Jakob Christoph Heer
Laubgewind
Jakob Christoph Heer

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4

Hilde schlug den nächsten Weg über die Isaranhöhe von Harlaching nach München ein. Der Wind hatte sich gelegt. Schweigend standen die Forste und schnitten mit ihren Wipfeln eine zackige, dunkle Wand in den noch halbhellen Himmel. Als ein dünner durchsichtiger Schwaden breitete sich der Nebel wie riesiges Spinnweb über das herbstliche Land. Während links drüben über den Gehöften und Wäldern der letzte blutrote Sonnenuntergangsschein zerging, warf vor ihr die Stadt schon ihre Lichtwolke über schwarzem Gehölz an den Himmel. Sie folgte dem ermunternden Schein und schritt in der sinkenden Nacht doch etwas bänglich den einsamen Weg.

Niemand begegnete ihr; nur das Automobil, in dem der Künstler und die verliebte Mizzi in die Stadt zurückkehrten, sauste nach einiger Zeit an ihr vorbei, beleuchtete mit seinen Blitzlichtern schnell die Straße und verschwand vor ihr wie eine Erscheinung der Nacht.

Das Vergnügen einer Automobilfahrt war Hilde noch nie beschieden gewesen. Sie hätte es gern einmal genossen, es mußte ein eigenartiger Reiz sein, in sturmschneller Fahrt durch die Lande zu fliegen, Und das Paar? Das küßte sich wohl, scherzte und koste!

Küssen und kosen! Eine ihr noch fremde Welt. Sie sann nach; da wurde sie sich plötzlich scharf bewußt, wie liebesnüchtern und liebeleer sie in den drei Jahren ihres Münchner Aufenthaltes durchs Leben gegangen war. An gelegentlichen Zeichen freilich, daß Männer auch an ihrer Erscheinung etwas Begehrens- und Liebenswertes fanden, hatte es ihr nie gefehlt, stets aber war es bei den kleinen zufälligen Aufmerksamkeiten geblieben, und Versuche, sich ihr ernsthaft zu nähern, hatte sie an ihrem Mädchenstolz scheitern lassen. Warum, das wußte sie selbst nicht so genau. Und seit sie dem gesellschaftlichen Verkehr fast gänzlich entsagt und sich der Einsamkeit ergeben hatte, lief ihr kaum jemals mehr ein jugendlicher Schwärmer in den Weg.

Beneidete sie nun die schöne Mizzi um ihr Liebesglück? Gar nicht. Sie hatte den unabweisbaren Eindruck, der Maler schätze Mizzi nicht so hoch, wie Mizzi ihn, sie sei ihm nichts als ein schönes Spielzeug, seine Beziehung zu ihr eine lose, bald vorübergehende Künstlerliebschaft.

So wünschte sich Hilde die Liebe nicht – so nicht! Und nicht ein unschämiges Küssen und Kosen vor andern, wie zwischen dem Maler und Mizzi. Doch eine fast unfaßbare Seligkeit mußte es sein, das Haupt ruhevoll an die Brust eines geistig hochstehenden Mannes legen zu dürfen, ihm Leib und Seele zu weihen, wenn der Mann seinerseits das liebende Vertrauen schätzt und ehrt und das Opfer des Weibes, die ihm ihr Höchstes und Letztes gibt, in einer herzlichen, unwandelbaren Liebe erwidert. Das lebensgetreue Weib eines lebensgetreuen Mannes werden, sich mit dem wonnigen Gefühl der Gemeinschaft, der Heimatlichkeit, des Schutzes in verborgener Stille küssen, wie es einzig keusch und echt ist, nicht nur Mund an Mund, sondern auch Seele an Seele – das war ersehnenswerte Liebe nach ihrem Sinn.

