Jakob Christoph Heer
Laubgewind
Jakob Christoph Heer

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1

Es war um die Mittagszeit. Der Herbststurm strich durch München. Die breite, schöne Ludwigstraße lag in greller Sonne. Die Menschen eilten und hasteten wie jeden Tag um diese Stunde.

Auch sie eilte und hastete.

Nein, auf dem Odeonsplatz, am Eingang der Straße stand sie vor einer Kunsthandlung mit großen Auslagen still. Seit sie in München weilte, war es ihr zur Gewohnheit geworden, auf dem Weg zum Mittagsbrot einen kürzeren oder längeren Blick auf die wechselnden Schätze des Kunstladens zu werfen. Der Sturm drängte sie fast mit Gewalt zum Weitergehen, sie aber stand. Das wilde Spiel des Windes tat ihr nach den langen Vormittagsstunden im schlecht gelüfteten, überheizten Atelier wohl. Sie freute sich, daß es stürmte. Nur jetzt nicht die Ruhe!

Sie griff mit der Hand unwillkürlich in die Tasche ihres eisgrauen, wollenen Mantels. Der Brief aus der Heimat quälte sie, der Brief des alten Lehrers, der ihr kleines Vermögen verwaltete.

Um ihren Mund zuckte es von bitterem Ernst.

Was der alte, ihr wohlgesinnte Mann daheim im Dorf für ein gutes Gedächtnis besaß! Ja, gerade heute jährte es sich zum drittenmal, daß sie als Kunstschülerin nach München gekommen war. Grenzenlos schüchtern und fremd hatte sie damals die Stadt betreten, unter dem Trauerkleid aber, das sie zum Gedächtnis ihres kurz vorher verstorbenen Vaters trug, hatte ihr das neunzehnjährige Herz gesungen und geklungen von Liedern der Lebenserwartung. Da war sie zum erstenmal vor diesen Fenstern, vor diesen Auslagen mit heimlich jubelnder Seele gestanden. Von den Künstlern, die da drin ihre Zeichnungen, Aquarelle, Ölgemälde und kleine Bildhauerwerke ausgestellt hatten, waren gewiß manche ebenso fremd und ärmer als sie nach München gekommen. Nun glänzten ihre Bilder und Namen. Also gab es einen Weg zur Kunst, zur heiligen Kunst! Auch sie würde ihn finden, sie in ihrer treuen und eifrigen Hingabe, in ihrer glühenden Begeisterung für die Malerei. Sie besaß ja das schöne, vom Vater ererbte Talent, und auf ihren Plänen ruhte der Glaube, der Segen des zu früh Geschiedenen.

In München gab es so manchen hervorragenden Lehrer. Einem von ihnen, der eine Privatmalschule für junge Damen führte, war sie empfohlen. Zwei Jahre leidenschaftlich ernsten Studiums bei ihm – dann ständen ihre Skizzen und Bilder wie die anderer junger Künstler in den Auslagen, bescheiden erst und zu geringem Preis, aber doch mit ihrem Namen: Hilde Rebstein. Anfangs nur leise und obenhin, später mit Wohlwollen und Achtung sprächen die Bilderliebhaber und Kunstfreunde von dem jungen Talent. Und aus der großen Stadt klänge ihr Name bis in die ferne, liebe Schweizerheimat, bis nach St. Agathen, dem Ort ihrer Kindheit. Und die sie dort hatten aufwachsen sehen, sprächen: ›Ja, Hilde Rebstein, unsere hoffnungsvolle Künstlerin in München!‹ – Und der Glaube ihres künstlerisch veranlagten Vaters wäre gerechtfertigt!

