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Erster Teil.

 

Da, zu dem grollenden Himmel schrie ich auf
Und fragte: »Ach, wo ist das Licht zu führen
Die Kinder dein, eh' sie sich ganz verlieren
In dieser Nacht?« – »Bestimmung ist's und Fügung!«

 

Erstes Kapitel.

Island hatte nie einen herrlicheren Anblick gewährt. Das starre alte Nordland, das im Tageslicht stets und überall die zerstörenden Spuren des ausgebrannten Feuers Jahrtausender auf seinem sphinxgleichen Antlitz trägt, und das man, wäre es nicht des in seinem schwefelhaltigen Schoß grollenden, vulkanischen Lebens wegen für tot halten würde, lag im herbstlichen Mondlicht, gleich einer mächtigen, schlafenden Kreatur ruhig, erhaben und blau wie die Nacht da.

Der Mond stand noch am Himmel, als die aus Holz gebaute, kleine Hauptstadt sich zu regen begann. Häuser, Schiffe, Fischerboote, der Fjord vor Augen, der See im Rücken, das dunkle Moorland rund umher und die schneebedeckten Berge darüber hinaus, alles schien in der sanften Milde seines silbernen Lichtes zu schwimmen.

Es war der für das alljährliche in Thingvellir stattfindende Schafeintreiben bestimmte Tag; die Schafhürde war einige dreißig Meilen entfernt, es gab weder Eisenbahnen noch Postverbindungen und wenige Landstraßen in Island, und so mußten die jüngeren Städter, die aus diesem Ereignis einen Feiertag zu machen beabsichtigten, sich schon frühzeitig auf ihren kleinen Ponys auf den Weg machen.

Als die Uhr vom Domturme vier schlug, fuhr Thora Neilsen, die Tochter des Faktors Neilsen, erwachend zusammen und sprang mit einem Satz aus dem Bette. Sie hatte am Abend vorher ihre Jalousie aufgezogen, damit der erste Tagesschimmer sie sofort am Morgen erwecken möge, aber noch ehe sie sich darüber klar wurde, daß es das Mondlicht gewesen war, das auf ihren Augenlidern sein Spiel getrieben hatte, stand sie schon mitten im Zimmer und rief mit der klangvollen Stimme der Jugend und des Glückes:

»Tante Margret! Tantchen! Ich habe mich verschlafen! Ich werde zu spät kommen! Tantchen! Tantchen!«

Hierauf wurden die durch eine geöffnete Tür des Nebenzimmers dringenden, abgemessenen, kräftigen Atemzüge durch eine ältere Stimme, eine gutmütige, ärgerlich klingen sollende Stimme unterbrochen, die schlaftrunken sagte:

»Zum Henker mit dem Mädchen, sie wird das ganze Haus aufwecken!«

Dem folgte das Knarren einer Bettstelle und das dumpfe Geräusch bloßer Füße auf den Dielen. Beide Geräusche begleitete ein ununterbrochener Strom von Scheltworten, in dem die Sprecherin sich dahin erging, daß sie keine Katze und nicht imstande sei, bei hellem Tage zu schlafen, und daß es ihr wenigstens gestattet werden müsse, sich erst das Gesicht zu waschen, wenn man sie mitten in der Nacht wecke.

Das Mädchen lauschte einen Moment und lachte, lachte das sorglose, fröhliche Lachen eines Gemütes, das nie Kummer kennen gelernt hat. Sie war jung und ungewöhnlich lieblich, an Wuchs eher unter als über weiblicher Durchschnittsgröße, und wenn ihr Gesicht auch nicht gerade schön zu nennen war, machte es, als eines jener Antlitze, deren sanfte Züge stets, selbst wenn die Eigentümerin sich dessen unbewußt ist, ein Lächeln umspielt, doch einen schönen Eindruck.

Sie zündete ihre Kerzen an, ließ ihre Jalousie herab und begann, während sie, um ihre Gleichgültigkeit zu bezeigen, ein Lied vor sich hinsummte, sich anzukleiden. Mittlerweile betrat die grollende Artillerie aus der Nebenstube in Person einer ältlichen Dame das Zimmer, die (wenn es es überhaupt gerecht ist, sie während eines solchen Augenblickes zu schildern) in ihrem kurzen Unterrock, ihrer kleinen spitzen Nachthaube, ihren papiernen Lockenwickeln, die wie Entenmuscheln am Bug eines frisch aus fremden Gewässern heimkehrenden Schiffes an ihrer Stirne klebten, grotesker wie gewöhnlich aussah.

