Jakob Christoph Heer
Laubgewind
Jakob Christoph Heer

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17

Und nun stand Weihnachten vor der Tür. Wieder hatte Hilde Siegfried in der Familie Herdhüßer gesehen, war sie mit ihm durch die stille Nacht von der Steinsdorfstraße nach Schwabing gegangen und, ob er sich auch den Anschein gab, als wolle er mit ihr nur die nähere Verabredung wegen der weihnachtlichen Bergfahrt treffen – sie trug doch die sonnige Gewißheit in sich, daß er sie liebe.

Der Gedanke daran warf einen frohen Schein auf ihre Tage und erfüllte ihr die Brust mit einem frühlinghaften Glück.

Selbst Dombaly hatte die Veränderung ihres Wesens bemerkt, den hoffnungsreicheren Schwung und Flügelschlag ihrer Seele. Nun aber hatte sie ihm glückliche Weihnacht entboten und schritt vom Atelier durch die vom Weihnachtsmarkt ungewöhnlich volksbelebte Leopoldstraße heimwärts, um in Frieden mit Gott und den Menschen selber Weihnacht zu feiern, innigfrohe Weihnacht, wie es einem jungen Menschenkinde ziemt, das mit reichen Erwartungen ins Leben sehen darf und eine stumme Liebe im Herzen trägt.

Erschaudernd dachte sie an die dumpfen Tage, an die kaum mehr von einer Schicksalshoffnung erhellten Abende zurück, da sie noch die Schülerin Professor Waldhiers gewesen war. Traurig und einsam waren die Stunden auf ihrem Zimmerchen gewesen, da sie in Ermangelung jeder menschlichen Teilnahme die Stirn an das Fenster gepreßt und mit den Sternen gesprochen hatte, die über den Dächern wandelten. Ja, auf den Knien mußte sie Gott danken, daß jener furchtbare Druck der Einsamkeit von ihr genommen war, die ihr oft wie eine Spinne über das Herz kroch, es mit ihren Fäden enger und enger umwand, bis nur noch das schmerzende Mißtrauen gegen die Menschen und das Schicksal darin Raum hatte.

Aus dieser Zeit herztötender Verlassenheit war nun der Ball ihres Daseins in wenigen Wochen und fast ohne ihr Dazutun, einzig durch den kleinen Anstoß, den ihm Kuno Glür durch seinen Bilderkauf gegeben hatte, ins volle Leben gerollt!

Wo sie jetzt erschien, da begegneten ihr offene Hände, offene Seelen und warmes Wohlwollen, da geleitete sie die wonnige Empfindung, daß gute und schützende Geister um sie schwebten und sie empor in ein schönes, freies Menschentum führten. Sie spürte wieder, daß sie jung war, daß ihr das Blut rot und heiß durch Herz und Glieder stoß und sie vom Leben noch viel, viel Schönes erwarten durfte.

Oh, nur dem Leben vertrauen, und freudig gibt es, wo man freudig vertraut. Nie wieder kleinmütig und zaghaft werden, sondern auf Gott bauen, an das Gute in den Menschen glauben – auch glauben an ihre eigene Kunst und – ihre Liebe!

Als sie in ihre Dachkammer trat, lag ein Brief von Siegfried Kulbach da, wenige Zeilen, die er vor der Weihnachtsfahrt nach Stuttgart rasch hingeworfen hatte. »Verehrtes Fräulein Rebstein«, schrieb er, »der Plan eines Winterausfluges ins Gebirge hat sich vollkommen geordnet. Gustav Wieland und ich erwarten Sie am zweiten Weihnachtstag morgens um sechs Uhr am Siegestor. Der Zug geht um sieben. In Aussicht genommen ist eine Fahrt an den Kochel- und Walchensee mit Schlittenvergnügen am Kesselberg. Fröhliche Weihnachten und auf einen schönen Tag im Gebirge! Ihr Siegfried Kulbach.« Und bei den Zeilen lag ein kleines, grünes Tannenreis.

»Wie lieb – wie lieb«, jubelte Hilde in sich hinein. Inbrünstig küßte sie das Reis. Von der stillen, großen Herzenshoffnung sprach ja der Zweig! In lächelnder Verträumtheit schmückte sie sich für ihre einsame Weihnachtsfeier, und über dem Brief des Heimlichgeliebten dachte sie an die Weihnachtsbriefe, die sie selber geschrieben hatte – den ausführlichsten an ihren Bruder Adolf und den alten Lehrer Hardmeyer in der Heimat. Sie hatte ihnen darin von der glücklichen Wendung erzählt, die ihre Lebensumstände und ihr strenges Werben um die Kunst genommen, und beigefügt, daß der Lehrer ihr vom Rest ihres kleinen Vermögens kein Geld mehr nach München schicken möge. Sie hoffe, durch die Unterrichtsstunden und den Verkauf ihrer Bilder könne sie ihren Unterhalt selber verdienen. Nur vom Seligsten hatte sie in dem Brief geschwiegen, von ihrer jungen Liebe selbst der Mutter nichts verraten, aber den Brief an sie mit einem artigen Geschenk begleitet. Und aus Drang und Schwung ihrer Seele hatte sie auch an Frau Glür, die Industriellenfrau in St. Agathen, ein dem Bilderkauf Kuno Glürs angemessenes und höflich dankendes Briefchen gerichtet. Durch den Studenten hatte sich ja doch das Blatt ihres Lebens aus dem Schatten an die Sonne gewandt! – Von den Nachbarhäusern drang das erste Weihnachtslied feiner Kinderstimmen in ihre Kammer.

