Jakob Christoph Heer
Laubgewind
Jakob Christoph Heer

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20

Als die beiden Freunde Kulbach und Wieland in Lodenkleidern und mit ihren Rodelschlitten durch den frostigen Morgen auf den Stelldicheinplatz am Siegestor kamen, stand Hilde schon im Schein einer Bogenlampe an der Straße wartend, ein Bild freudiger Jugendkraft.

»Ei, ei, Fräulein Rebstein«, rief der kurzgedrungene Wieland. »Daß wir Sie, die plötzlich Vermißte, lang Entbehrte und Wiederentdeckte begrüßen dürfen und Sie zur Feier des Wiedersehens heute mit uns in die Berge kommen, das ist für uns ja eine ganz besondere Weihnachtsfreude!«

Er hatte nicht übel Lust, den Tag gleich mit einem Schuhplattler zu beginnen. Der beißend kalte Morgen aber war doch nicht ganz zu Freudensprüngen angetan. Die Freunde bekundeten Hilde den Beifall zu der Bergausrüstung, die sie für sich gewählt hatte. Sie wußte es selbst, die Weiße Wollmütze, um die ein bläulicher Schleier gewunden war, der weißwollene Sweater, der ihr die Büste straff umspannte, der fußfreie Lodenrock, die hochgeschnürten Bergschuhe und der eisengespitzte Stock in ihrer Hand, all das Amazonenhafte, das jetzt in ihrer Erscheinung lag, stand ihr vorzüglich. Schon glitt der Zug, der mit sportsfreudiger Jugend aus der Stadt dicht besetzt war, die Uferlehnen des Starnberger Sees dahin. Vielversprechend ging der Tag auf, aus den Nebelschwaden hob sich die blutrote Sonnenscheibe, wurde lichter und überglühte die tiefverschneiten Dörfer am winterschwarzen See. Ihre Strahlen drangen durch die Fenster und belebten die bis dahin etwas ruhige Unterhaltung der Gesellschaft. Sie war in ihrer Zusammensetzung von Herren und Damen ein kleines Abbild jener internationalen Fremdenkolonie, die sich im Künstler- und Gelehrtenviertel von Schwabing drängt; doch hatte sich Hilde bald darin zurechtgefunden, und der harmlose Ton der jungen Sportsleute, die noch einmal die Erlebnisse, kleinen Abenteuer, Freuden und Leiden früherer Gebirgsfahrten belachten, gefiel ihr.

»Ja, da haben wir viel versäumt, Fräulein Rebstein, daß wir Sie nicht schon von unserer ersten Begegnung an zu den Sonntagsausflügen gebeten haben«, plauderte Wieland, der Leiter der Gesellschaft, »daran ist aber derjenige schuld, der sich jetzt am meisten über Ihre Anwesenheit freut – Siegfried Kulbach. Na, er kommt eben aus den Krautgärten des Nordens«, lachte er mit einem lustigen Blick gegen seinen Freund, »und ist deswegen ein Mann, der über seinem Hin- und Herwägen die Gelegenheiten verpaßt und das Köstlichste im Leben nicht kennt, den unmittelbaren Entschluß, das kecke Zulangen. Der unbesonnene Schwabenstreich kann auch mal vom Guten sein. Wär's auf mich angekommen, ich hätte Sie nie verlorengehen lassen, Fräulein! Das Wesentliche – wir haben Sie wieder!«

Hilde halte ihre helle Freude an den gegensätzlichen Naturen der beiden jungen Männer, an Siegfried in seiner vornehmen und gelassenen Verteidigungsstellung und an dem angriffslustigen Süddeutschen, der unter dem Spiel seiner Schalkhaftigkeit auch den männlichen Ernst ahnen ließ. –

Der Zug fuhr in den kleinen Bahnhof von Kochel. Aus den Gepäckwagen wurden eine Menge Rodelschlitten und Skipaare geladen, es entwickelte sich das reiche Bild der aus den Gassen der Stadt erlösten jungen Welt, und durch das altertümliche Dorf zog die Gesellschaft Wielands und Kulbachs den Gestaden des Kochelsees entgegen.

