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Fünfzehntes Capitel.

Stürme.

Fürst Egon von Hohenberg ging auf der Bahn, die er sich einmal vorgezeichnet hatte, unerschrocken weiter. Das sichre und feste Auftreten, das jeden seiner Schritte bezeichnete, verlieh ihnen eben so vielen Erfolg, wie die allgemeine Abspannung einer Zeit, die nach manchem Sturm und Wirbelwinde sich auf dem noch so haltlosen Platze, wo sie sich grade befand, doch erst zurechtfinden und mit dem nächsten Bedürfnisse wieder vermitteln wollte. Major von Werdeck bezeichnete Das in seiner Weise einst unter den Freunden, die voll Kummer die über ihn verbreiteten falschen und lügnerischen Berichte vernahmen, mit den Worten:

Es muß doch nun Jeder erst wieder sehen, was inzwischen aus seinem Kraut- und Rübenacker geworden ist! Die gekündigten Kapitalien müssen doch erst wieder neu angelegt werden, die Staatspapiere ein wenig höher auf der Skala des Vertrauens steigen. So rasch geht Das nicht Alles! Wenn man marschirt, macht man immer nur so lange Tour, bis die Arrièregarde, das Bagage- und Trainwesen in Ordnung ist. So lange ruht man. Dann geht's weiter.

Und... setzte er in seinem noch ungestörten Humor damals hinzu. Die vielen Mädchen, die inzwischen mannbar geworden sind! Für die muß doch auch erst wieder ihre Zeit kommen. Es müssen doch erst wieder Hochzeiten gemacht werden. Der große Lebenszweck darf doch nicht aussterben. Das geht nicht, daß sich Alles ewig und immer in prekärer Unklarheit so fortwälzt und nicht mehr Bälle und Verlobungen stattfänden. Nein, da sorgen schon die Mütter für. Die stemmen sich mit Riesenkraft gegen den rollenden Wagen der Zeit und legen seinen Rädern ihre Hauspantoffeln als Hemmschuhe unter. Die eigentliche Aufgabe des Menschengeschlechts, die Familie und ihre Versorgung, darf nicht zu kurz kommen und die Kaufleute und Krämer und Handwerker wollen doch auch einmal erst ihre Handlungsbücher wieder revidiren und ihre Kundschaft begrüßen; hernach mag's weiter gehen!

Werdeck behielt seinen Gleichmuth trotz drohender Vorboten einer Katastrophe, die ihn gegen das Frühjahr vernichtend traf. Man hielt ihm mehre Briefe entgegen, in denen seiner als eines Vertrauten und Eingeweihten fremder Emissäre Erwähnung geschah. Ja von einem Briefe war die Rede, den er selbst an Flüchtlinge geschrieben hätte. Zwar bekam der Angeschuldigte namenlose Zuschriften, die ihm anzeigten, daß es sich hier um ein boshaftes Komplott und eine großartige, weitverzweigte Fälschung handelte, aber ein Eklat war doch grell genug gegeben und Werdeck mußte sich einstweilen zur Disposition stellen lassen. Er schied mit Schmerz von seinen Kriegern, aber auch voll Bitterkeit. Die Untersuchung wurde parteiisch geführt, aber es fanden sich doch Zeichen, daß Werdeck's Verbindung mit irgend einem Geheimwesen nicht aus der Luft gegriffen war – ein Bund war da – Werdeck war das erste Opfer des Kleeblattsymboles – er mußte seinen Degen geben und, als er ihn später wieder empfangen sollte, sich einen Hausarrest gefallen lassen. Im Zorn zerbrach Werdeck diesen Degen und verschlimmerte dadurch seine Sache. Man nahm seine Papiere in Beschlag; man fand Aufsätze über Veränderung der Heerverfassung, Tagebücher über Dienstverhältnisse, die alle nur dazu beitragen konnten, den Triumph seiner Gegner zu erhöhen. Die ganze Schmach, die über einen aus dem Bann seiner Dienstetikette herausgerissenen Krieger von den üblichen feudalen und kriegsrechtlichen Vorurtheilen verhängt werden konnte, lag schwer auf dem unglücklichen Manne, der nach der Befürchtung seiner Freunde leicht damit enden konnte, sich eine Kugel vor den Kopf zu brennen. Werdeck konnte sich nicht ganz vertheidigen. Er war in der That Mitglied eines Bundes, über den er jede Auskunft verweigerte...

Auch den Freunden drohte Gefahr. Ihre Verbindung mit Egon war für immer abgebrochen. Einmal noch hatte Egon, der Allmächtige, an Louis Armand im alten Tone geschrieben und ihn gebeten, zu einer bestimmten Stunde sich bei ihm einzufinden, sich mit ihm zu verständigen. Er hatte ihn gewarnt vor Verbindungen, die er nicht näher angeben wollte. Er hatte ihn nicht ohne Herzlichkeit bei der alten Freundschaft beschworen, zu ihm zurückzukehren und sich durch den Weg, den er als Staatsmann genommen, nicht beirren zu lassen. Louis Armand hatte ihm herzlich, aber ablehnend geantwortet.