Es war Tante Margret, der die Güte auf jedem Zug ihres alten Gesichtes geschrieben stand, deren Zunge jedoch wie Sprühregen auf einen kantigen Stein fiel und nichts von Dürre wußte. Sobald sie nur ein Auge auf die sich im Anfangsstadium ihrer Toilette befindliche Thora geworfen hatte, rief sie:

»Seide? Zu dieser Morgenstunde? Und wer etwa wird sie unter deinen dicken Stiefeln sehen, das bitte ich mir doch zu sagen?«

Das Mädchen lachte hierzu, wie sie zu allem lachte, und sagte: »Gut, dann gib mir also die wollenen. Welch ein alter Brummbär du aber bist, Tantchen. Du wußtest doch, daß ich mit meinem sechsstündigen Ritte vor mir früh aufstehen mußte.«

»Wer verlangt denn etwa einen sechsstündigen Ritt von dir, möchte ich wissen?« fragte Tante Margret, atemlos hin und her laufend, um dem Mädchen beim Anziehen zu helfen.

»Du weißt sehr wohl, wer es verlangt, Tantchen, Magnus tut es. Als sie ihn zum diesjährigen Gebirgskönig erwählt hatten, mußte ich ihm heilig und fest versprechen, daß ich zum Schafeintreiben kommen würde, und natürlich –«

»Gib dir keine vergebliche Mühe, meine Liebe, einen alten Fuchs zu überlisten, sondern komm schnell und wasche dich hier in diesem Wasser. Nicht weil Magnus dich gern beim Schafeintreiben sehen möchte, sondern weil jemand anders dich dort hinführen wird, ist es.«

»Tantchen!« rief Thora, indem sie ein triefendes Gesicht aus dem Waschbecken hochhob.

»O, du brauchst nicht wie mit Feuer übergossen dazustehen, mein Schatz – ich weiß ohnedem, daß es so ist.«

»Wie lächerlich du bist, Tante Margret! Du weißt ebensowohl wie ich, daß es Magnus selbst war, der Oskar bat, mich dorthin zu begleiten. Eigens weil er Oskar seit seiner Rückkehr von der Universität noch nicht gesehen hatte und gern zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen wollte, schrieb er vom Gutshof.«

»Umso törichter von ihm!« sagte Tante Margret. »Der Mann, der ein Mädchen zu heiraten beabsichtigt und es während seiner Abwesenheit einem andern Mann anvertraut, ist ein Narr, und seine Freunde sollten über ihn wachen. Nur ein Einfaltspinsel schlägt auf diese Weise die Türe hinter sich ins Schloß.«

»Welch eine hirnverbrannte Person du bist, Tantchen!« sagte Thora. »Oskar ist Magnus Bruder.«

»Bruder fürwahr! Ebenso war Jakob Esaus Bruder, und Kain Abels Bruder, und jene zwölf dicken, netten Gesellen waren Josephs und Benjamins Brüder.«

»Du lieber Himmel, Tante Margret, welch übler Laune du nur bist. Deine schlechte Laune – die ist das Schlimmste an dir. Du redest von Oskar Stephenson, als ob er ein ganz verworfener Mensch sei, anstatt des Gouverneurs Sohn und der Abgott aller Menschen.«

»Es ist leicht genug, jemand zu verteidigen, den niemand schlagen will. Ich will nichts gegen Oskar gesagt haben.«

»Natürlich willst du das nicht, du wunderliches, altes Wesen. Du hast ihn lieber als sonst irgend jemand, und ich glaube, du möchtest ihn für dich selbst haben, du eifersüchtige Trine, weil du ihn für den witzigsten, klügsten und schönsten jungen Mann von ganz Island hältst.«

»In einem Goldschmiedladen glitzern viele Sachen, eine vernünftige Frau streckt aber ihre Hände nicht nach allem aus.«

