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Fünftes Kapitel.

Unterdessen spielte sich im hinteren Wohnzimmer eine kleine Tragikomödie ab. Anna sah bleich und erregt aus, während Tante Margret merkwürdig weise und listig d'reinschaute.

»Thora!« keuchte Anna. »Hast du etwas von Thora gesehen?«

»Ob ich etwas von Thora gesehen habe? Du mußt wohl träumen, liebe Anna.«

»Dann ist sie fort und ich hatte doch recht,« sagte Anna.

»Wäre das möglich?« sagte Tante Margret.

»Magnus behauptete, sie sei hierher gegangen, um das Kind zu sehen, sie ist aber ganz wo anders, armes Kind, und wir werden sie niemals wiedersehen.«

»Wie schade,« sagte Tante Margret, und darauf fuhr Anna auf sie ein:

»Margret Neilsen, verstehst du etwa nicht, was ich sage? Das arme Kind war von Sinnen und stahl sich aus dem Hause hinaus, während ich schlief, und der Himmel weiß, was sie mit sich angefangen haben mag.«

»Still! Sei ruhig, Anna, und komm mit mir in dies Zimmer, ich will dir etwas sagen. Magnus hatte ganz recht.«

»Dann ist sie hier gewesen?«

»Sie ist noch hier, sie ist diesen Augenblick hier und oben.

»O, dem Himmel sei Dank!«

»Sprich nicht, damit das arme Ding dich nicht hört. Und schilt sie auch nicht, und wenn du den Kreisrichter ihretwegen mitgebracht hast –«

»Ich den Kreisrichter mitgebracht? Was redest du eigentlich, du verdrehte Person?«

»Können wir sie denn nicht noch ein wenig länger hier lassen? Sie hat nicht jeden Tag die Gelegenheit –«

»Meinethalben, Margret, kann sie die ganze Nacht bleiben.«

»Das ist unmöglich, der Faktor ist in einer solchen Angst. Und dann ist auch der Gouverneur da –«

»Das ist wahr,« sagte Anna.

»Aber sie kann ungefährdet noch eine Stunde länger bei ihrem Kinde bleiben, was meinst du?« fragte Tante Margret.

»Ja, noch eine Stunde,« sagte Anna.

»Das arme Ding sollte sich, während wir uns unterhalten, heimlich wegstehlen, wir wollen aber hinauf gehen und es überraschen. Und wenn du es mit dem kleinen Wesen an der Brust und mit dem traurigen Lächeln auf dem Gesicht auf dasselbe hinabschauen und es küssen siehst, wird dir das Herz überfließen. Aber ums Himmels willen, Anna, trockne dir die Augen und schneuze dich und mache um alles in der Welt ein vergnügteres Gesicht – sachte nun, sachte, oder sie wird denken, wir haben den Kreisrichter hinter uns.«

Damit schlichen beide alte Wesen schnaubend, als ob sie den Schnupfen hätten, aber doch ein Lächeln und einen vergnügten Gesichtsausdruck erheuchelnd, ins Schlafzimmer hinauf.

Zu der Zeit jedoch war das Zimmer leer und Thora auf und davon.

Die Frauen blickten sich einen Moment stumm an, und dann lief Tante Margret an die Wiege. Das Kind war ebenfalls verschwunden.

In diesem Augenblick klingelte die Glocke an der Vordertüre von neuem. Tante Margret rief: »Da ist sie!« und beide Frauen stürmten hinunter, um sich zu überzeugen.

Es war Magnus, der herein kam.

»Thora ist hier gewesen, aber sie ist verschwunden – diese Minute verschwunden,« rief Anna.

»Und sie hat das Kind mitgenommen,« rief Tante Margret.

Ohne ein Wort wandte sich Magnus um und sprang auf die Straße zurück. Dort stieß er auf den Kreisrichter und erzählte dem, was sich zugetragen hatte. Im nächsten Augenblick liefen beide Frauen, die eine hier- die andere dorthin, und beide Männer eilten nach verschiedenen Richtungen hin auseinander.

Eine halbe Stunde darauf trafen sie in des Faktors Haus wieder zusammen. Thora und das Kind waren nicht aufgefunden worden. Sie waren spurlos verschwunden, als ob ein Lavastrom sie verschluckt hätte.