Du hast, mein Egon, schrieb er ihm, den Traum deiner Jugend ausgelebt! Er war schön... und heilig bleib' uns die Erinnerung! Deine Fußtapfen werd' ich einst in Frankreich wiederfinden und Thränen sollen sie benetzen. Ich denke mir, es ist nur der irdische Stoff, der unsre Seelen auseinander trieb. Unser Ideal ist vielleicht noch immer dasselbe, nur daß ich mit einer Handvoll Arbeiter und einigen unabhängigen Denkern philosophire, du aber mit einem mächtigen Thron, einer stattlichen Kirche, einem gerüsteten Heere – ich glaube wohl, daß die positive Welt ihre eignen Bedingungen hat. Du besitzest einen hohen Bildnergeist. Du willst schaffen und achtest des Materials nicht viel, wenn es nur die Spuren deiner Hand annimmt. Die find' ich reichlich in deiner Regierung und die Art, wie du willst, macht dir alle Ehre, wenn auch Das, was du willst, mich anweht, wie das kalte gräßliche Wort: Wir haben uns furchtbar aneinander getäuscht! Ein Fürst, der die Laune hatte, Arkadien zu spielen, konnte in arkadischen Zeiten ewig der Freund des armen Ziegenhirten bleiben, den er in den Bergen liebgewann. Jetzt aber, wo die Ziegenhirten, barfuß und in Lumpen, selber aus den Bergen hervorkriechen und die Anmaßung besitzen, über die Welt, nicht blos über eine Panflöte, eine Meinung zu haben, jetzt hält sich ein solches Arkadien nicht lange, seine Ölbäume hängen trauernd ihre Zweige und seine Gipfel sind in Schnee gehüllt...

Egon hatte auf diese theilweise in Versen geschriebene Epistel immer noch warm und bittend geantwortet. Louis verstummte. Später schrieb ihm der Fürst noch einmal, er müsse ihn wegen seines Umgangs mit Leidenfrost, Dankmar, Werdeck, besonders aber wegen seiner Besuche in der Willing'schen Fabrik und seiner Einwirkungen auf die Arbeiter warnen, er schickte sogar Agenten und Vertraute zu ihm. Louis erklärte, er wäre sich keines Misbrauchs der ihm hier bewilligten Gastfreundschaft bewußt, ja er hätte Beziehungen seines Ursprungs entdeckt, die ihm Heimatsrechte gäben. Tags darauf bekam er die Ausweisung aus der Stadt und der ganzen Monarchie. Es war dies dieselbe Zeit, wo Werdeck schon vor dem Kriegsgericht stand. Louis war zu stolz, Einspruch zu thun. Er nahm Abschied von Dankmar, Siegbert, Dystra, der sich den Freunden theilnehmend erhielt, wollte auch zu Leidenfrost, erfuhr aber, daß dieser, der schon seit seiner Rückkehr vom Ullagrunde seiner Grabesrede wegen unaufhörlich verfolgt und natürlich auch sogleich von der Excellenz von Harder aus seiner offiziellen Sphäre verbannt war, bereits gefangen säße. So blieb ihm nur Zeit, noch die uns bekannten Zeilen an Franziska Heunisch zu schreiben, Jagellona Werdeck zu trösten, die heldenmüthig jeden Trost ablehnte, von Murray Abschied zu nehmen, der absichtlich die Wohnung der Louise Eisold behielt, sich unter seinem englischen Namen als Kupferstecher behauptete und über das Vorhandensein eines Paul Zeck unter dem Siegel der Verschwiegenheit an Louis überraschende Mittheilungen machte, seine geschäftlichen Angelegenheiten zu ordnen und eine Stadt zu verlassen, die er unter so völlig entgegengesetzten, Gemüth und Geist so völlig anders ergreifenden Verhältnissen begrüßt hatte. Er begab sich vorläufig nach Belgien mit einer Empfindung, an die sich unsre Zeitgenossen gewöhnen müssen. Es ist dies das plötzliche Entrücktwerden aus einer im vollen Gange begriffenen Lebensthätigkeit, mitten aus dem angefangenen Worte, mitten aus dem kaum sich selbst klar gewordenen Gedanken heraus, mitten aus der liebenden Einwurzelung und Verrankung in theuerste Herzen, in häusliches Glück.