Das war ihr Traum, ihr Ehrgeiz bei ihrer Ankunft in München gewesen. Heute vor drei Jahren! –

Hilde spann den Faden ihrer Erinnerungen nicht weiter. Die Gegenwart, die Lebenswirklichkeit stach zu scharf und weh von den jugendlichen Einbildungen ab, die sie damals in ihre Kunstschülerschaft geleitet hatten. Nicht zwei, nein, schon drei Jahre war sie jetzt eine von den vielen hundert unbekannten und namenlosen Malschülerinnen der Stadt, die Morgen um Morgen auf eine Offenbarung hoffend in ihre Klassen eilen und Abend um Abend enttäuschter und müder hinauf in ihre Mietzimmer steigen. Nie hatte sie eine Skizze, nie ein Bild in den Schaufenstern einer Kunsthandlung oder sonst auf einer kleinen Ausstellung gehabt. Sie hatte selbst den Versuch dazu nie gewagt und war durch die Erfahrungen der drei Jahre zu kleinmütig und zaghaft geworden, als daß sie sich nur mehr getraut hätte, daran zu denken. Der fromme Glaube an ihre künstlerische Berufung war in ihr vollkommen erschüttert.

Was sie schuf, war gewiß nicht talentlos, das hatte noch kein Lehrer und keine ihrer Mitschülerinnen behauptet, aber es war bei manchen Zeichen künstlerischer Ausdrucksfähigkeit doch unreif. Das gab sie selber zu. In ihrem Wesen lagen eigenartige Hemmungen des Talentes, die zu überwinden sie sich qualvoll mühte, und das schmerzliche Schwanken zwischen Können und Nichtkönnen hatte sie und ihren derzeitigen Lehrer, Professor Waldhier, in eine stille Spannung gebracht. Er, der sie vor einem Jahr mit hoffnungsvoller Freude aufgenommen hatte, setzte jetzt sogar Zweifel in ihren guten Willen.

Was ist es Seltsames und unheimlich Geheimnisvolles um die Kunst! Wie ein Lied voll heiliger Sehnsucht kommt der Schaffensdrang der hohen Stunde über die Seele. In wunderbarem Klarlicht lockt uns eine frühlinghafte Gestalt wie Liebe, verheißende Liebe. Aus einem Überschuß innerer Kraft erheben wir die Seele und die Hände zu dem göttlichen Gebilde. Es ist unser! – Nein, wie durch ein höllisches Wunder zerfließt die schöne Gestalt in dem Augenblick, da wir sie fassen wollen. Unsere Arme erzittern, erschlaffen und sinken, und die Hände können nicht wiedergeben, was das innere Auge in Qffenbarungswonnen sah. Nur ein Wechselbalg jener Gestalt, die unsere Phantasie mit seligen Schönheitsempfindungen erfüllte, liegt das Werk vor uns, eine Mißgeburt, die lebt und doch nicht lebt und unsere Seele laut aufweinen läßt, bis wir die Arbeit in vernichtender Enttäuschung von uns stoßen. –

Das ist das brennende Weh der Kunst: den gewaltigen Schaffens- und Gestaltungsdrang in sich spüren und doch nicht schaffen und gestalten können, wonach die Seele schreit.

Zu traurig! Daran mag jetzt Hilde nicht denken. Ihre Blicke hangen an einem Porträt: der junge Goethe! Es ist ein schöner und billiger Abdruck des Bildes von Kraus. Und sie liebt Goethe, vor allem den jungen Goethe! Ein Seufzer – nein, sie kann jetzt die Radierung nicht kaufen. Sie wird wohl zu Weihnachten noch zu haben sein. Zu Weihnachten! Vielleicht muß sie auch dann auf das Bild verzichten. Hardmeyer, der alte Lehrer in der Heimat, der ehemalige Freund ihres Vaters, schreibt ihr, daß er ihr von jetzt an nur noch fünfundsiebzig Franken im Monat zuwenden könne. Auch ohne Notenausgaben würde leider ihr kleines Kapital zu Ostern völlig aufgezehrt und sie in der zwingenden Lage sein, möglichst rasch auf eigenen Verdienst zu denken.

Oh, das sah sie klar, in dieser Lage war sie jetzt schon. Dreißig Mark das Klassengeld, zwanzig Mark das Zimmer – mit zehn Mark Pension und Kleider bestreiten? Unmöglich! Das war eine einfache Rechnung.

Sie trennte sich tief nachdenklich von dem Kunstladen. Doch nein, jetzt wollte sie nicht nachdenklich erscheinen. Bekannte, die ihr etwa begegneten, sollten ihr den Kummer nicht vom Gesichte lesen können.