Unwillkürlich schweiften ihr auf dem stillen Abendgang die Gedanken hinüber zu den beiden Freunden vom Mittagsweg, und es stimmte sie sonnig, daß das Wort des Schwaben nur die Bestätigung eines Urteils sein konnte, das der blonde Nordländer irgend zuvor geäußert hatte; denn Siegfried, wie er nach der Anrede seines süddeutschen Freundes hieß, besaß ihre stärkere und wärmere Anteilnahme. Der dunkeläugige, etwas untersetzte und für sein Alter auch schon ziemlich behäbige Schwabe war, wie sie vermutete, wohl ein kluger und liebenswürdiger Mensch, an seinem Freund aber fesselte sie das wirklich Siegfriedhafte der Erscheinung – neben dem reckenhaften Wuchs die strahlend blauen Augen, die geistige Kraft seines Antlitzes, der Hauch unverbrauchter Jugend, vornehmer Reinheit und Treue und ein milder Manneszauber, der um sein Lächeln und Schweigen, um seinen Gruß und seinen Blick spielte.

Wie überraschend! Diesem fremden Mann, den sie nur vom Sehen kannte, den sie noch nie mit einem Wort gesprochen hatte, könnte sie ein unendliches Zutrauen, die volle Liebesstärke ihrer Jugend entgegenbringen – für ihn selbst ihre Münchner Pläne opfern – ihre arme, liebe Kunst!

Wie klein wäre dieses Opfer! Ihre Kunst war ja ohnehin am Sterben und das Leben im Atelier kaum mehr zu ertragen. Sie schauerte zurück, wenn sie an die Klassenarbeit dachte. Stets derselbe Anblick, dieselbe Stimmung. Eine Gruppe durch den künstlerischen Ehrgeiz aus nah und fern zusammengewehter Mädchen, älterer und jüngerer, die still und erbittert um die bessere oder schlechtere Wiedergabe irgendeines häßlichen Modells rangen. In die Luft der Altbackenheit und Säuerlichkeit, des gegenseitigen Verhaltens und Verschweigens, wie sehr der Unfriede des Mißerfolges an der Seele zehrte, drang nur dann und wann ein kleines, frivoles Scherzwort, das halb belustigte und halb ins Herz schnitt. Und in die aufreibende Arbeit tönte lange nichts mehr als das Hüsteln des armen Geschöpfes, das auf dem Modellschemel saß, als das Kratzen und Reiben der Kreide und des Radiergummis auf den Zeichnungen, bis aus einer Ecke wieder ein abgerissenes Wort, das im Grund ein Notschrei war, heranflüsterte.

Ein Sonnenstrahl huschte durch das Atelier, wenn frische, gläubige Jugend zum erstenmal in den öden, gegen das Freie abgeblendeten Raum und in den Kreis der Schülerinnen trat. Ein paar Tage aber, ein paar Wochen, da verlernte auch der Neuling das helle, gesunde Lachen, war auch er eingehüllt in die Wolke der freudlosen Selbstzusammenraffung, des verhaltenen Unfriedens, und bald klang die Erinnerung an die erste Kunstbegeisterung nur noch wie die Glocke eines fernen, schönen Traumes in den staubigen und entnervenden Alltag der Malschülerin. Ja, wenn nur eine einzige unter den vielen mit zusammengebissenen Lippen Ringenden wirklich eine Künstlerin von Ruf geworden wäre, aber Hilde kannte keine – keine! Wie durfte sie da noch für sich selber hoffen?

Als sie vor einem Jahr aus einer anderen Schule in die Professor Waldhiers übergetreten war, hatte er große Hoffnungen auf sie gesetzt, ihr eine Achtungsstelle unter den Schülerinnen eingeräumt, und eine Weile war sie sein Liebling gewesen. In manchen Einzelheiten aber konnte sie die Linien und Flächen der Modelle unmöglich sehen, wie er sie gesehen haben wollte. Darüber bezichtigte er sie erst des Eigensinns, nachher des schlechten Willens, und seit sie in einer Korrekturstunde unvorsichtigerweise die Bemerkung hatte fallen lassen, daß sie vielleicht durch ihre künstlerische Individualität gezwungen sei, die Dinge anders zu sehen, als er sie sehe, verfolgte er sie mit seinem heimlichen Spott, war die stumme Spannung, die kränkende Vernachlässigung da und stockten ihre Fortschritte bedenklich – es war, als ob das Verhängnis ihres Vaters über ihr schwebe, der trotz seines Fleißes nie etwas Figürliches zum vollen Ausdruck hatte bringen können.

Nein, so durfte es mit ihren Studien nicht weitergehen, das wäre eine Leichtfertigkeit – selbst abgesehen von dem Brief des alten Lehrers.