Dankmar und Siegbert waren gefaßt auf's Äußerste. Weichen wollten sie nicht. Sie lebten in ruhiger Pflichterfüllung eine Weile hin, wirkend zwar für den großen Bundeszweck der Brüder und Ritter vom Geiste, wirkend und werbend für dessen immer größre und in der That wunderbar wachsende Verbreitung, aber besonnen, emsig beschäftigt mit Kunst, Wissenschaft und der Aufgabe, nun noch den letzten Versuch zu machen, ob nicht vor dem Obertribunal, vor jenem geheimnißvollen Oberpriester des Rechts, dem uralten Greise von Tempelheide, jener Anspruch geltend gemacht werden konnte, an den sich Dankmar jetzt schon krampfhaft klammerte nicht als Anker für sich, sondern als Steuerruder für das Fahrzeug seines Ordens vom vierblättrigen Kleeblatt. Wie war's damit? Wie man auf die Wiese geht und sieht in den Millionen Kleeblättern gleichsam die eine, große, ganze Menschheit, so harmlos, oberflächlich, einig, gleichbedeutend war den Uneingeweihten der Anblick des Lebens. Dankmar aber und sein Bund sah in den Millionen Dreiblättern die heimlichen Vierblätter der Verständigung, diese verkörperten Heurekas der Liebe, diese idealen Gefundenen, denen hier und dort, ohne daß sie von ihm geworben waren, zu begegnen, ihn oft mit Bewunderungsschauern vor der Macht einer Idee erfüllte. Der Tempelstein im Westen trat in Verbindung mit dieser Erfahrung. Dankmar hatte den Plan, den ersten großen Bundes- und Erkennungstag dorthin auszuschreiben. Siegbert, der am unangefochtensten schien, bezweckte zum Frühjahr eine Reise nach Buchau und diesem Tempelstein, um mit Dystra gemeinschaftlich die großen dort projektirten Bauten zu beginnen. Die Wolken mehrten sich freilich. Immer düstrer drohte der Horizont. Unter dem Symbol des vierblättrigen Kleeblattes erhielt Dankmar eine ernste Warnung nach der andern. Er sollte sein Heil in der Flucht suchen. Siegbert's Rath, Egon, dem doch einst so edel erfundenen Egon sich noch einmal anzuvertrauen, verwarf Dankmar als eine unwürdige Reminiscenz. Der folge seiner Bahn! Wir gehen die unsrige. Aber ich müßte doch an irgend einem sichern Rückhalt, wie ein Luther auf der Wartburg, die Entwirrung dieses Knotens abwarten...

Siegbert sprach von Angerode. Dystra, der der ängstlichen Berathung beiwohnte, rieth, zu Mangold, Louise Eisold, zum Tempelstein zu fliehen. Dankmar aber, wie von einem Offenbarungsgedanken ergriffen, rief:

Ich gehe grade in die Höhle unsrer Gegner selbst, mitten in die Gefahr! Ich gehe nach dem Ullagrund! Dort wohnt ein Ehrenmann... und zu Selma zieht es mich, wie zu meinem Schutzgeiste. Ackermann war in Amerika! Er lauscht dem Leben der Natur! Er wird sich dem Gesetz der Freiheit nicht entziehen. Dort kenn' ich Weg und Steg. Selige Erinnerung! Der Frühling ist da! Ich fliehe in den Ullagrund –

Und als die Freunde Bedenklichkeiten äußerten, sagte Dankmar:

Man soll mich für einen jener Arbeiter halten, die Ackermann um sich versammelt – eine Jacke her, eine Blouse, ein Wanderstab! Ich will nach Hohenberg wandern, wie Egon einst wanderte; aber reineren Herzens, treuer der Sache des Volkes hingegeben, kein sich zum Volk herablassender Aristokrat, nicht haschend nach dem Scheine, nicht weglügend die eigne innere Leere – dort unter den Arbeitern, die diesem Undankbaren den Acker bestellen, will ich selbst für ihn arbeiten und Selma, ihr Vater werden mir Bürge sein, daß ich unter dieser Wahl eines schweren Berufes nicht zusammenbreche...

So entwich Dankmar nach dem Ullagrunde, kurz vor jenem wirklich in den Zeitungen hervortretenden Steckbrief...

Und Murray, den so viel Gefahren umgeben hatten, grade Der blieb unter all den Bedrängnissen, die seine Freunde und Gönner trafen, fast allein unversehrt. Er hatte, als Louise Eisold mit ihren Geschwistern nach Buchau gezogen war, deren ganze Wohnung, mit all' ihrem armseligen Hausrath, für sich behalten und lebte nur der abwartenden Beobachtung über die Entwickelung seines Sohns. Dem Drängen desselben nach den näheren Umständen seiner Geburt gab er zur Zeit nicht nach. Er bat ihn selbst um ein großmüthiges Aufgeben jeder weiteren Forschung, der nächste Zweck seiner Rückkehr von Amerika war erreicht. Er hatte sein Kind lebend und, wie er erwartete, in der Irre gefunden; er hatte genug zu thun, Körper und Geist bei ihm auf die Bahn zu lenken, die ihm die allein gesunde schien. Die einzige Störung seiner Ruhe, die den Apostel einer eigenthümlichen, heitern und menschlich milden Religiosität noch zuweilen traf, war die fortgesetzte Untersuchung über die noch immer dunkel bleibenden Vorfälle im Forsthause, die indessen, da Murray sich so ganz in der großen Stadt verlor, ohne Mistrauen und mit Bequemlichkeit geführt wurde. Dystra, der dem wunderlichen Heiligen seine an allen Curiositäten Geschmack findende Theilnahme erhielt, forderte ihn vielfach auf, zu seiner in Amerika mit Meisterschaft geübten Kunst zurückzukehren und gab ihm mehr zu thun, als Murray aus Furcht vor Entdeckung seines wahren Ursprungs und des noch immer nicht beruhigten, noch immer ihn umschleichenden Mistrauens der Ludmer übernehmen mochte. Murray arbeitete wie der erste Künstler seines Faches, unterhielt sich im Verkehre bald mit Louis Armand, bald mit Dystra und nur die Erholung erlaubte er sich, daß er manchmal weite Spaziergänge machte, am liebsten nach der zwei Meilen entfernten kleinen Festung Bielau, wo er mit Wehmuth den Fluß, das Zuchthaus, die von ihm durchbrochene Mauerwand in der Ferne betrachtete. In die Festung sah er dann lustig und fröhlich zuweilen Soldaten ziehen – die Garnison wurde von den in der Hauptstadt liegenden Truppen in bestimmten Zwischenräumen ergänzt – sah auch wol einmal einen verschlossenen, von Gensdarmen geleiteten Wagen über die Fallbrücke fahren; verglich fremdes Loos und eignes, verglich den Strom des Flusses und den der Welt... und kehrte dann spät Abends heim, nicht ohne bei der Wohnung seines Sohnes zu horchen und zu spähen, ob er wol schon zur Ruhe wäre oder schwärme... er hatte beschlossen, ihn noch mindestens ein Jahr ganz allein sich entwickeln und ihn an seiner ihm täglich bewiesenen Liebe allmälig aufthauen zu lassen.

