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Achtes Kapitel.

Unter der vereinten Wirkung der Erschöpfung und eines Schlafmittels schlief Thora bis zum Mittag, und bei ihrem Erwachen war der böse Geist, der sie wie ein Dämon besessen und unkenntlich gemacht hatte, entflohen und sie wieder ihr süßes, argloses Selbst. Der Kampf aber war ein entsetzlicher gewesen, und wenn auch der edlere Teil ihrer Seele gesiegt hatte, so hinterblieb dem gebrechlichen Körper als dem Schauplatz desselben eine namenlose Schwäche. Sie sah bleich und abgezehrt aus, und ihre blauen Augen schienen groß und durchsichtig.

Ehe sie sie öffnete, hörte sie aus dem Hinterzimmer (das in eine Kinderstube verwandelt worden war) den süßesten, herzbewegendsten Laut, der je das Ohr einer Frau berührt, einen Laut, der in seiner Beglückung alles Entzücken, das je eine menschliche Seele durchdringen kann, zusammenfaßt, einen Laut, den alle Frauen der Welt nur einmal hören – den ersten Schrei ihres erstgeborenen Kindes.

Thora öffnete die Augen und sah Anna strickend an ihrer Seite.

»Ist das das Kind?« fragte sie.

»Ah, ich dachte mir, daß du wach seiest,« sagte Anna. »Ja, Thora, das ist das Kind, Margret Neilsen badet es.«

»Bring' es mir. Sag Tante Margret, daß sie es sofort bringt.«

»Nachher, Liebste, nachher!«

»Nein, sofort! Wenn sie mir nicht diese Minute das Kind bringt, stehe ich auf und gehe zu ihm.«

»Pst! Du hast dich ganz ruhig zu verhalten und darfst dich nicht aufregen. Und was das Aufstehen anbetrifft, so sagt der Doktor, daß der Himmel weiß was passieren mag, wenn du dich vor acht Tagen nur aus dem Bett heraus wagst.«

»Ja, ich weiß. Ich bin sehr eigensinnig, und du mußt es mir vergeben. Aber ich habe das Kind noch gar nicht gesehen, nicht wirklich, und wenn du es mir herbringst, will ich auch ganz gehorsam sein. Ich will mich auch nicht im geringsten aufregen – nicht im geringsten. Du sollst sehen, wie ruhig ich sein kann.«

»Nun, wenn du es mir versprechen, fest versprechen willst,« sagte Anna.

»Warte! Setz' dich noch' mal, Mutter. Setz dich hier ans Fenster. Ich muß dich erst noch etwas fragen. Sieht es – sieht das Kind irgend jemandem ähnlich?«

»Jemandem ähnlich sehen? Das sollte ich meinen. Ich habe nie im Leben ein Kind seiner Mutter so gleichen sehen.«

»Mir gleichen? O, bring es mir! Bring es! Ich halte es keinen Augenblick länger aus.«

Anna ging in die Kinderstube und erzählte Tante Margret, daß Thora wach sei und ungeduldig nach ihrem Kinde verlange.

»Aber sie wird es nehmen wollen,« sagte Tante Margret.

»Du kannst es ihr ruhig anvertrauen, dafür ist sie seine Mutter,« sagte Anna.

»Aber wird es sicher sein? Ist sie ganz wieder sie selbst?«

»Darauf wollen wir es ankommen lassen,« sagte Anna.

Tante Margret nahm das Kind in seinem Tragekleidchen auf und trug es mit seiner Flasche gegen die Brust gedrückt nach Thoras Zimmer, wo sie vor dem Bette stehenbleibend sagte: »Da! Sieh dir's nur 'mal an!«

»Gib es mir, gib es mir,« rief Thora, zwei zitternde, weiße Arme ausstreckend.

»Behutsam denn, behutsam!« sagte Tante Margret.

Es war kein Grund zur Angst vorhanden. Thora preßte ihr Kind mit der freien, verwegenen und doch vorsichtigen Bewegung, die allen Müttern jeder Gattung natürlich ist, an die Brust.

»Mein Kind! Mein Kind!« flüsterte sie mit vor Freude verklärtem Gesicht. »Ja, es ist mir ähnlich. Ich kann es selbst sehen. Weshalb öffnet es aber seine Augen nicht? Schläft es? Das kann es doch nicht, es saugt ja noch. Ku – u – ei! Ist es nicht bildhübsch? Wie närrisch von mir, dies selbst zu sagen! Aber wahr ist es doch. Ku – u! Mein Töchterlein! Mein schmuckes, schmuckes Töchterlein!«

Durch all dies Kauderwelsch – die göttlichen Torheiten der Mutterschaft – hindurch standen die beiden älteren Frauen neben der Bettseite und versuchten, die Tränen gewaltsam zurückdrängend, sich hinter ihren vorgehaltenen, schwarzseidenen Schürzen zum Kichern und Lachen zu bringen.