Morgen kam Professor Waldhier zur Korrektur. Ob er ihr endlich wieder einmal ein gutes Wort, eine kleine Anerkennung gab? Ohne etwas Ermunterung hielt sie das öde Leben nicht mehr aus. Acht Tage, vierzehn Tage mit dem Häuflein anderer Mädchen, denen sie sich nur durch die gleiche innere Not verbunden wußte, warten, suchen, um die Zeichnung tasten und kämpfen – dann erst erschien, von den Schülerinnen in aufgeregter Spannung erwartet, der Lehrer. Schon abgehetzt durch die Korrekturarbeit in anderen Klassen, hatte er für jede Schülerin ein paar abgezirkelte Minuten, ein paar Worte der Kritik, des Lobes oder der Mißbilligung, ein paar korrigierende oder nachhelfende Striche. Indem er aber die Zeichnung der ersten durchging, ruhte sein Auge schon auf der Arbeit der nächsten und hielt er die Uhr in der Hand, um rechtzeitig in andere Klassen eilen zu können, in denen auch wieder eine Schülerschaft spannungsvoll auf ihn wartete. Eile, geschäftige Eile – und was an künstlerischen Fragen in der Seele der Schülerinnen brannte, das wagte sich vor dieser Eile nicht zu Wort.

Sie aber mußte sich mit Professor Waldhier einmal gründlich aussprechen, ihn Auge in Auge fragen: »Trauen Sie mir denn Talent zu, oder soll ich den Kampf um die Kunst aufgeben?« Wenn er ihr aber überhaupt Gehör zu schenken die Zeit hat, wird er ihr doch nur ausweichend antworten. »Talent!« wird er sagen, »gewiß, versteckt unter soundso viel Hüllen zuckt ja bei Ihnen schon Talent. Eine günstige Stunde, und unvermutet bricht es hervor. Kann aber auch sein, daß die Stunde nie erscheint. Kommt sie, wer will Ihnen dann voraussagen, wie weit das Talent trägt, ob es ausreicht, Ihre Hoffnungen zu erfüllen? Das kann selbst Ihr Lehrer nicht prophezeien, das will erlebt sein. Talent ist eine geheimnisvolle Sache, Fräulein!« So wird er sprechen.

Oh, sie kennt dieses schmerzhafte Hangenlassen an der Angel, und Professor Waldhier raubt einer Schülerin nicht leicht die letzte Hoffnung; denn geht sie und wird nicht gleich durch eine andere ersetzt, dann hat er den Schaden. Er ist nicht nur Künstler, er ist auch Rechner, muß es wohl sein, denn seine Familie lebt auf großem Fuß, und die Schule ist sein Geschäft.

Die Bitterkeit wühlte in der Brust der rasch Dahinschreitenden.

Vor ihr erhoben sich schon die dunkeln Häusermassen der Vorstadt Giesing in den Lichtbrodem Münchens. Da erschrak sie heftig. Ein Mann drängte sich an sie heran, wie sie aber bald sah, ein alter ausgemergelter Mann, ein Bettler.

»Fräulein, schenken Sie mir was zum Übernachten. Ich bin so arm, Fräulein – ach, so arm«, bat er kläglich.

Sie schenkte ihm eine halbe Mark, der Alte aber, der nach Branntwein roch, wandte sich, statt mit einem kurzen Dank zu gehen, mit zitternd erhobener Faust gegen die lichthelle Stadt. »Sehen S', Fräulein, dort drüben sind so viel Manschen«, bebte seine vor Zorn und Gram halbgebrochene Stimme, »so viel Menschen. Und niemand gibt mir was – niemand – niemand!«

Er wollte noch lange an sie hinsprechen, sie aber eilte fort. Er war gewiß nicht unverschuldet im Unglück. Und doch, wie seltsam ging ihr seine wehvolle Stimme nach: »Niemand gibt mir was – niemand – niemand!« Das Elend, die Unbarmherzigkeit einer Großstadt. Wenn ihre Mittel verzehrt sein werden, da gibt ihr auch niemand was – niemand – niemand! Da muß sie sich selber helfen.