Mitten in diese Auflösung einer Menge von bisher so traulich beisammen bestandenen Beziehungen kam eine Botschaft von Olga Wäsämskoi, die neue Sorgen wecken mußte. Als Dystra eines Abends zur Fürstin kam, hörte er, daß Rudhard trotz seiner Jahre und zunehmenden Schwäche sich eben aufgemacht hatte, um ohne Abschied in höchster Eile nach Wien zu reisen. Die Fürstin vermied Auskunft zu geben, da Siegbert zugegen war. Sie schützte eine Veranlassung vor, die Siegbert nicht kennen konnte. Sie war aber so unruhig, so bewegt, sie wandelte in dem Garten, den sie nach langem Winterschlafe wieder zum ersten Male begrüßte, so unsicher an seiner Seite, daß er irgend eine neuerstandene Schwierigkeit fürchtete. Einige Tage darauf las er bei Dystra einen Brief, den ihm der treue Gönner und im innersten Herzen vielbedrängte Freund nicht vorenthalten zu dürfen glaubte. Olga schrieb an Rudhard:

»O Vater Rudhard, ich ergreife mit Zittern heute die Feder und möchte sie statt in Tinte, in Blut und Thränen tauchen. Wie bin ich betrogen worden! Welchen Schmerz hat mir die Tante bereitet! Ich kann nicht mehr in ihrer Nähe bleiben, ich hasse nun die treulose Verrätherin. Ach, Himmel und Erde! Helene ist ja nicht was sie scheint. Gott! Gott! Daß Engelzüge lügen können! Du weißt, wie wir litten, Papa! Du weißt, wie wir den Mond und die Sterne beschworen haben und unserm Schmerze einen ewigen Kultus widmen wollten. Ach, Helene hat ihren Schwur gebrochen. Es war eine Lüge, daß sie sich nach den Zellen der Klöster umsah, Lüge, wenn wir Kirchen besahen, daß sie sich in die Beichtstühle setzte, bis ein Kirchendiener kam und ihr sagte: die Patres hörten grade keine Beichte oder ob sie sie rufen sollten? Dann sprang sie unmuthig auf und ich glaubte, sie würde die Religion unsrer Väter wechseln. Es ist Täuschung gewesen, Papa! Helene liebt wieder! Sie liebt! Wie an einem erstarrten Baume, sagte sie mir, als ich ihr zornig gegenüber trat, geschieht an mir das Wunder, daß er einen neuen Keim trieb. Nein, sagt' ich, Tante, dein Herz ist ein Polyp. Er lebt im Sterben und wächst durch den Tod, er bedarf der grausamen Zerstückelung, um zu wachsen. Aber was hilft's! Du entsinnst dich jenes Heinrichson. Ich sprach nicht mehr von ihm, weil seine Huldigungen mir nicht gefielen und ich den Schein vermeiden wollte, als rühmte ich mich meiner Erfolge. Diesen Heinrichson liebt die Tante! Ich entdeckte eines Abends, daß ich betrogen bin... Vor diesem Anblick schauderte mich's. Ich nahm meinen Hut, einen Mantel und floh von dem Landhause, das wir so schön, so reizend an einem kleinen Wasserfalle unter Oliven- und Kastanienbäumen gemiethet hatten. Ich wußte nicht, wohin ich fliehen sollte. Aber Das wußte ich, zurück zu Helenen, die den Schmerz um Egon in den Armen eines Heinrichson zu ersticken sucht, kehrt' ich nicht wieder. Mein Instinkt trieb mich auf unsre Gesandtschaft. Ich warf mich der Baronin von S. zu Füßen –

Der Gesandtin in Rom, erklärte Dystra...

»Und flehte sie an, mich zu beschützen. Sie nahm diese Bitte gnädig auf, unter der Bedingung, daß ich mit einer befreundeten Familie nach Wien reise und dort von dir, Papa, mich abholen lasse. Ich mußte diese Bedingung eingehen, so entsetzlich mir der Gedanke ist, ein Land wiederzusehen, wo dieser Teufel Otto von Dystra wohnt. Ich werde kommen, aber ich schwöre Euch beim ewigen Gott, eher durchbohrt mich eine Dolchnadel, die ich auf meinem Herzen trage, eh' ich in eines Eurer grausamen Verlangen willige. Die Tante ist außer sich. Sie will mich nicht lassen. Sie fährt vor. Ein gewisser Herr Rafflard, den ich schon bei Euch gesehen, ihr zur Seite. Sie wollen die Baronin sprechen, mich – ich höre Alles – der Kurier geht ab. Ich fliehe! Ich fliehe! Ich muß schließen. Olga.«

Das sind ja entsetzliche Zustände! sprach Siegbert, als er den so abgerissen endenden Brief staunend noch einmal überflog...

