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Zweites Kapitel.

Am Morgen des Tages, an dem die Laura fällig war, zeigte sich noch keine Spur von ihr auf der See, aber das beschäftigte nur Thora, die früh aufgestanden war und sich schon vor dem Frühstück nach dem Hafendamm hinunter begeben hatte. Die übrige kleine Welt, in der sie lebte, war ganz von den Vorbereitungen für die Wahl in Anspruch genommen, und alle liefen wie eine Koppel Hunde vor Beginn der Jagd herum. Oskar flog hin und her, mit seinem roten Bändchen im Knopfloch, Ponys mit roten Bändern im Zaumzeug trabten durch die Straßen, und die ganze Stadt hing voll roter Fahnen; aber es lag doch ein Gefühl von Unsicherheit und großer Spannung in der Luft.

Der Tag fing trübe an, eine blasse Sonne hob sich ab wie eine weiße Oblate auf einem alten Pergament vom bleigrauen Himmel. Eine Stunde vor Eröffnung der Wahllokale schaute der Gouverneur gelegentlich seines Morgenspazierganges beim Faktor ein und sagte: »Ich zweifle doch sehr an dem Ausgang der Wahl, Neilsen, und sehe jetzt ein, daß Oskar der schlechteste Kandidat war, den wir aufstellen konnten. Jeder, der etwas gegen den Gouverneur auf dem Kerbholz hat, wird jetzt gegen den Sohn desselben stimmen, und jeder, der etwas gegen den Faktor hat, stimmt natürlich gegen seinen Schwiegersohn.«

»Oh, ich kenne meine Leute, du meine Güte,« sagte der Faktor. »Herren, wenn man etwas von ihnen verlangt – Sklaven, wenn man es nicht tut. Aber wir werden schon sehen, Stephenson!«

Nachdem er sein Frühstück behaglich eingenommen hatte, begab sich der Faktor in sein Kontor und ließ sich sein Hauptbuch bringen. Es fand sich, daß beinahe die Hälfte aller Wähler der Stadt seine Schuldner waren, je nachdem mit größeren oder kleineren Summen, und daß bei nicht wenigen jede Hoffnung auf Bezahlung umsonst war. Er rechnete die Zahl der ganzen Schuld zusammen und erschrak über die Höhe. »Aber, jeder ist sich selbst der Nächste,« dachte er, steckte sich seine lange deutsche Pfeife an, nahm das in Leder gebundene Buch unter den Arm und schlenderte ruhig nach dem Wahllokal hinüber.

Als Beisitzender von Oskars Kommission hatte der Faktor das Recht, innerhalb des Wahllokals zu sitzen, aber er bat nur, man möchte ihm erlauben, auf einem Stuhl vor dem Zähltisch Platz zu nehmen, zu dem die Wähler herantreten mußten, wenn sie ihre Stimme abgaben. »Ein niedriger Sitz ist oft bequem,« sagte er und setzte sich so, daß er dem Kreisrichter das Gesicht zuwandte und der Tür den Rücken.

Als die Türen geöffnet wurden, legte der Faktor sein Hauptbuch auf seinen Schoß und zog einen dicken Blaustift aus der Tasche. Sobald der Wähler nun an den Tisch trat und sein Name aufgerufen und im Register aufgesucht wurde, schlug der Faktor die Rechnung des Wählers in seinem Buche auf und hielt seinen Blaustift darüber.

»Für wen stimmt Ihr?« fragte der Kreisrichter, »für Oskar Stephenson oder Jon Oddsson?« Und wenn der Wähler antwortete: »Oskar Stephenson«, dann fuhr der Blaustift mit zwei dicken Strichen über die Rechnung, als ob er sie gänzlich auslöschte; antwortete er aber »Jon Oddsson«, dann unterstrich er die Totalsumme mit einem doppelten Strich, als wollte er sagen, »die wird nächstens eingetrieben werden«.

Die Opposition war mit hitzigem Eifer eingetreten, aber die Wirkung war eine momentane. Ein Wähler trat großtuerisch an den Tisch heran, rief seinen Namen mit dröhnender Stimme, erblickte aber, während er auf die Bestätigung seines Wahlrechtes wartete, den unten sitzenden Faktor mit seiner eigenen Schuldrechnung vor sich, und alles im Augenblick begreifend, begann er dem Kreisrichter mit einem stotternden »Odd –« zu antworten, schrak dann aber zusammen, murmelte »Stephenson« und stolperte zur Tür hinaus.

Stunde auf Stunde saß der Faktor so schweigend bei seiner Arbeit, blickte kein einziges Mal von seinem Hauptbuch auf und schien nichts anderes zu tun, als was seines Amtes war, nämlich die Wahlzettel des Kreisrichters zu kontrollieren. Tante Margret kam und sagte, das Mittagsmahl wäre bereit, aber er antwortete, er hätte keinen Hunger. Gegen drei Uhr nachmittags erschien Thora in großer Aufregung und meldete, die Laura wäre in Sicht, aber er erwiderte, sie möchte die Schwester allein empfangen, er würde nicht vor Mitternacht nach Hause kommen können.