»Und tue ich das etwa, du dumme Grete?«

»Es hat den Anschein, mein Herz; setze dich aber hier vor den Spiegel, damit ich dir das Haar bürsten kann. Du sollst Magnus heiraten, und deine öffentliche Verlobung wird übermorgen in Gegenwart beider Familien stattfinden, und doch hast du Oskar, seit er vor acht Tagen aus England heimgekehrt ist, alle Tage und die ganzen Tage hier gehabt und willst nun mit ihm nach Thingvellir reiten. Du wirst Unheil stiften, so viel sage ich dir. Zwei Hunde einigen sich selten über ein' und denselben Knochen.«

Hier befiel das Mädchen ein toller Lachanfall. »Tantchen, was du uns für Namen beilegst!«

»Besser, daß ich es tue als jemand anders! Die Leute hier sperren die Ohren gewaltig auf und Oskar den Mund – er spricht beständig von dir.«

»Nicht beständig, Tantchen.« Thoras hübsches Gesicht errötete in dem vor ihr stehenden Spiegel.

»Beständig! Erst gestern noch sagte er, ›meine künftige Schwägerin –‹«

»Nicht ›künftige Schwägerin,‹ Tantchen.«

»Hab' ich gesprochen, Thora, oder nicht? ›Meine zukünftige Schwägerin ist ganz bezaubernd,‹ sagte er –«

»Sicher aber sagte er nicht ›bezaubernd‹, liebstes Tantchen.«

»Ja, so war es, und halte deinen törichten Kopf 'mal still, mein Fräulein – ›ganz bezaubernd‹, sagte er ›und ich bin schon halb eifersüchtig auf den alten Magnus.‹«

Die blauen Augen im Spiegel strahlten vor Entzücken, der Mund aber sagte, »natürlich würde ich furchtbar ärgerlich gewesen sein, wenn ich ihn das hätte sagen hören, meine Schuld ist es aber nicht –«

»Dummes Zeug!« sagte Tante Margret mit einem verächtlichen Schnauben. »Laß dir von einer verdrehten alten Schraube raten, mein Schatz, und säe keinen Unfrieden zwischen zwei Brüder.«

Darauf nahm das strahlende Gesicht im Spiegel einen ernsthaften, nachdenklichen Ausdruck an und Thora sagte:

»Wie kannst du nur so schreckliche Dinge aussprechen, Tante Margret? Nur weil ich mit Oskar nach dem Schafeintreiben reiten will.«

»O, ein kleiner Bach kann zu einem großen Fluß anschwellen. Was nützt aber alles Reden – ein wildes Tier kann gezähmt werden, nicht aber ein starrköpfiges Frauenzimmer.«

Dann aber, beim Anblick von Tränen in Thoras Augen, gab Tante Margret dem Haar des Mädchens ein paar sanftere Bürstenstriche und sagte:

»Magnus mag nicht so klug wie sein Bruder sein, Thora, er ist aber zwanzigmal gewissenhafter und zuverlässiger und nicht weniger imstande, ein Mädchen unter seine Obhut zu nehmen und es glücklich zu machen. Außerdem, mein Herz, ist alles bestimmt und abgemacht, und auf der schon fertigen Straße reist es sich stets am bequemsten, wie du weißt. Deine Heirat mit Magnus ist zwischen dem Gouverneur und deinem Vater nun einmal ausgemacht, sie haben ihr Herz darauf gesetzt und der Kontrakt ist fertig, und wenn jetzt noch irgend etwas dazwischen kommen sollte –«

Thora jedoch, die mit seitwärts geneigtem Haupt einem Geräusch draußen gelauscht hatte, sprang plötzlich auf und sagte, »ich glaube das ist Silvertops Schritt.«

Der Hufschlag eines Pferdes auf dem Straßenpflaster wurde laut, und im nächsten Augenblick rief eine silberne, männliche Stimme unter dem Fenster: »Hallo! Hallo! Hallo!«

Thora rannte ans Fenster und sagte, zwei der Jalousielatten teilend, mit erheucheltem Erstaunen, »das ist Oskar!« Dann klopfte sie an die Fensterscheibe, um der untenstehenden Gestalt ein »Sogleich!« zuzurufen und einen Augenblick auf dieselbe hinabzuschauen.