»Ein Land wiedersehen, wo dieser Teufel Dystra wohnt«, wiederholte der so schlimm Angefeindete. Wo denken Sie, daß dieser kleine Grobian jetzt schon ist?

Rafflard in Rom! Sie ist doch in Rom geblieben; sie ist Zeuge dieser...

O nein! Die Konsequenzen der Freiheit bringen dies tolle Mädchen zur skrupulösesten Tugend, sagte Dystra. Kann eine Dame, die in einer Pensionsanstalt mit lauter Gefühl, Bibelsprüchen, Musik, Goldschnittlyrik, Sonntagsmoral und sogenannter edler Weiblichkeit aufgezogen ist, prüder denken als diese kleine Emanzipirte, die durch die Konsequenz ihrer unmoralischen Ideen über Liebe und Weltschmerz strengmoralisch wird? Wenn da nicht eine Eifersucht wegen Heinrichson's im Spiele ist –

Nein, rief Siegbert mit innigster Wärme und zitternd vor Sehnsucht, Olga wiederzusehen; darin widersprech' ich Ihnen auf das Feierlichste. Ich glaube in der That, daß Olga leidet bei dem Gedanken, diese Helene d'Azimont, in der sie die ewige Resignation unglücklicher Liebe zu erblicken glaubte, könnte wieder lieben, könnte einen Heinrichson für einen Egon wählen und alle ihre Thränen Lügen strafen... es ist wirklich die sittlichste Entrüstung, die Olga von Rom treibt!

Wenn Das wäre, Freund, schieß' ich mich mit Ihnen! Ich liebe Olga!

Dystra sagte diese Worte scherzhaft, aber mit heimlichen Spuren des Ernstes...

Siegbert entdeckte diese Spuren wohl und ging trotz aller Zureden des Barons mit wehmüthigem Nachdenken von ihm. Ihm war Olga ein Ideal geworden, der Sammelpunkt aller seiner zerrissenen Gefühle. Wie es den Bruder zu Selma trieb, sich ein Asyl zu suchen, da am Herzen eines edlen Mädchens auszuruhen von seinem unermüdeten Streben, da in's Auge seiner Geliebten blickend die Wunden zu heilen, die das Misgeschick ihm schlug, eben so drängte es Siegberten nach der Gegend hin, wo Olga weilte. Wie gern wär' er in Rom gewesen! Um wieviel lieber hätt' er am Strande des Meeres mit ihr Muscheln gesucht und die Brandungen der Wogen gezählt, als hier in das Faß der Danaiden Hoffnungen und Wünsche zu füllen und sich am tiefsten Weh des Lebens zu verzehren... Dystra rief ihm zwar noch nach:

Siegbert, Siegbert! Bleiben Sie doch! Sie soll zwischen uns wählen!

Allein grade das Beispiel Helenen's zeigte ihm, welcher Metamorphosen, welcher Gewöhnungen die Herzen fähig sind. Er mied Dystra voll Trauer, voll sichrer Erwartung Dessen, was ihm schien nun kommen zu müssen. Der unermeßlich Reiche, der durch seinen Geist seine äußere Unförmlichkeit bei längerer Bekanntschaft ganz vergessen ließ, suchte ihn zwar auf. Er beschwor ihn, kein Mistrauen zu hegen. Er bot ihm scherzend sogar an, ihm zu Liebe, um recht abschreckend zu erscheinen, eine lockige blonde Perrücke zu tragen und in dieser Olga zu begrüßen, wenn sie ankäme und nicht der Jesuit Rafflard, die verletzte Eitelkeit Helenen's und hundert dunkle Räthsel sie zurückhielten... Siegbert nahm diese komischen Anerbietungen für Erleichterungen und Übergänge zu Dem, was nicht zu ändern wäre und versicherte Dystra, daß er seine Träume schon würde beherrschen lernen.

In diesen edlen Wettstreit kam ein Brief von Dankmar aus dem Ullagrunde.

Sie fanden ihn, als Siegbert Dystra eines Tages in seine Wohnung zurückbegleitete. Er war der Vorsicht wegen an Otto von Dystra adressirt und lautete:

