sich Der aber und sprach, indem er krampfhaft Hackert's Hand ergriff:
Diesen Ring gab ich einst meiner Schwester Ursula Zeck. Paul Zeck ist nicht ihr Kind; es ist mein Sohn und der Sohn dieser Frau, deren Name P. v. R. lautete. Es sind jetzt drei Fälle! Entweder: Paul Zeck ist durch Naturgesetze todt, oder Ursula Zeck hat ihn ermordet, oder sie setzte Paul Zeck am Waisenhause dieser Stadt aus und machte den Ursprung des Kindes kenntlich durch die Hälfte dieses Ringes, die andre wurde bei ihr gefunden...
Hackert blickte bald auf die Ringtheile, bald auf Murray und sagte dann leise:
Ihr Sohn? Sie? Und ich? Ja, ich bin ja dieser ausgesetzte, erst im Waisenhause erzogene Findling...
Es war das erste reine Gefühl der gebrochenen Eiseskälte des Herzens, das erste Herzensbeben dieses jungen Mannes, indem er diese Worte sprechen mußte.
Murray betrachtete den Sprecher, die Gestalt, die Züge des Antlitzes... Auch das Haar ging ihm plötzlich wie in Flammen auf Ha! sagte er. Daher! Daher! Von jener Nacht! Lichterlohes Haar! Du bist's! Bist – mein Sohn?
... Die Todtengräber überraschten eine Gruppe. Sie wollten das Thor schließen, das auf zwei Schritte in der Nähe war. Unwissentlich hatten der Vater und der Sohn diesen Weg genommen... Sie halfen Hackerten, der sich bald sammelte, den ohnmächtigen Mann, der seinen Sohn gefunden und seine Freude nicht auszujubeln wagte, an das Thor führen, wo noch Miethwägen hielten...
Die beiden verspäteten Theilnehmer des Leichenzuges fuhren, wie Hackert dem Fiaker zugerufen, nach der Brandgasse Nr. 9, wo Murray ja noch wohnte...
Die Todtengräber fanden die Scene, die Ausrufungen, die Umarmungen seltsam. An der Stelle, wo alles Das vorfiel, fand sich nichts zur Aufklärung, kein Leichenstein, kein Denkmal, nur ein Blättchen Papier, auf dem mit Bleistift eine der Grabschriften ihres Friedhofes in der Nähe aufgeschrieben stand. Sie lautete:
»Den Lebenden ist Nacht. Den Todten bricht,
Den Schlummernden ein neuer Morgen an.« |