Die beiden Frauen saßen mit bleichen Gesichtern und entsetzten Augen nebeneinander und drehten ihre Taschentücher in Bälle zusammen.

»Der Doktor hatte also doch recht,« sagte Anna. »Sie hatten alle recht, obgleich wir sie für so grausam und hartherzig hielten. Das arme Ding wünschte sich den Tod – sie hat es mir selbst gesagt.«

»Mir hat sie es ebenfalls gesagt – heute noch hat sie es mir gesagt,« sagte Tante Margret.

»Ist da kein Haus in der Stadt, das sie zu besuchen pflegte?« fragte der Kreisrichter.

»Keines,« sagte Anna, und Tante Margret bemerkte: »Danach war Thora nicht angetan, sie ging nie zu irgend jemand zum Kaffee und zum Klatschen.«

»Lassen Sie uns noch einmal einen Versuch machen,« sagte Magnus zum Kreisrichter.

Die Sonne war über dem Fjord untergegangen, und in der Ebene hatte der Dunsthauch des Abends die schwarzen Felsen verhüllt, als beide Männer zum zweiten Male nach des Faktors Haus zurückkehrten. Ihr Suchen war erfolglos gewesen, und Magnus sah bleich und erschöpft aus.

Anna und Tante Margret saßen kummervoll im Wohnzimmer, es gewährte ihnen aber eine gewisse Befriedigung in ihrem Schmerz, andere betrübt aussehende Frauengruppen sich auf der Straße ansammeln zu sehen.

»Ich wußte, es würde vergebens sein,« sagte Anna. »Sie ist uns verloren, die arme, liebe Thora, ich fürchte, sie ist im Himmel – der arme Herzensliebling!«

»Und hat das arme, kleine unschuldige Kind mit sich genommen,« sagte Tante Margret.

»Hat irgend jemand daran gedacht, nach dem Gouvernementshause zurückzugehen?« fragte der Kreisrichter.

»Dorthin ging ich zuerst,« sagte Magnus.

»Und nach dem See?«

»Der See war mein zweiter Gang.«

»Und nach dem Landungsplatz?«

»Dort war ich ebenfalls. Ich glaube aber nicht, daß Thora sich das Leben genommen hat,« sagte Magnus.

»Dann ist sie um diese Zeit schon vor Ermattung gestorben, und es kommt alles auf eins heraus,« sagte Anna.

»Dazu ist sie auf Strümpfen – seht nur,« sagte Tante Margret, indem sie die von Thora oben abgenommenen Morgenschuhe zum Vorschein brachte und dieselben schluchzend küßte.

»Es gibt noch eine Möglichkeit – sie mag versucht haben, ihrem Gatten zu folgen,« sagte Magnus.

»So weit und ohne Pferd?« sagte der Kreisrichter.

»Es ist die letzte Hoffnung – und ich werde sie nicht aufgeben,« sagte Magnus. »Mutter,« fügte er hinzu, »du solltest lieber nach Hause zurückgehen.«

»Das kann ich nicht – das wage ich nicht – und wenn irgend etwas passiert sein sollte, werde ich nie des armen Mädchens Zimmer wieder betreten können,« sagte Anna.

Draußen blieb Magnus im verbleichenden Licht einen Moment stehen, um Galden Manes Flanken abzutrocknen und den gebeugten Nacken zu streicheln.

»Ich glaube kaum, daß auch nur ein Pferd in der Stadt zurückgeblieben ist,« sagte der Kreisrichter. »Deinem prachtvollen Pony wird es aber das Leben kosten.«

»Dann stirbt es einen schönen Tod,« sagte Magnus.

»Magnus,« fuhr der Kreisrichter fort, »ich werde jedes Haus in Reykjavik absuchen lassen, und wenn ich heute abend Erfolg haben sollte, erwarte ich von dir, daß du uns morgen früh behilflich bist.«

»Wenn Sie keinen Erfolg haben sollten, werde ich Ihnen behilflich sein,« sagte Magnus mit einem heiseren Lachen und war im nächsten Augenblick in der Dunkelheit verschwunden.

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