Als die Kirchenuhr vier schlug, stand der Kreisrichter auf und beantragte das Schließen der Türen. Der kurze Wintertag war zu Ende und während das laute Zählen – »Stephenson, Stephenson, Oddsson, Stephenson« – wie tropfender Regen auf das Straßenpflaster, monoton in das lautlose Zimmer klang, schritt der Faktor mit seiner Pfeife im Munde auf dem Korridor auf und ab, wie ein Mann in seinem Obstgarten umherwandelt, wenn die Früchte reif sind.

Als die Zählung beendet war, ließ der Kreisrichter die Fenster öffnen; nun drang das Summen der Menge herein, die draußen singend und schreiend gestanden hatte, und verstärkte sich zu einem Lärm, der wie das Brausen der Flut gegen einen steinigen Strand klang. Im nächsten Augenblick schüttelte jedermann Oskars Hand, eine Musikkapelle begann auf der Straße zu spielen und der Kreisrichter trat auf den Balkon hinaus.

Inzwischen war Thora in einer ganz andersartigen Aufregung nach dem Hafendamm hinunter gegangen, um Helga zu begrüßen. Sobald die Laura in den Fjord eingelaufen war und außerhalb der Stadt vor Anker gelegt hatte, machte sie ihres Vaters weißes Boot los und ruderte an das Schiff heran. Es war jetzt ganz dunkel geworden, aber auf dem Dampfer brannten Lichter und die dunklen Gestalten der Passagiere hoben sich vom Himmel ab, während sie sich über das Geländer beugten und den Freunden zuriefen, die zu ihrer Begrüßung in kleinen Booten herausgekommen waren. Thora war überzeugt, daß Helga unter ihnen sei und wollte ihr gern zurufen, aber das Herz schlug ihr so heftig, daß sie keinen Ton hervorbrachte. Endlich wurde die Schiffstreppe heruntergelassen; Thoras Boot ruderte heran und sie kletterte zum Dampfer hinauf.

»Helga!«

»Miß Helga ist unten,« antwortete eine Stimme aus der Dunkelheit, und obgleich es sie ein wenig enttäuschte, daß Helga nicht auf sie wartete, lief sie doch die Treppe zum Salon hinab. Unten rief sie noch einmal »Helga« und die Aufwärterin sagte – »die junge Dame ist in ihrer Kabine.«

»In welcher?«

»In der zweiten, links.«

Mit immer wachsender Enttäuschung, aber atemlos vor Eifer eilte Thora nach der Kabine und nun kam eine große Überraschung.

Sie hatte sich Helga unwillkürlich als ein kleines Ding vorgestellt, etwas gewachsen natürlich, aber doch kleiner als sie selbst. Wenn sie von ihrem Wiedersehen träumte, so malte sie sich dasselbe stets so aus, daß sie sich herabbeugte, um Helga zu küssen und in halb schwesterlicher, halb mütterlicher Weise die Arme um sie schlang. Aber die junge Dame, die mit heruntergelassenem Schleier ruhig aus der Kabine trat und sich ihre schwedischen Handschuhe zuknöpfte, war viel größer als Thora und sehr würdevoll und stattlich.

»Thora!« sagte das junge Mädchen.

»Bist du es wirklich?« sagte Thora.

»Ja, ich bin es wirklich,« erwiderte Helga lachend, und nun neigte sie sich herab, um Thora zu küssen, die zu ihr aufsehen mußte.

Thoras Herz klopfte. Sie blickte Helga noch einmal beim matten Schein der Salonlampe an und kam sich selbst klein und unbedeutend vor. Helga war schön, mit ihren feingeschnittenen Zügen, den großen grauen Augen und dem dunklen Teint, und Thora dünkte sich neben ihr unschön und gewöhnlich. Helga war nach dänischer Mode elegant gekleidet, mit den weichen seidenen Verzierungen um Hals und Brust, die ein reizendes Mädchen noch reizender machen und Thora hielt sich für plump und bäuerisch in ihrer isländischen Hufa und dem steifen Sammetmantel.

»Bist du allein gekommen?« fragte Helga.

»Ganz allein,« sagte Thora.

»Warum hat dich denn Vater nicht begleitet, oder Tante Margret, oder dein wunderbarer Oskar? Ist niemand weiter da als du?«

»Niemand außer mir,« sagte Thora, und dann bestellte sie, sich sehr bedrückt und klein fühlend, was ihr der Faktor aufgetragen hatte und erzählte von der Wahl.

»Ah, das war der Grund für die Musik, die wir beim Einfahren hörten?« sagte Helga, und Thora glaubte im ersten Augenblick, Helga hätte vielleicht gehofft, sie fände ihr zu Ehren statt, aber im nächsten Moment schämte sie sich des törichten Gedankens.

»Dann können wir wohl gehen,« sagte Helga und stieg leichtfüßig die Treppe hinauf, während Thora ihr folgte. Es war alles so ganz anders wie Thora erwartet hatte – so ganz anders, – daß sie am liebsten davon gelaufen wäre und sich ordentlich ausgeweint hätte.