Ein junger, dreiundzwanzigjähriger Mensch saß auf einem Pony und hielt ein zweites am Zügel. Er war groß und schlank, fast ebenso blond wie Thora selbst und mit einem Kranz kurzer Locken unter seinem Tirolerhut, den er gegen die sich bewegende Jalousie lüftete. Der Mond war indes untergegangen; ein grau angehauchtes rosa Licht sickerte – als Vorbote der Sonne – durch die dunstige Atmosphäre. Die Schiffe und Fischerboote in der Bucht brachen durch einen Nebelschleier und undeutliche Schatten von Männern und Frauen, bis an die Kehle verhüllt aber wie Kinder plaudernd und lachend, bewegten sich im Dunkel der Straße hin und her.

»Schnell, Tantchen, schnell!« rief Thora mit gedämpfter Stimme, und während die Frauen im Schlafzimmer hin und her liefen und flüsternd miteinander sprachen, schlug sich der wartende junge Mann draußen mit seiner Reitpeitsche an die Gamaschen und pfiff und sang abwechselnd Strophen eines Liebesliedes vor sich hin –

»Trink mir zu mit den Augen dein
Dir antwortet mein Blick.«

»Muß ich diese abscheulichen Dinger tragen?«

»Gewiß mußt du das. Sie sitzen warm und bequem, und es ist nicht, als ob irgend jemand sie sehen würde –«

»Tantchen, sprich nicht so laut, die Leute möchten dich hören.«

»Im Becher brauch' ich keinen Wein
Läßt du den Kuß zurück.«

»Was für eine Stimme er hat! Ich bin sicher, er wird eines Tages sein Glück damit machen.«

»Mag sein, von der Stimme leben die Leute aber nicht – wenigstens hier in Island nicht – da ist dein Kleiderrock.«

»Um Himmelswillen, Tantchen!«

»Der Seelendurst will mehr als Wein:
Den Göttertrank von Glück.«

»Und nun meinen Hut. Wenn ich das alte schwarze Reitkleid tragen soll, muß ich wenigstens etwas Kleidsames auf dem Kopf haben. Der mit der Feder – nein diesen und einen Schleier. So! Sehe ich nett aus?«

»Furchtbar nett, wenn ich dir's sagen soll.«

Das Mädchen lachte vergnügt und sagte mit lauterer Stimme »dann laß uns hinuntergehen – der arme Junge muß des Wartens müde und ungeduldig sein, auf den Weg zu kommen.«

»Nicht halb so ungeduldig wie das arme Mädchen, sollte ich meinen.«

Das lächelnde Gesicht wurde hierauf wieder ernst und Thora sagte: »Sei lieb und sprich nicht mehr von solchen schrecklichen Dingen.«

»Dann vergiß meine Warnung nicht und halte deine Gefühle im Zaume, liebes Kind.«

Die Türe nach der Straße hatte sich unterdessen geöffnet und eine volle Baritonstimme durchflutete, mit dem sanften Murmeln der See vermischt, die Vorhalle –

»Wär' Jovis' Nektar mir vergönnt
Blieb' ich mir gleich –«

»Hallo! Guten Morgen, Thora! Bist du das Tante Margret?«

Aus der Verschanzung der halbgeöffneten Türe, in deren wenige Zentimeter weiten Öffnung ein Auge und zwei Lockenwickel sichtbar wurden, antwortete Tante Margret, daß sie es sei und beauftragte Oskar, während er Thora in den Sattel hob, acht auf ihr Kind zu haben und es Magnus sicher zu überliefern.

Oskar lachte leichthin und antwortete – ihrer Meinung nach nicht allzu überzeugungsvoll –

»Schon recht, Tantchen. Lebewohl!«

»Leb wohl!«

»Leb wohl, Tante Margret!«

»Leb wohl, Thora! Und denke daran!«

Im nächsten Augenblicke waren die beiden jungen Leute im Morgennebel verschwunden zusammen mit einer Reiterschar von in gleicher Richtung sich auflösenden, ähnlichen Schatten. Eine halbe Stunde darauf stand die Sonne am Himmel und in der kleinen Hauptstadt herrschte munteres Leben.

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