*** * »Diese vier Punkte sollen Blumen sein! Keine Kugeln, Bruder! Nicht Kugeln in's Herz, nicht Kugeln an den Fuß, wie sie die Züchtlinge tragen! Nicht Tod, nicht Gefängniß, nein Freiheit und Liebe! Siegbert, der Baron und wer sonst noch diesen Brief liest und wär' es ein Agent am geheimen Dechiffrir-Bureau, wo man im Angesichte Europas und der Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts falsche Briefe schmiedet, die Ehrenmänner in die Gefängnisse führen... lest und hört es Alle, ich halte mich für geborgen und glücklich! Du weißt es, Bruder, wo ich bin: du weißt, was mich glücklich macht. Ich nenne keinen Namen, bezeichne die Gegend nicht: nimm die Landkarte und schreibe »Arkadien« über den Platz, wo ich ackre und die Kühe hüte! Das goldne Zeitalter kehrt wieder, Bruder. Ich bin ein Hirt und sitz' im Haberrohr und weide Schafe. Ich schrieb dir einst von hier: Lies den Ariost, um dich auf meine Abenteuer vorzubereiten. Jetzt schreib' ich: Lies den Virgil, den Theokrit, Bruder! Nicht Geßner! Nein, Bruder, in rothseidenen Bändern tanz' ich nicht und meine Phyllis ist durchaus nicht des Reifrocks würdig und schreitet nicht in bemalten Stelzenschuhen – wir sind ein echtes, wirkliches bukolisches Paar und alle Hecken an dem kleinen Bach, der sich durch unsern Grund zieht, wissen von uns zu plaudern, wissen von uns zu flüstern. Ich liebe, Bruder und ich darf lieben! Man nahm mich für etwas Andres, als ich bin. Man nahm mich für Den, der uns ein großer Feind geworden ist und sich selbst ein noch größerer – man liebte und haßte mich – eine Locke meines Haares blieb der mystische Schlüssel der Versöhnung, des Glaubens, der Hoffnung auf mich und mein nicht zu tief verlornes Herz! Da kam ich und bin Der, der ich nicht bin, ein Andrer und doch ich selbst – Was schwatz' ich – was plaudr' ich dir in Räthseln! Löse sie dir nur ganz einfach mit der Gewißheit: dein Bruder hat Ursache, an der Welt noch nicht zu verzweifeln. Eines Mädchens treueste Liebe umfängt ihn. Er ward zum Kinde an ihrem Herzen. Verstand, Zweifel, kalte Berechnung, Alles ist aus der Deichsel gegangen und grast nun unter Blumen, Kraut, Rüben, Raps, Sommer- und Wintersaat und neckt sich nur noch mit den Bienen. Wenn ich sonst ausspannte, Bruder, d. h. die Waffen, mit denen man die böse Welt bekämpft und ihren Angriffen Widerstand leistet, so kam ich mir wunderlich vor. Ich sagte dann: Dankmar, das Kindische steht dir nicht! Jetzt steht es mir prächtig, wenigstens nach meinem eignen Geschmack; ich lache nicht mehr über mich, ich habe keine spöttischen Falten mehr um den Mund, ich glaube, ich liebe in Liebe liebend. Und nicht nur für Augenblicke hab' ich zu danken; nein für ein ganzes Leben, das mir neu geschenkt wird. Die Liebe, die ich sonst empfand, Alter, war so ein blitzendes Streiflicht, das einen Wonnemoment übergoldete. Jetzt ist aber mein ganzes Dasein in Verklärung getaucht: ich kann diese Liebe unterbringen bei meiner Vergangenheit und Zukunft. Ich kann sie mir denken, wie sie mir in Glück und Freude, wie sie in Noth und Elend mir folgt. Ich kann mir denken: dies Mädchen ist jung und lieblich; aber sie wird dir auch werth sein, wenn es ein altes Mütterchen geworden ist und du selbst graue Haare trägst! Das springt um mich, Das athmet Lust und Leben, Das ist gut und gefällig, heiter und dienstbeflissen, Das schmollt ein Viertelstündchen, zankt ein Weilchen, fährt auf und will Recht haben und küßt dann doch wieder alle Launen weg und gesteht dir offen, es könne nur sein und fühlen durch Unsereins, auch wenn wir Unrecht hätten. Da widerstehe nur und wirf nicht deine ganze Lebensphilosophie wie alten Plunder über den Heckenzaun! Und denke nur nicht, Bruder, daß ich darum im Idyllischen wie marklose Poeten zu Grunde gehe! Ich behalte mein Auge klar und den Verstand offen. Das ist eben das Wesen einer gesunden und reinen Liebe, daß sie uns nichts von unserm Besten nimmt, sondern daß sie Alles zum Schüren ihres eignen Brandes brauchen kann. Mein Mädchen fühlt das Alles mit klopfendem Herzen mit, was mich bewegt und so wachsen wir Beide zum Hören und Sehen, und lehnen und trösten uns recht aneinander. Unsern Bund, den des Herzens und den andern, den des Geistes, hab' ich dem Vater natürlich verrathen. Der Hohe, Edle nahm beide ernst und sinnend auf. Dem ersten gab er selbst den Segen, für diesen zweiten erfleht er ihn. Ich glaube mich nicht zu irren, wenn ich annehme, daß wir nun schon weit über einige hundert Bekenner haben, die ein gemeinsames unsichtbares Band verbindet, ein Gedanke, eine Führung, die Niemand kennt, die auch nirgends da ist, als in dem Bewußtsein, dem Glauben einer Führung. Der Geist ist es, der fortwirkt und eine Stunde wird kommen, wo seine Werke, die jetzt noch in der Stille sich vorbereiten, an das Tageslicht treten. Noch in diesem Jahre, jedenfalls im nächsten, hoff' ich auf den ersten großen Bundestag, wo wir uns durch Abgeordnete begrüßen und eine Form für das bewußte Fortschreiten unsrer Entwickelung aufzustellen hoffen. Könnt' ich dann dieser Schöpfung gegenüber treten und mit dir sagen: Hier schütt' ich aus dem Füllhorn Fortunens auch jene irdischen Güter, die uns den Kitt für den geistigen Bau geben sollen! Könnt' ich dann sagen: Hier ist eine kräftige Hand, die über die Länder und Völker hin das Flammenschwert des Erzengels Michael zücken und den ewigen Sündenfall aus dem Paradiese jagen will! Ich verzweifle nicht; so wie ich mich rühren kann, beginnt die letzte Entscheidung. Der Vater meines Mädchens behauptet, zum Präsidenten des Obertribunals, zu unserm greisen Rhadamanthus von Tempelheide, in einem eigenthümlichen Verhältnisse zu stehen, das uns nützen soll. Mit seinen Raben und Adlern kommt mir dieser letzte Richter vor wie der greise Johannes auf Pathmos, neben dem der Adler horstet, wenn er über Meere hinweg die Gesichte der Offenbarung schaut. Viel Persönliches, was ich sonst auf dem Herzen habe, muß ich lassen, bis ich weiß, ob der Weg, den ich wähle, um mich dir verständlich zu machen, sicher ist. Tausend Grüße von und an! Von Denen, die du dir denken kannst, auch Oleandern, der zum Dichter auch ein Denker geworden ist, und an Die, die unsre Grüße verdienen!«