»Hat Oskar sie schon gesehen?«

»Noch nicht,« sagte Anna.

»Aber er ist zurück, nicht wahr? Habt ihr mir nicht gesagt, daß er zurückgekommen sei?«

»Ja, aber er war ganz erschöpft vom Wachen, und ich habe ihn zu Bett geschickt.«

»Armer Junge!«

»Und Magnus ist auch hier, ich konnte ihn aber nicht dazu bewegen zu Bette zu gehen, und er macht sich noch immer in der Küche zu tun.«

»Wieviel Mühe ich euch allen verursache!«

»Mühe? Das nenne ich keine Mühe.«

»Dafür habt ihr nun auch das Kind, nicht wahr?« sagte Thora und blickte, als ob sie ihnen alle Schätze der Welt zugebracht, auf das Kleinod an ihrer Brust herab. Plötzlich rief sie: »O, o! Seht nur, seht!«

Tante Margret, die nach der andern Seite des Zimmers hinübergegangen war, fiel bei Thoras plötzlichem Ausruf fast in Ohnmacht.

»Was ist los?« keuchte sie.

»Es hat seine Augen geöffnet,« sagte Thora.

Tante Margret fiel, um wieder zu Atem zu kommen, auf einen Stuhl nieder.

»Sie sind blau, wie meine eignen. Oskars sind braun und Helgas – Helgas sind grau. Vielleicht werden die Augen der Kleinen sich aber verändern! Wechseln die Augen der Kinder manchmal ihre Farbe, Anna?«

»Zuweilen tun sie es,« sagte Anna, »blaue Augen werden manchmal braun –«

»Aber nie grau?«

»Nicht daß ich wüßte,« sagte Anna.

»Ich bin so glücklich, daß die Kleine mir gleicht,« sagte Thora und schaute mit bewunderndem und liebendem Blick auf das Kind nieder. Dann wandte sie ihre anmutige Selbstsucht einem andern Gegenstande zu und sagte:

»Meinst du nicht, Mutter, daß Oskar jetzt lange genug geschlafen hat?«

»Doktor Oddson sagte, er solle bis morgen schlafen,« erwiderte Anna.

»Aber könntest du ihn nicht auf einen Augenblick – nur gerade auf einen Augenblick – wecken, daß er herein käme und uns beide – die Kleine und mich zusammen sähe – würde es ihm sehr schaden?«

»Nein, aber dir würde es sehr schaden, du würdest dich zu sehr aufregen, und dann, mein Schatz, würde ich es auszubaden haben.«

»O nein, ich will ganz ruhig sein, ich verspreche dir, ganz ruhig. Und Oskar könnte in seinem Schlafrock kommen und gleich wieder weiter schlafen. Bitte, rufe ihn – bitte, tut es – Anna, Tante Margret – Mutter!«

Sie konnten der flehenden Stimme nicht widerstehen, und Anna ging nach Oskars Zimmer hinüber, wo er sie wach empfing.

»Wie geht es ihr jetzt?« fragte er.

»Noch ein wenig schwach, aber sie nimmt stündlich an Kraft zu,« sagte Anna.

»Und das Kind?«

»Sie hat es bei sich im Bett und möchte so gern, daß du kämst und sie beide sähest!«

»Ich komme sofort.«

»Die liebe Thora! Endlich ist sie zufrieden. Ich habe nie jemand so glücklich gesehen und nie jemand, der sein Glück mehr verdiente. Eben jetzt, als ich sie verließ, blickte sie mich mit den reinsten Kinderaugen an. Sie schwebt aber noch zwischen Leben und Tod. Es bedürfte nur des geringsten Anlasses, um sie dieser Welt zu entrücken. Deshalb wäge deine Worte, Oskar, und sage nichts was sie aufregen könnte.«

Oskar versprach es und folgte seiner Mutter in Thoras Schlafgemach. Auf der Schwelle desselben hörte er das leise »Bu–u, ku–u« mütterlicher Zärtlichkeitsäußerungen, und dann zeigte sich ihm auf dem Kopfkissen das strahlende blasse Gesicht mit dem kleinen, roten dicht darunter.