War es nun aus innerer Teilnahme an dem lebensvollen Denkmal des Schmieds von Kochel, des Helden der Sendlinger Bauernschlacht, das am Dorfplatz steht, oder aus anderer Absicht – Siegfried Kulbach säumte davor so lange, bis die übrige Gesellschaft einen kleinen Wegvorsprung halte. Mit ihm Hilde. Sie wurden das letzte Paar des ziemlich losen Zuges winterfroher Wanderer.

Siegfried, der während der Fahrt fast der Stillste unter den Polytechnikern gewesen war und sich mit einem Hauch nordischer Kühle umgeben hatte, wandte Hilde den vollen, warmen Blick zu und plauderte von der Natur, die im Gesichtsfeld lag, von dem schon überfrorenen Kochelsee, über den das leichte Spiel der Schlittschuhläufer ging, und von den winterlich erstrahlenden Bergen, die er während seiner zweijährigen Münchner Studienzeit auf frohen Sommerfahrten erstiegen hatte. Allmählich aber versuchte er Hilde mit geschickt gewählten Fragen anzuregen, daß sie ihm von Heimat und Jugend erzählte.

Ein wonniges Wandern selbander. Den besonderen Gefallen Siegfried Kulbachs erregte es, daß Hilde durch die Berufsstellung ihres Vaters in der Umwelt der Technik und Industrie aufgewachsen war, und sie fühlte es ebenso als Wohltat, von ihrem seligen Vater, seinem Kämpfen und Ringen aus voller Seele sprechen zu dürfen. Siegfried besaß die gewinnende Art, ihr zu lauschen.

»Das fesselt mich ungemein«, versetzte er. »Ich gehe ja einen ähnlichen Weg. An meiner Wiege zwar stand geschrieben, daß ich Landwirt werden würde, aber besondere Umstände haben mich bewegen, unser Gut in Holstein einem jüngeren Bruder und zwei Schwestern zu überlassen und aller Überlieferung meiner Heimat und der Gutsbesitzersfamilien entgegen in die Industrie zu treten. Mein Weg ging durch das Gymnasium in Lübeck, durch den Einjährig-Freiwilligen-Dienst, drei Jahre durch die Werkstätten der Berliner Elektrizitätsgesellschaft und erst nachher auf die Technische Hochschulen, an denen ich gegen Ostern meine Studien mit der Erwerbung des Doktors abschließen will.«

»Und wo liegt Ihr künftiges Arbeitsfeld?« fragte Hilde.

»Wieder in Berlin«, versetzte er. »Die Elektrizitätsgesellschaft, bei der ich meine praktischen Lehrjahre verbracht habe, erwartet meine Rückkehr in ihren Dienst. Ja sogar mit einiger Ungeduld. Ihre Werke sind in beständigem Wachsen und Sichweiten, und ich darf auf einen Posten rechnen, der meinen Studien entspricht.«

Siegfried Kulbach erzählte mit der Ruhe eines Mannes, der sich den Weg ins Leben sicher weiß, mit einem leisen Stolz, aber ohne Hochmut. Seine Lebensdarlegung war gleichsam nur die Antwort auf diejenige Hildes, eine Erwiderung des Vertrauens durch Vertrauen.

Dafür besaß sie eine feine Empfindung.

Sie stiegen die Kehren des Kesselberges empor. An den Gehängen standen die Tannen über und über mit Schnee beladen wie arme Kreuzträgerinnen; aber des Sonnenscheins sich freuend, flog eine Schar Meisen in hellem Übermut durch das Gehölz dahin, und an die Distelköpfe, die aus dem Schnee ragten, hängten sich die fröhlichen Stieglitze.

»Wie mich die Vögel an meine Heimat erinnern!« lächelte Siegfried. »Als Knabe war mir der Dohnenstieg stets der liebste Aufenthalt. Sie kennen den Ausdruck, Fräulein Rebstein – es sind die Gänge an unseren holsteinischen Hecken, an denen die Vogelschlingen angebracht sind. An die Grausamkeit des Fangens dachte ich als Knabe nicht, nur an die stille Wonne, die Vogelwelt zu belauschen.«

»Ja, erzählen Sie«, bat Hilde. »Ich weiß von der holsteinischen Schweiz nichts, als was mir Frau Doktor Herdhüßer davon an Bildern gewiesen hat.«