Während Siegbert mit bebender Freude diese Zeilen für sich gelesen hatte und sich einen Augenblick besann, ob er wol wagen könnte, sie Dystra zu zeigen und ihn in das Geheimniß eines Bundes der Ritter vom Geiste zu ziehen, warf dieser eine neueste Zeitung, die er eben gelesen, auf den Tisch und rief:

Gott! Gott! Der unglückliche Mann!

Ich beschwöre Sie, sagte Siegbert erschreckend, jetzt keine Hiobspost! Was ist?

Dystra ging im Zimmer auf und ab. Siegbert ergriff die Zeitung...

Eine Meuterei in Bielau! Eine Militärrevolte!

In Bielau?

Siegbert durchflog die Zeitungen.

Die Darstellung mag noch hinter der Wahrheit zurückbleiben, ergänzte Dystra. Der Geist dieser Mannschaften soll wild, ganz unzuverlässig sein, wie mich Voland noch kürzlich versicherte. Man läßt diese kleine Festung der Reihe nach von der hiesigen Garnison besetzen und die dritte Compagnie des Leibregimentes –

Es ist dieselbe, die zu Werdeck's Bataillon gehört...

Kaum dort angekommen... und der Major...

Siegbert hatte sich von dem Vorgefallenen unterrichtet. Er war so erschüttert, daß er sich auf einen Sessel niederlassen und zu Worten erst sammeln mußte...

Das Vorgefallene bestand in einem Vorgang, der dem seit einigen Tagen wirklich kassirten und wegen Antheilnahme an einer »Verschwörung« für mehre Jahre auf die Festung Bielau geschickten Major von Werdeck eine Flucht hatte erleichtern sollen. Die Nähe dieser Festung begünstigte das Einvernehmen der Soldaten, die in Werdeck's Verhaftung nur einen, ihren eignen Interessen geführten Schlag sahen. Bei dem ersten Spaziergange, den Werdeck, um sich zu erholen, auf dem Walle der Festung machte, war eine Wache, aus zwölf Soldaten bestehend, zufällig von seinen eignen früheren Leuten besetzt gewesen. Bielau's übrige stehende Besatzung war nur ein Invalidenkorps. Die Ergänzungen desselben kamen der Reihe herum an die in der Residenz befindlichen Truppenkörper. Viele hatten, des demnächst abzuführenden Gefangenen von Werdeck wegen, widerrathen, sein eignes Bataillon nach Bielau zu schicken; doch da die Reihe einmal an diesen Truppentheil kam, wollte man am wenigsten einen öffentlichen Beweis von Unzuverlässigkeit der so hochgepriesenen Armee geben. Ein Komplott zur Befreiung des wegen Mitgliedschaft eines Geheimbundes, Korrespondenz mit auswärtigen Revolutionären und Zerbrechens seines Degens kassirten und zu sieben Jahren Festung verurtheilten Majors machte sich wie von selbst. Das Loos traf eine Wache, die dem Spaziergänger das Thor freilassen, alle Ausgänge öffnen konnte. Ein Sergeant war mit der Ausführung beauftragt. Werdeck kommt, tumultuarisches Geschrei begrüßt ihn, man gibt ihm die Gelegenheit zur Flucht. Aber Werdeck weigert sich. Der Major ermahnt seine alten Krieger selbst, ihrer Pflicht treu zu bleiben. Aber schon hatte der Kapitän von Aldenhoven von dem Vorfall an dem sogenannten Sternwall Kunde. Die Sternwall-Wache wird vom Invalidenkorps abgelöst, einige der verzweifelnden Soldaten versuchten Gegenwehr, andre die Flucht... Der Sergeant wird verhaftet... Werdeck in einen engeren Gewahrsam geführt... So viel ließ sich den Zeitungen entnehmen.