Aber als sie nachher mit Helga im Boot saß, die Lichter fern von ihnen waren, und Thora keine Scheu mehr vor Helgas Eleganz und Schönheit empfand, da schlang sie ihren Arm um Helgas Taille, wie sie es sich immer vorgenommen hatte, und nun kamen sie besser miteinander aus.

Als sie den Hafendamm erreichten, schrie und kletterte alles in der Dunkelheit durcheinander, was Thora nervös machte und aufregte, Helga aber blieb ruhig und schien sich darüber zu amüsieren.

»Wagen gibt es natürlich in diesem gottverlassenen Lande nicht?« sagte Helga.

»Nein, aber ich habe Silvertop zum Reiten für dich mitgebracht,« sagte Thora.

»Und was ist denn für dich da?«

»Oh, ich gehe – ich gehe sehr gern zu Fuß.«

Die Straße oberhalb des Hafendammes war von einer dicht gedrängten Menge erfüllt, die außerhalb des Wahllokals das Resultat der Abstimmung erwartete, und die jungen Mädchen fanden es schwierig, sich ihren Weg durch den lärmenden, aber gutmütigen Menschenhaufen zu bahnen, bis ein großer Mann vor sie hin trat und die Leute wie Kegel auseinander trieb.

»Was für ein Riese war denn das,« sagte Helga. »Er könnte ja einen Ochsen totschlagen.«

»Erkanntest du ihn nicht wieder Helga? Es war ja Magnus Stephenson,« sagte Thora.

»Magnus? Warum redete er uns denn nicht an?«

Sie waren glücklich durch das Gedränge gelangt und schritten auf das Wahllokal zu, als plötzlich ein Riesengeschrei ertönte, denn der Kreisrichter trat gerade auf den Balkon hinaus.

»Er wird die Wahl verkünden. Wollen wir nicht warten?« fragte Thora.

»Das kann ja ganz amüsant sein,« sagte Helga. Sobald Stille eingetreten war, las der Kreisrichter die Zahlen vor. Oskar war mit einer Majorität von drei zu eins gewählt worden. Nun erhob sich ein neuer Orkan von Hochrufen und der Name Oskar ertönte von allen Seiten.

»Jetzt wird Oskar gleich kommen,« sagte Thora. »Wollen wir nicht warten, um ihn zu sehen?«

»Warum nicht? Das wird ein guter Spaß,« sagte Helga, und in der Zwischenpause klopfte Thora Silvertop, um ihn zu beruhigen und trat näher an ihre Schwester, der sie lebhaft die Hand drückte.

Dann trat Oskar unter jubelndem Beifallssturm auf den Balkon hinaus, und hinter ihm erschienen zwei Leute mit Fackeln, sodaß seine Gestalt und sein Gesicht deutlich von der Menge gesehen werden konnten – seine schlanke biegsame Figur, das blonde Kraushaar, die strahlenden Augen, der ausdrucksvolle Mund und das nie versagende Lächeln, das jedermann bezauberte.

So sah ihn Helga zum erstenmal als Mann wieder, und ihr Gesicht, das so heiter gelächelt hatte, nahm einen ernsten Ausdruck an.

»Wie schön!« sagte sie.

Thora vermochte ihre Worte bei dem lärmenden Hochrufen kaum zu verstehen, aber sie sagte: –

»Er wird reden – wollen wir warten, um ihn zu hören?«

»Gewiß,« sagte Helga, und als Oskar mit den Worten begann, »Mitbürger und Landsleute,« da fühlte Thora, wie Helgas Hand zitterte und hörte sie leise sagen: »Dieselbe Stimme!«

Oskars Rede wurde nach jedem Satz mit donnerndem Applause begrüßt, und als er geendet hatte und der Redner mit den Fackelträgern verschwunden war, sprach Thora wieder zu Helga, aber sie antwortete abwesend und saß wie im Traum auf ihrem Sattel.

Hierauf trat ein anderer Mann auf den Balkon hinaus und wurde mit geteiltem Beifall empfangen.

»Es muß Vater sein,« meinte Thora, und dann hörten sie die Stimme des Faktors, die mit großer Gleichgültigkeit gegen feindselige Unterbrechungen mitteilte, daß im Hotel Island ein Souper für das Komitee des erfolgreichen Kandidaten stattfinden werde. Man solle sich sogleich dorthin begeben – das neue Parlamentsmitglied würde sofort folgen.

Die Menge zerstreute sich hierauf und die Mädchen setzten ihren Weg fort – Thora noch enger als zuvor an die Schwester geschmiegt, denn das Herz brannte ihr vor Liebe und Stolz.

»Nun,« sagte sie, »was sagst du nun zu ihm?«

»Was ich zu ihm sage? Zu Oskar?« sagte Helga. Sie lachte unbehaglich, beugte sich dann von dem Sattel herab und flüsterte:

»Wenn man denkt, daß ein so kleines Ding, wie du, einen solchen Mann erobert hat!«

Thora lachte auch, aber sie wußte nicht recht, ob sie erfreut oder gekränkt sein sollte. Ein kalter Hauch hatte sie plötzlich gestreift. Es war wie im Sommer, wenn die Schneeluft dann und wann von den Bergen herabweht.

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