»Sie ist meine Jugendscholle«, sagte er freudig, »an Ihr Heimatland aber, von dem ich einiges auf einer Ferienreise sah, dürfen Sie dabei nicht denken, am wenigsten an Ihre hohen Berge. Mit waldgekrönten Hügeln nur dehnt sich das stille, alte Land. Zwischen den Hügeln träumen schilf- und binsenumkränzt die klaren, durch Bäche miteinander verknüpften Seen. Die Gegend ist ein wunderliches Ineinanderspiel von Hügeln und Wassern, Halbinseln und Buchten. Am Rande der Seen, über die das Fischerboot zieht, lehnt der Buchenwald, und die mehrhundertjährigen, seltsam verknorrten Bäume stehen wie dramatisch bewegte Gestalten, die beratend miteinander Zwiesprache führen. Aus den ragenden Forsten spielt sich ein Rudel Rehe in die Goldblüte des Ginsters. Hier und dort erhebt ein schloßähnlicher Gutssitz seine Giebel oder ein Bauernhaus sein grünbemoostes, mächtiges Dach. Um die Gehöfte her weiden auf Koppeln, die von hohen Hasel- und Fliederhecken umzogen sind, unsere starken Rosse, unsere weiß- und braungefleckten Rinder. Über der weiten Landschaft aber liegt der blaue Sommerduft und ein Schweigen wie aus alten Tagen, in das nur fernes, verlorenes Glockenläuten von einem Kirchturm dringt. Über der unsäglichen Ruhe der Landschaft sind wir Holsteiner selber ein Menschenschlag geworden, dem das Wort nur schwer durch das Gezähne geht.«

»Aber von Ihrer Heimat wissen Sie doch sehr schön zu sprechen, Herr Kulbach«, lächelte Hilde dankbar und aufleuchtendes Blickes.

»Na ja, um den Fleck Erde, auf dem man seine Jugend verlebt hat, Norden oder Süden, ist es immer etwas Besonderes«, erwiderte Siegfried.

Er sann, und wie wenn es ihm selbst eine Wohltat wäre, hob er wieder an: »Mein seliger Vater führte mich am liebsten zum Hünengrab in den Weizenfeldern, auf die sanfte Höhe über blauem See. Da liegt das Grab als ein kreisrunder Hügel. An seinem Rand stehen im Kranz die flechtenübersilberten roten und grünlichen Granitblöcke, auf dem Rasenhügel ragt uralt und verknorrt eine Eiche. Unter dem Baum haben wir oft an langen Sommerabenden gesessen und in die Sonnenuntergangsspiele geschaut, in das Goldlicht und die zuckende rote Glut, die fast bis zur Mitternacht dauert. Anreifend knisterte das Korn, als triebe sich ein Heer von Wichtelmännchen durch die Halme dahin, und der Vater sprach geheimnisvoll vom Hünengrab. »Nur, daß ihr mir die Alten da unten in Ruhe läßt«, mahnte er. »Mir ist, wenn man sie ausgraben wollte, wie jetzt manche Geschichtsfreunde begehren, ginge der Segen vom Holm' – Holm hieß unser Gut und das alte Herrenschlößchen, in dem wir wohnten.«

Siegfried schwieg gedankenvoll.

»Also auch Sie haben Ihren Vater nicht mehr!« versetzte Hilde in warmer Teilnahme.

»Ich war erst zwölf Jahre alt, als er das Opfer eines Jagdunfalls wurde und nach längerem Siechtum starb. Damit wich der Segen von unserem Gut, obgleich wir das Hünengrab im Frieden ließen. Die Mutter führte zwar den Holm nach den vortrefflichen wirtschaftlichen Grundsätzen des Vaters weiter, aber wie tüchtige Menschen darauf walteten, gedeihen konnte er nicht mehr. Der Aufschwung der deutschen Schiffahrt lockte die männliche Jugend, die früher in den Dienst der Güter getreten war, aufs Meer. Und die Mädchen! Wie eines heranblüht und flügge wird, da ist es auch schon von den Agenten und Agentinnen umworben, die unsere Holsteinerinnen als Dienstboten in die mächtig wachsenden Seestädte ziehen. Die Alten sterben weg, die Jugend folgt ihnen in der Arbeit auf der Scholle nicht, aus Mangel an schaffenden Kräften stehen die Felder schlecht bestellt. Wo früher Wohlstand herrschte, sieht man jetzt die Bilder langsamen wirtschaftlichen Verblutens, nisten sich in die Herrensitze die Händler und Wucherer ein und wachsen die Hypotheken. Aus der Einsicht, daß der Holm unter den gegenwärtigen Umständen nicht genug abwirft, um unsere gesamte Familie zu ernähren, überließ ich das Erbrecht auf das Gut meinem jüngeren Bruder und wandte mich, von meiner glücklichen technischen Anlage überzeugt, zur Industrie. Nicht ohne Widerspruch und Kampf, denn Mutter und Verwandtschaft sehen nach alter Überlieferung der Gutsbesitzerfamilien nur die Landwirtschaft als würdige und ehrenvolle Lebensaufgabe eines Mannes meiner Herkunft an. Ich aber weiß, daß der von mir selbst gewählte Weg auch für meine Angehörigen das bessere ist.«