Die weiße Wollmütze auf dem reichen dunkelblonden Haar, Hals und Brustansatz den Winden frei, die Hände etwas burschikos in den Mantel gesteckt, kämpfte sie tapfer und elastisch gegen den vom Siegestor herfegenden Sturm. Scharen von Studenten traten, ihre Bücher und Hefte unter dem Arm, aus den Lehrgebäuden an der Ludwigstraße. Sie begegnete manchem indiskreten Blick, denn der Sturm, der ihr Mantel und Kleid fast vom Leibe riß, ließ ihre schlankkräftigen Glieder mehr als sonst aus der Gewandung hervortreten.

Damals vor drei Jahren, als sie aus der Heimat nach München gekommen war und sich erst an das Stadtleben gewöhnen mußte, hatte sie über neugierige Blicke noch erröten und sich kränken können, in einer großen Stadt aber verlernt man das bald und lernt dafür das Übersehen und Überhören – sie fühlte sich als die selbständig vor das Leben gestellte junge Dame, die ihren Schutz gegen Zumutungen und Anmaßungen in sich selber trägt.

Ob sie Kuno Glür unter den Studenten entdeckte? Nicht, daß ihr stark daran gelegen wäre. Im Grunde war ihr die Erscheinung des Fabrikantensohnes aus der Heimat, eines schon ältlichen Hochschülers, der die Kollegien nur unregelmäßig besuchte, nicht besonders angenehm, aber die Herkunft aus dem nämlichen Dorf bildete doch ein gewisses Band zwischen ihnen. Sich von Zeit zu Zeit zu begegnen, war schon deshalb hübsch, weil man ein paar Worte gegenseitiger Erkundigung im altlieben Heimatdeutsch miteinander wechseln konnte. Und das Heimatdeutsch klang hier in der Ferne so – so traulich und lieb! Selbst von Kuno Glürs aufgeworfenen Lippen.

Er war nicht unter den Studenten. Richtig, er hatte ihr ja schon vor Wochen erzählt, daß er Ende Oktober daheim in St. Agathen den Hochzeitsfeierlichkeiten seiner Schwester Lili beiwohnen werde. Dort mochte er jetzt sein, der Glückliche! Wann sieht wohl sie wieder einmal die Heimat – und Adolf, ihren lieben Bruder?

Früher hatte sie mehrere Bekannte unter den Studierenden der Universität besessen, mit Ausnahme Kuno Glürs aber hatten sie München wohl mit anderen Städten vertauscht, und sie – sie machte auch nicht mehr die Besuche in den Familien, in denen sie die jungen Leute kennenlernte. So einsam wie jetzt hatte sie in München noch nie gelebt. Kein Freund, keine Freundin! Das lag an ihr selbst. Ja, wenn sie nur ein wenig auf einen künstlerischen Erfolg hätte blicken können, wie sie ihn sich vor drei Jahren erträumt hatte! Da brächte auch sie den Menschen ein offenes, lachendes Wesen entgegen, Mißerfolg und Enttäuschung aber lassen die Seele verstummen. Sie trennen von den Menschen. Nur nicht sonniges Wohlergehen in der Gesellschaft heucheln, wenn das Herz aufschreien möchte vor innerer Qual!

Eine Freundin, mit der sie sich aus voller Seele aussprechen konnte, hatte sie zu Anfang ihrer Studien besessen, aber die war im Frühling darauf zu einem Osterbesuch in ihre rheinische Heimat gefahren und hatte dann geschrieben: »Johanna geht – und nimmer kehrt sie wieder. Ich bin verlobt, lasse mich von meinem Schatz gern über die Torheit meiner Kunststudien auslachen und weiß, daß mir am eigenen Herd mehr Poesie erblüht als vor der Staffelei.« – Eine einfache Lösung der Kunstfrage!

Seit die Rheinländerin gegangen war, hatte Hilde keine Freundin mehr. Bei dem fortwährenden Wechsel der Schülerinnen in den Ateliers lohnte es sich auch nicht, unter ihnen eine zu suchen. Gott wußte, woher die einen der Kolleginnen kamen, wohin die anderen verschwanden. –

Sie war im Kampf gegen den Sturm, der seine Richtung jeden Augenblick änderte, an das Siegestor gelangt, und wieder schüttelte sie die Bitternis, die sie überschleichen wollte, kräftig von sich ab.