»Meine arme Thora,« sagte er, ihr die Stirne küssend. »Du leidest jetzt nicht mehr, nicht wahr? Ein wenig bleich vielleicht und ein wenig spitz, aber sonst doch besser?«

»Sieh!« flüsterte sie, die Decke vom Kinde lüftend und für nichts anderes Gedanken habend. »Wem sieht sie ähnlich, Oskar?«

»Ähnlich! Wem sie ähnlich sieht, fragst du mich? Sie hat – eine lächerliche Ähnlichkeit mit dir, Thora!«

»Küsse mich, Oskar. Nimm uns beide in deinen Arm, Geliebter. So – so ist's recht.«

Den nächsten Moment fing das Kind jedoch zu schreien an, und die älteren Frauen erhoben lauten Einspruch.

»Mach, daß du fortkommst, du großes, plumpes Ungetüm,« sagte Tante Margret.

»Nein, nein,« rief Thora. »Oskar war es nicht, der tut nie jemandem weh. Ich war es, Tantchen.« Aber Tantchen, auf die diese heldenmütige Selbstaufopferung keinen Eindruck machte, nahm das Kind aus dem Bett heraus, legte es mit zur Erde gekehrtem Gesicht auf ihre Kniee und fing an, es zu wiegen.

Als das Kind in den Schlaf gelullt war, begannen sie, sich über seinen Namen zu beraten. Oskar war für »Thora«, Thora selbst jedoch sagte nein, das wäre ihr eigener Name, der Name, bei dem Oskar sie nenne und den könne sie mit ihrem eignen Kinde selbst nicht teilen.

»Was sagst du zu Elin?« fragte Oskar.

»Wundervoll! Anna, Tante Margret, hört zu! Sag ihn noch einmal, Oskar.«

»Elin.«

»Klingt er nicht reizend in Oskars Munde?«

So beschlossen sie denn schlankweg, daß es Elin werden sollte, und dann kam die Frage der Taufpaten in Betracht. Thora stimmte für Magnus (»der arme Magnus!«) und Oskar schloß sich ihr an. Als er dann aber seinerseits Helga vorschlug, erlosch aller Sonnenschein auf Thoras Gesicht, worauf Anna ihm schnell einen Blick zuwarf und anfing irgend ein Geräusch zu machen.

»Dann also Magnus als Pate und Tante Margret als Patin,« sagte Oskar, und so wurde es beschlossen.

»Und heute gleich soll die Taufe sein,« sagte Thora.

»Heute?« rief Anna. »Aber, Thora, ein Kind wird nie gleich am Tage seiner Geburt getauft, es müßte denn die Nottaufe sein.«

Nun war die Reihe an Tante Margret, ein Geräusch zu machen und sie verursachte dasselbe dadurch, daß sie beim Aufstehen das Kind aus seinem Schlummer weckte und laut dafür stimmte, daß Oskar aus dem Zimmer herausgeworfen und Thora in Ruhe gelassen werden sollte.

»Ja, ja, sie hat recht,« sagte Oskar und folgte, nachdem er Thora verschiedene Male geküßt hatte, Tante Margret und dem Kinde nach der Kinderstube. Als sie das Zimmer verlassen hatten, lehnte Anna sich über das Bett und flüsterte: »Siehst du, habe ich dir nicht gesagt, was die Glocke schlagen würde? Ist Oskar nicht zu dir zurückgekehrt? Fühltest du nicht, als er dich küßte, daß sein ganzes Herz dir gehöre?«

»Ja, das ist wahr,« sagte Thora. »Aber glaubst du, daß es dauern wird?«

»Gewiß wird es dauern. Gestern abend klagte er sich über alles mögliche an, und heute scheint er wie jemand, der ein neues Leben beginnt.«

»Glaubst du das, Anna? Glaubst du es gewiß und wahrhaftig?«

»Gewiß und wahrhaftig. Verlasse dich drauf, er wird das Kind keine fünf Minuten am Tage außer Augen lassen. Und nie wird sein Blick es treffen, ohne daß er dabei deiner gedächte.«

»Wie glücklich ich bin, Anna. Niemals vorher bin ich so glücklich gewesen, nie, nie!« Sie holte tief Atem und schloß, um das Klopfen ihres Herzens zu mildern, ihre strahlenden Augen. Es herrschte eine momentane Pause, und dann sagte sie mit gänzlich veränderter Stimme: »Anna?«

»Ja, mein Lieb?«

»Gestern abend – als ich so krank war – sagte ich da nicht –«

»Still! Still! das ist alles vorüber. Dessen wollen wir nie wieder erwähnen.«

»Trotz alledem, wenn ich jetzt sterben könnte – jetzt, wo ich so glücklich bin – und das Kind mit mir –«

Und dann sank Anna an Kopf und Füßen zitternd auf einen Stuhl nieder.

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