Seelische Kraft und Stärke lag in den Worten Siegfrieds, in seiner Stimme ein tiefer Glockenton, der Hilde ungemein angenehm berührte, obgleich ihr seine Sprache sonst etwas fremdartig zu Gehör klang.

Er sah ihr mit leisem Lächeln voll ins Gesicht. »Mir geht es merkwürdig, Fräulein Rebstein, daß ich Ihnen von diesen Dingen sprechen kann – ich habe aber das Gefühl, daß ich mich heute an ein besonders verständiges und gütiges Menschenkind wenden darf.«

Sie erwiderte sein Lächeln und seinen Blick freudig. »Wie schön! Ganz ebenso geht es mir mit Ihnen! – Doch sehen Sie, da sind wir gleich auf der Höhe des Kesselberges. Wie rasch man im Plaudern vorwärts kommt. Oh, die schöne, schöne Welt!«

Auf der Paßhöhe jauchzte und jodelte Gustav Wieland in den hell und warm erflutenden Wintersonnenschein des blendend weißen Gebirges. Irgendein Photograph unter den Polytechnikern machte seine Aufnahmen, und als Siegfried mit Hilde zu der Gruppe getreten war, stellte die Gesellschaft die Rodelschlitten zur Niederfahrt nach Urfeld am Walchensee bereit. Wieland übernahm mit einer jungen Dame die Führung.

»Vielleicht wünschen Sie unser Fahrzeug zu leiten«, wandte sich Siegfried ermunternd an Hilde.

»Ich war als Kind allerdings eine kühne und sichere Schlittlerin«, scherzte sie zurück. »Wenn Sie sich mir anvertrauen wollten!« –

Hei, die fröhliche, schnelle Fahrt! Aus den weißen Bergflanken hervor schwebte in der Tiefe der düster schöne, geheimnisreiche Walchensee. Über der gewaltigen Wasserfläche, die den Sonnenstrahl grollend von sich zu weisen schien, aber einige grüne und blaue Lasuren des Lichtes doch dulden mußte, erstrahlten die Riesen des bayrischen Gebirges, Karwendel und Wetterstein, wie mit seligen Sonntagsangesichtern. Doch sie mußte die Aufmerksamkeit auf das Fahrzeug und die Kehren der Straße zusammenhalten!

In Hilde war die Kunst des ehemaligen Kindes gleich wieder erwacht. Sie lenkte den Schlitten, unter dem der Schnee in Wolken hervorstob, sicher um den Rodel eines Paares, das an einer Wegbiegung zu Fall gekommen war und lachend aus dem Schnee auf die Straße hervorkrabbelte. Am Ufer des Sees, an dem das große Gasthaus zum »Jäger« steht, wandte sie das Fahrzeug zu einem sanften Halt.