Selbst ein kleines Aufleuchten ging über ihre Züge.

Aus der Straße von links her kamen die beiden »unbekannten Bekannten«. So nannte sie bei sich selber ein Paar junger Männer, wohl gereiftere Studierende des Polytechnikums, die täglich, wenn sie nach Schwabing zum Mittagsbrot ging, in die Straße einschwenkten, mit ihr ein Stück gemeinsamen Weges hatten und dann rechts hin in eine große Pension abbogen. Die beiden gegen die Dreißig Gehenden waren wohl sehr gute Freunde. Nie sah sie den einen ohne den anderen, den hochgewachsenen Blonden ohne den ziemlich untersetzten Dunkeln. Aus den Gesprächen und der Lautgebung der beiden hatte sie gemerkt, daß der Blonde ein Norddeutscher, der Dunkelbärtige ein Süddeutscher, ein Schwabe, war. Und ihre Bekanntschaft mit dem Paar? Nun, vor einigen Wochen hatte sie, ein Dutzend Schritte hinter ihnen gehend, gesehen, wie der Dunkle in eifriger Unterhaltung mit dem Blonden einen wertvollen Stift versehentlich statt in die Tasche zu Boden gleiten ließ, und sie hatte als zufällige Zeugin die einfache Pflicht erfüllt, den auf dem Weg liegenden Stift seinem Besitzer zurückzugeben. Ein höflicher Dank seinerseits, und seither grüßten die beiden jedesmal, wenn man sich bald einige Schritte früher, bald einige Schritte später auf dem kurzen gemeinsamen Wege hinter dem Siegestor begegnete. Und Hilde war jetzt an den stummen, achtungsvollen Gruß des Freundespaares so gewöhnt, daß ihr etwas fehlte, wenn sie einmal nicht zur gleichen Zeit zum Mittagsbrot gingen.

In rascher Gangart überholte die die plaudernden Männer. Die Polytechniker grüßten wie stets mit höflichem Blick und Hutlüften, doch schweigend. Sie nickte, und ein fast unmerkbares Erröten und Lächeln ging über ihr Antlitz.

Schon war sie ein kleines Wegstück an ihnen vorbei. Da trug ihr der Sturm die Stimme des Dunkeln zu.

»Du hast recht, Siegfried«, versetzte er in seinem schwäbischen Stimmklang, »sie ist ein feiner und gediegener Kerl«, und legte dabei die Betonung auf das »ist«.

Hilde schoß das Blut in die Wangen. Kein Zweifel, die Bemerkung »ein feiner und gediegener Kerl« ging auf sie! Länger dauerte ihre Überlegung, ob der Schwabe das Wort absichtlich in ihrer Hörweite gesprochen habe. Doch nein, sie hatte keinen Grund, eine gewollte und dadurch verletzende Artigkeit zu vermuten. Gegen diesen Verdacht sprach schon die Beziehung auf eine frühere Unterhaltung, und vollkommen ausgeschlossen war er durch die Wesensart der jungen Männer. Ein schöner Lebensernst und etwas bewußt Ehrenfestes, das die gute Form nicht absichtlich verletzte, lag in der Erscheinung beider ausgeprägt. Daß sie das Wort hatte erlauschen können, lag einzig an dem wehenden Wind, und sie durfte sich also an dem Erlebnis rein erfreuen.

Jäh erwachendes Glücksgefühl trieb sie zu größerer Eile. Es hatte doch wieder einmal jemand, der ihr schätzenswert erschien, etwas Anerkennendes und Liebes von ihr gesagt, und sie spürte erst jetzt, wie lange und wie stark sie nach einem freundlichen und guten Wort von einem ihr wohlwollenden Menschen gelechzt und gedürstet hatte. Zugleich gestand sie sich aber, daß der »feine und gediegene Kerl« doch nur der Ausdruck eines platonischen Wohlgefallens und eigentlich eine recht billige Entdeckung der beiden Polytechniker sei.