Auf dem hohen Uferrand von Giesing hielt sie einen Augenblick den Schritt an.

Jenseits der metallen aufglänzenden Isar lag das aus der Nacht feurig erflammende München vor ihr, die Stadt, die der Vater so schwärmerisch geliebt hatte. Weithin dehnte sie sich mit den dunkeln Türmen und Giebeln und den Lichterkränzen der Straßen, die sich wie eine vielfältige feurige Zeichnung durch die Schichten der Häuser und Dächer wanden. Über den Fluß daher, in dem sich einzelne Lichter als blitzende Feuerstreifen spiegelten, drangen aus Gassen und Straßen die gedämpften Laute des Abendlebens, und aus dem gleichsam siedenden Lärm stieg es wie ein Heller Schrei freudiger Lebensbejahuug.

Hilde mußte unwillkürlich jener Tage gedenken, da sie furchtsam und wonnig zugleich die ersten Gänge in das abendliche Volksleben der Stadt zu unternehmen gewagt hatte, wie anregend das ehemalige Dorfkind die bodenständige Wesensart, den hellen Lebenssinn und die frohe Laune der Bevölkerung empfand und wie sie aus dem Anblick der vielen lachenden und scherzenden Manschen etwas wie eine Bürgschaft zog, daß es ihr selber in München gut und gedeihlich ergehen werde. Überwältigt von den mannigfaltigen und schönen Eindrücken, war sie von diesen Gängen jedesmal fast fiebernd in ihr Zimmer zurückgekehrt, und vor dem Bild ihres Vaters hatte sie gestammelt: »Wie danke ich dir, daß du mich nach München hast ziehen lassen!« –

Oh, nur ein wenig Erfolg, nur ein wenig Sonnenlächeln für ihre Kunst, und sie könnte die Stadt wieder mit jener Bewunderung lieben wie zu Anfang ihrer Studien. Aber nein, die Zeit kam nie wieder. Das Gefühl liebloser Enttäuschung war zu groß!

Mit aufquellendem Groll wandte sie den Blick vom nächtlich stimmungsreichen Bild. An der Wittelsbacher Brücke stieg sie in die Straßenbahn. Der Ausflug ins Isartal war zu Ende gekommen, ohne daß sie sich die Klarheit der Gedanken, der Pläne errungen hatte, nach der sie sich sehnte wie ein Hungernder nach Brot. Wieder ein Tag dahin, und so kamen und gingen die Tage, ohne daß einer Erlösung brachte aus der schleichenden Qual. In sich zusammengerafft lehnte sie im Wagen und träumte mit halbgesenkten Lidern, die Sinne von der Außenwelt abgeschlossen. Als sie in Schwabing ihr Dachzimmer, vier Treppen über der Pension der Mutter Illing, betrat und Licht anzündete, lag ein Brief auf dem Tisch, Poststempel München und eine Männerschrift. Wer konnte ihr schreiben?

Sie öffnete ihn hastig, aber ihre Hoffnung auf etwas Freudiges erlosch, als sie die Unterschrift Kuno Glürs, des ältlichen Studenten aus ihrer Heimat, sah.

»Liebes Fräulein!« schrieb er. »Seit vorgestern bin ich von St. Agathen zurück. Auf der Hochzeit meiner Schwester Lili, die einen sehr fröhlichen Verlauf nahm, war auch von Ihnen die Rede. Wenn Sie mir gestatten, werde ich mir die Freiheit nehmen, Sie Sonntag vormittag elf Uhr in Ihrer Wohnung zu besuchen. Sie haben dann wohl die Freundlichkeit, mir einige Ihrer Zeichnungen und Bilder zu zeigen. Den Rest mündlich! Ihr wohlgewogener Kuno Glür.«

Anfang und Schluß des Briefes ärgerten sie. Woher nahm der Student das Recht, sie »liebes« Fräulein zu nennen? Das war ihr eine zu kecke Vertraulichkeit. Und »wohlgewogen«! Der Protz! Um ihre Mundwinkel spielte ein leiser Spott. Was konnte ihr denn von Glür, dem halbverbummelten Studenten, Gutes kommen? – Die Neugier, die der Brief doch erregt hatte, wich bald ihrer bleiernen Müdigkeit.


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