Wieland streckte ihr die Hand. »Walküre!« lachte er. »Was sind Sie für eine ausgezeichnete Rodlerin!«

Auch Siegfried bewunderte sie herzlich. Ihr glühten die Wangen vom Schneestaub, der ihr ins Gesicht geflogen war, aber auch vor jugendseliger Freude und Lebenslust. »Nur zu kurz war die Fahrt«, jubelte sie. Die Stunden am Walchensee, der Spaziergang durch die verschneiten Tannen, die Ausschau in die sonnige Winterlandschaft der Berge, das Mahl im stattlichen »Jäger am See« gingen ihr wie ein schönes Lied dahin. Sie saß bei der ländlichen Tafel Seite an Seite mit Siegfried, und wenn sich dabei auch keine Gelegenheit zu einem Gespräch aus innerster Seele, wie sie es vorher geführt hatten, gab, spürte sie doch zuweilen, wie er sie mit einem ruhig freudigen Blick suchte. Auch die gesamte Gesellschaft junger Menschen gefiel ihr, der ungezwungene und doch verbindliche Ton, der wie von einem stillen Achtungsgefühl aller gegen alle getragen war und sich in Rede und Gegenrede von selber die schönen Grenzen zog. In diesem Kreis war auch ihr wohl zumut.

Zither, Hackbrett und Ziehharmonika riefen zum Tanz. An der guten Laune Hildes verschlug die Wahrnehmung nichts, daß Siegfried ein recht mittelmäßiger Tänzer war. Den Vorzug in ritterlichen Künsten durfte er, ohne zu verlieren, herzhaft anderen überlassen. Und mehr als ein Stündchen dauerte der Tanz auch nicht. Die schon hinter den Wäldern des Herzogstandes sinkende Sonne mahnte zum frühen Abschied von dem in blauem Duft schwer verschatteten See.

Die Gesellschaft hatte die Höhe des Kesselberges bald wieder erreicht. Das tiefe Tal des Kochelsees war mit rosigem Abendrauch erfüllt, und auf fernen Spitzen glühten noch die Sonnenfunken. Die Niederfahrt an die Gestade kam.

»Jetzt aber, Fräulein Rebstein, halten Sie mich herzhaft fest«, bat Siegfried. »Auf der glatten Straße werden wir in einen rasenden Lauf kommen!« Er selber übernahm die Führung. Wenige Augenblicke der Anfahrt, und wie beflügelt stürmte und sauste der Schlitten die vielen, vielen Windungen der Straße dahin. Immer tiefer! Flocken, Eis und selbst Funken stoben. Wo die Bahn gegen die Schlucht des Kesselbaches ausbog, in der mächtige Eiszapfen wie Orgelpfeifen hingen, da war es, als müßte der Rodel sein Ziel überschießen und in die Schlucht hinabstürzen. Hilde überwand die Schüchternheit, sie faßte ihren Führer fester mit den Armen, und das Anschmiegen an seine Gestalt gab ihr ein Gefühl des Geborgenseins und seliger Sicherheit. Wie stark leitete Siegfried den Schlitten! Er hielt das Fahrzeug die Biegungen hinab gleichsam in eisernem Zaum wie ein Reiter sein folgsames Pferd. Da war ja keine Gefahr. Die erste Aufregung der tollen, blitzschnellen Fahrt wurde zu seltsamer Wonne; es war, als stürmten die Tannen neben dem zagenden Schlitten bergan, und wie in sanftem Aufwärtsflug schwebte die vom abendlichen Rosenduft überhauchte Eisplatte des Kochelsees durch den träumerischen Wald empor.

Da waren sie am Ziel! – Abendrote Wolken gaben ihnen das Geleit durch die nach dem Sonnenschein des Tages bitterkalt einbrechende Dämmerung in das Dorf Kochel, und ob Siegfried sprach oder schwieg, empfand Hilde an seiner Seite ein tiefinneres Glück, als sei der heutige Tag der schönste und reinste, den ihr das Leben je beschieden habe. Diese Wonne gab ihr auch das Geleite in den Eisenbahnzug. War es der Rückschlag der reichlichen Durchsonnung und Durchlüftung, eine wohlige Abspannung und Müdigkeit hatte sich ihrer bemächtigt, mit der Müdigkeit eine süße Träumerei, und wie aus einer fremden Welt ging die Unterhaltung der übrigen Gesellschaft an ihrem Ohr vorbei.

Ein Lichtermeer erschien: München!

Als Hilde ihrem Begleiter vor ihrer Wohnung die Hand zum Abschied reichte, leuchtete es Siegfried aus den strahlenden Augen: Auch ich erlebte heute ein tiefes Glück! Und wie Liebeshoffnung flammte es ihm aus dem Verschwiegensten Grund der Seele. – O der schöne, schöne Tag!


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