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»Gibt es im Felsengebirge noch gefährliche Raubtiere?« fragt Fritz den Naturforscher, während der Zug schnaubend und keuchend ein dunkles Tal hinaufrollt.
»Aber gewiß! Das größte unter ihnen ist der Grislibär. So ausnehmend gefährlich ist er wohl gar nicht einmal, und jedenfalls ist er besser als sein Ruf. Läßt man ihn in Frieden, so tut er keinem Menschen etwas zuleide, und selbst wenn er angegriffen wird, ergreift er fast immer das Hasenpanier. Ist er aber verwundet und seine Angreifer in der Nähe, so kann er fürchterliche Rache nehmen. Er ist das stärkste aller Tiere dieser Gegend, und in früheren Zeiten galt es als höchster Ruhm der Tapferkeit, sich mit einem Halsband von Zähnen und Krallen des Grislibären schmücken zu können.
»Hübsch anzusehen ist das Tier, wenn es Wald und Dickicht durchwandert, wo es sich als unbeschränkten Herrscher über alle Tiere des Erdbodens betrachtet. Der Grislibär ist bald bräunlich, bald grau, und die grauen Kameraden sollen gefährlicher sein als die braunen. Er ist größer als der schwedische Landbär und wird manchmal 2½ Meter lang. Übrigens lebt er meist wie ein gewöhnlicher Bär, kriecht wie dieser in seine Höhle, frißt Beeren, wildes Obst, Nüsse und Wurzeln, tötet aber auch Tiere und soll ganz geschickt im Fischfang sein. Da fällt mir eine kleine Jagdgeschichte ein.
»Ein weißer Jäger wünschte einen Grislibären zu erlegen, und ein junger Indianer führte ihn zu einer Stelle hin, wo sich eines dieser Tiere zu zeigen pflegte. Hinter einem kleinen Felsblock versteckten sich die beiden Schützen, nachdem sie einen eben erbeuteten Hirsch als Lockspeise ausgelegt hatten. Der Indianer, der die Gewohnheiten des Bären kannte, hatte sich nicht getäuscht. Bald kam ein gewaltiger Bär aus dem Walde herangetrottet; das Tier sah im Gehen so komisch aus, daß der weiße Jäger sich des Lachens nicht erwehren konnte. Der Indianer blieb still und ernst. Der Bär blieb oft stehen, schnupperte wiederholt in der Luft umher und schaute sich nach allen Seiten um, ob keine Gefahr drohe. An einer Stelle kratzte er den Boden auf, beschnüffelte dann seine Vordertatzen, legte sich auf den Rücken und wälzte sich eine Weile auf der Erde; er wollte sich wohl mit irgendeiner scharf duftenden Pflanze, die da wuchs, den Pelz einreiben.
»Dann ging er langsam weiter. Nach einer Weile setzte er sich nieder, kraute sich das Fell, besah sich seine Tatzen und beleckte seine Sohlen. Dann kratzte er sich mit den Hintertatzen hinter den Ohren. Und als er nun genug Toilette gemacht hatte, lief er im Trab auf den Platz zu, wo der Hirsch lag. Als er das Tier vor sich sah, schien er ganz verblüfft, erhob sich in seiner ganzen Länge auf den Hinterbeinen, spitzte die Ohren, zog die Stirn kraus und nahm eine unentschlossene Miene an. Als ihm dann klargeworden war, daß der Hirsch tot sei, ging er vorsichtig näher und beschnüffelte ihn. Darauf drehte er den Braten um und beschnüffelte ihn von der andern Seite, um sich zu überzeugen, ob der Hirsch dort auch tot sei.
»Weiter kam er mit seinen Betrachtungen nicht. Der Jäger drückte ab, der Bär zuckte zusammen, erhob sich aber sogleich wieder auf den Hinterbeinen. Der Jäger folgte seinem Beispiel und erhob sich leichtsinniger Weise aus seinem Versteck, ohne auf den Rat des Indianers zu hören, sich schnell wieder zu verbergen, da der wütende Bär zum Angriff übergehen werde. Und schon war es zu spät! Das verwundete Tier hatte seinen Feind kaum erblickt, so stürmte es auch schon im Galopp auf ihn zu. Jetzt erschien dem Jäger die Flucht als die einzige Rettung, und in einer Minute saß er samt dem Indianer auf dem dicken Ast einer Eiche. Hier luden sie ihre Flinten wieder, während der auf drei Beinen humpelnde Bär sich anschickte, den Baum zu erklettern. Von zwei Kugeln durchbohrt, fiel er nieder, riß mit seinen Krallen Erde und Gras aus dem Boden und lag schließlich tot da.«
»Es ist aber doch unrecht, nur aus Jagdpassion diese Könige des Felsengebirges zu erlegen. Vermutlich sind auch sie dazu verurteilt, denselben Weg zu gehen wie die Indianer und die Bisonochsen.«
»Nun, das hat noch Zeit! Sie werden sich noch lange in unzugänglichen Berggegenden und in den unbewohnten Teilen Kanadas halten. Aber unrecht ist es auf alle Fälle, sie unnötigerweise zu vernichten. Der Grislibär ist noch dazu ein ritterlicher Herr. Ein Reisender, so hörte ich erzählen, nahm einen jungen Grislibären mit nach Europa, und der Bär wurde an Bord der Liebling aller. Er aß und trank, was man ihm reichte, und spielte mit den Matrosen. Eine kleine Antilope, die seine Reisegefährtin war, erfreute sich seiner besondern Zärtlichkeit. Als das Schiff den Hafen erreicht hatte und die Antilope durch eine Straße geführt wurde, fiel eine große Bulldogge das wehrlose Tier an. Der Bär, der an der Kette hinter der Antilope herzog, sah die Gefahr, in der seine Freundin schwebte, riß sich mit einem Ruck von seinem Führer los, stürzte sich auf die Bulldogge und richtete sie so übel zu, daß sie mit blutigem Fell vor Schmerz heulend davonlief. – Ist das nicht ein prächtiger Zug von einem unvernünftigen Tier? Die Jäger sollten sich daran ein Beispiel nehmen!«