Sie wußte selber, daß sie gut aussah. Wohl ahnte oder erriet jedermann in ihr die werdende Künstlerin, aber sie war keines jener Münchner Malweiber, die in der Vernachlässigung von Haar und Kleid das erste Kennzeichen der Künstlerschaft erblicken. Sie verabscheute die vielen zigeunerhaft einherschweifenden Kolleginnen, hielt Gesundheit, Kraft und eine untadelige äußere Erscheinung für ebenso pflegenswerte Gottesgaben wie das künstlerische Talent. Stets war sie darauf bedacht, die Schädigungen, die ihrer Jugendblüte durch die Stickluft des Ateliers drohten, mit Leibesübungen und jenen einsamen, weiten Spaziergängen auszugleichen, zu denen sie die Lust von ihrem Vater überkommen hatte. An Leib und Seele frisch – das war ihre Freude, und was verschlug's, wenn die einen sie wegen ihrer leicht gebräunten Gesichtsfarbe für eine Italienerin statt für eine Deutschschweizerin nahmen und andere sie auf vierundzwanzig schätzten, zwei Jahre älter, als sie wirklich war. Die hellbraunen Augen schauten ihr ja doch groß und leuchtend aus dem ovalen Gesicht, und sowohl der täuschende Eindruck, daß sie Italienerin sei, wie das Überschätzen ihres Alters bezeugten doch nur, daß das kämpfende Werben um die Kunst und die Selbständigkeit der Lebensführung ihr die Züge schon mit geistiger Kraft geprägt hatten.

»Ein feiner und gediegener Kerl!« Ja, das war sie nach der hochgewölbten Stirn, der wohlgeschnittenen, leicht im Bogen verlaufenden Nase, dem kräftigen Mund, aus dem zuweilen die starken Zähne blitzten, und ihrem ebenmäßigen Gliederbau – und fein und gediegen wollte sie bleiben, selbst wenn einmal die mädchenhafte Blüte, der Schmelz der Jugend, die ihr jetzt noch eigen, der reifen Rassigkeit des Weibes wichen – fein und gediegen, das gehörte als unveräußerliches Wesenstück zu dem Menschenkind, das Hilde Rebstein hieß!

Törichte Hilde, schalt sie sich. Weiß Gott, du hast Ernsteres zu denken! Der Brief des alten Lehrers – sechzig Mark im Monat! Sie wies die Anwandlungen der Selbstgefälligkeit und des weiblichen Stolzes weit von sich und ließ sich dafür von einem mächtigen Drang erfüllen, klar in die kommenden Zeiten zu sehen. Wie, wenn sie diesen Nachmittag nicht in das muffige Atelier ging! Mit dem abstoßenden alten Blumenweib, das der Klasse als Modell diente, wußte sie doch nichts Gedeihliches anzufangen. Wenn sie in leuchtender Sonne, im wehenden Sturm in die Spätherbstnatur hinauswanderte und im stillen, schönen Isartal überlegte, was werden solle?

Sie schwenkte aus der Leopoldstraße in eine Nebenstraße Schwabings. Das kleine Erlebnis mit den beiden »unbekannten Bekannten« und der Gedanke an den einsamen nachmittäglichen Ausflug bewegten sie freudig. Mit einem heiteren »Grüßgott« und dem Ausruf: »Kinder, hab' ich heut einen Hunger!« betrat sie die einfache Pension der Mutter Illing.

»Ah, Fräulein Rebstein hat heute eine glückliche Korrektur gehabt«, lachte ein junger Mann, ein armer Buckliger, der aber für einen großen künftigen Musiker galt. Die gesamte, etwa dutzendköpfige Tischgesellschaft, meist sehr einfache Studenten, Kunstschüler und Schülerinnen, schaute fragend und teilnehmend nach Hilde auf.

»Korrektur?« erwiderte sie. »Die Korrektur kommt erst morgen. Ich habe aber eine Idee. Kopf und Seele will ich mir diesen Nachmittag in Gottes freier Natur lüften.«

Die anderen Pensionäre schienen leise enttäuscht, Hilde aber lächelte glückträumend vor sich hin. –

Jugend! So wenig braucht es, daß sie aus Sorge und Leid das Haupt wieder hoffend erhebt!


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