Es entspann sich zwischen Siegbert und Dystra ein Gespräch über die möglichen Folgen dieses Vorfalles, über die Ursachen des Unglücks, das den Major betroffen, über den Geist der Pflicht und die Gefahren der freien Selbstbestimmung. Der schnell gewonnene Freund und Gönner zeigte sich so voll Antheil, blickte so frei über die Widersprüche des Lebens hinweg, hatte so von jeder Meinung und Überzeugung, die in ihm lebte, die schroffen Kanten und Ecken des Vorurtheils und des Egoismus abgeschliffen, daß ihn Siegbert den Brief seines Bruders lesen ließ und in das Geheimniß des Bundes vom vierblättrigen Kleeblatt einweihte.

Dystra erstaunte. Er gedachte seines eignen Tempelsteins und wie er an dessen Ruinen das dreiblättrige Kleeblatt am Kreuze oft genug beobachtet hätte. Er war erfüllt von der Bedeutsamkeit dieser Mittheilung und äußerte, ehe er zustimmte, fast erschrocken:

Ein Vierblatt ist selten, mein Freund!

Selten ist alles Neue und Große! antwortete Siegbert, von dem Wirken seines Bruders ergriffen, erschüttert von Werdeck's Schicksal, das ihm Thränen abgewann...

Ernst und in Gedanken verloren prüfte Otto von Dystra die empfangene Mittheilung. Schon zitterte Siegbert, daß er hier eine Übereilung zu bereuen hätte, schon wollte er Dystra beschwören, ihm, wenn nicht Übereinstimmung, doch Verschwiegenheit zu geloben, als der Baron das Wort ergriff:

Ich bin, sagte er, durch Sie und Ihre Freunde etwas stark aus meinem bisherigen geistigen Schlummer geweckt worden. Ich interessirte mich bisher für Alles und deshalb im Grunde für Nichts. Ich schlug heute das wirkliche Buch der Natur, morgen Kupferwerke auf, die mir Das ergänzten, was ich noch nicht kannte. Ich glaube, ich bin in der Lage mit vielen, vielen Tausenden, die sich von der Zeit und der Wirklichkeit, so gut es geht, fernzuhalten suchen und sich mit ihren Abbildern begnügen lassen. Uns interessirt erst dann Alles, wenn es historisch geworden ist. Wir sind gerecht sogar gegen Das, was uns widerstrebend ist und dennoch wären wir selbst für Das, was uns zusagt, nicht im Stande einzustehen, so lange es im Entstehen, im Werden begriffen. Ein Haus soll uns, wenn wir mit ihm in Berührung kommen, gleich fertig sein. Staub, Schutt, Mörtel, der Lärm des Schaffens, des Niederreißens und Aufbauens ist uns widerwärtig und wir genießen Jedes, nur in Ruhe, nur in Behaglichkeit, auf einem Sopha, unter Teppichen, unter Polstern. Das ist die Stellung der sogenannten Bildung zu den Fragen der Gegenwart! Aber wohlan! Es soll nicht so sein. Es kommt die Reihe nun auch an uns! Wir sollen mit angreifen, auch wir sollen Partei halten und uns schämen, immer nur zu reflectiren und unsern einsiedlerischen geistigen Genüssen zu fröhnen. Wenn ich erst erschrak über Das, was Ihr Bruder da angelegt hat und was ich nun schon so im Keimen und Wachsen sehe, so fühl' ich wol die Bedeutung seines Gedankens. Ich finde Europa zerrüttet. Ich sehe einen Welttheil, der nicht leben, nicht sterben kann. Irgendwie muß ihm geholfen werden, dem Verlebten zur Bahre, dem Neuen zur bequemeren Wiege. Ich will es mir noch einen Tag überlegen, Wildungen, was ich von Ihrem Bunde des Geistes denken soll. Weigr' ich meinen Beitritt, so stirbt das Geheimniß mit mir. Tret' ich aber bei, so gehör' ich ihm mit ganzer Seele und sollt' es auch sein, wie Byron einst seine letzten Flammen aus einem zwecklosen Leben zusammenraffte und sich läuternd im Brande Griechenlands zu Grunde ging.

Siegbert dankte für diese offne, unter Dystra's Verhältnissen bedeutsame Erklärung...

Beide erhoben sich. Der Baron, um sich nach dem Schicksal des gefangenen armen Leidenfrost zu erkundigen, in dem er so frühe schon eine künstlerische Entwickelung geahnt hatte und den er mit innigstem Bedauern in einem allgemeinen Scheitern seiner Fähigkeiten und Lebensentwürfe antreffen mußte. Das Leben dieses so vielseitigen Genies lag vor ihm aufgeschlagen wie das Werk eines Dichters, der vom Himmel die prometheische Flamme nur entwandt hat, um sich in ihr selbst zu verzehren. Er kannte den wirren vielverschlungenen Lebenslauf des Max Brüning, mit dem er die Verwandtschaft einer großen Seele und einer gewöhnlichen, ja abstoßenden Hülle derselben gemein hatte. Er kannte das Band der Wehmuth, das dies Soldatenkind an Werdeck knüpfte...

Siegbert aber eilte zu Jagellona von Werdeck, einer Frau, die über zwei Männer, die sie zu gleicher Zeit, wenn auch mit tiefstverschiedenen Organen der Seele, liebte, das dunkelste Loos geworfen sah.


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