Da trug auch sie schon das festliche Kleid, ein weißes Königin-Luisen-Gewand, das sie in den langen Abendstunden des letzten Winters selbst geschaffen, aber in ihrer niedergedrückten Stimmung kaum je getragen hatte. In duftigen Falten wölbte es sich, von dem alten Kölner Silberschild zusammengehalten, über die Brust, floß in weichen Linien um ihre hohe, kräftige Gestalt und ließ sie noch höher und schlanker denn sonst erscheinen. Sie lächelte – wenn sie an ihrer Kunst gescheitert wäre, hätte sie doch eine geschickte Damenschneiderin werden können. Und ihre Erinnerung glitt zu den Worten Gustav Wielands zurück: »Ein feiner und gediegener Kerl!« Jetzt sollten die Freunde sie sehen und wie ihr Hals und Haupt einer Blume ähnlich aus dem Gewoge der königlichen Gewandung wuchsen. Einbildung? – Stolz? – Nein, nur eine edle Freude an sich selbst.

Sie entzündete den kleinen Weihnachtsbaum, der bloß sechs Kerzen trug, sie stellte das Bild des jungen Goethe darunter hin, das kleine, schöne Weihnachtsangebinde, das sie sich damals im Herbst gewünscht hatte, als sie noch zu arm war, es zu kaufen. Nun hatte sie es doch aus eigenen Mitteln erwerben können. Das war auch ein Weihnachtsfreudenstrahl. Zu dem Bild legte sie das grüne Tannenreis Siegfried Kulbachs. Vielleicht war es die letzte Weihnacht, die sie so einsam verlebte. Vielleicht – nein, jetzt keine begehrenden Wünsche! Zu kühn, schon in die blaue Ferne der Erfüllung zu sinnen. Nur ein mildes, wunschloses Liebesträumen ließ sie durch ihre Seele ziehen.

Sie hatte sich neben den kleinen Lichterbaum gesetzt; die Hände im Schoß gefaltet, sann sie friedevoll und erwachte erst aus ihrem Traum, als ein Tannenzweig von einer niederbrennenden Kerze Feuer fing, knisterte und einen würzigen Geruch durch das Zimmer verbreitete, einen Duft, der sie an Felder und Wälder und Berge der Heimat erinnerte. Sie erhob sich, küßte das Bild des Vaters an der Wand und löschte die Lichter. An die schimmernden Weihnachtstannen im Heim ihrer Kinderzeit, an ihren seligen Vater hatte sie träumend gedacht, an sein fernes, tief in Winternacht und Schnee versunkenes Grab. Unmöglich, daß dieses kalte, schneeverwehte Grab das Ende alles dessen in sich schloß, was der für jedes Schöne und Menschenhohe begeisterte Mann in seinen schwungvollen Stunden und heiligsten Augenblicken geglaubt und gehofft hatte. Irgendwo über den Sternen, da wachte – ein unergründliches Mysterium – noch seine Treue und gab ihr das Wohlgefallen der Menschen, dessen ihre Kunst und ihre Liebe zur Entfaltung bedurften. –

Das war Hildes Weihnachtsandacht gewesen, eine friedevolle Herzensfeier, die sie gegen das Schicksal dankbar stimmte. Wie mancher stand jetzt mitten unter den Seinen und hatte doch das Herz voll nagender Sorge, und wie viele konnten sogar vor den Lichterbäumen die Last und Angst nicht lösen, die auf ihren Seelen lag. Sie dachte an Mizzi Schäfer, die sich über ihren Liebesleichtsinn und das Aktbild härmte und grämte – die Ärmste! Und wo feierte wohl Dombaly, der Junggeselle, Weihnacht?

Hilde ließ den Teekessel summen, langte ihren Goethe vom Brett und, den jungen im Bilde vor sich, die verklärten Erinnerungen des alten in der Hand, las sie das wundersame Kapitel, wie er von Straßburg auf den Sesenheimer Pfarrhof zu Friederike Brion zog – und dann das Lied des von neuen Banden Gefesselten:

Herz, mein Herz, was soll das geben?
Was bedränget dich so sehr?
Welch ein fremdes, neues Leben!
Ich erkenne dich nicht mehr.
Weg ist alles, was du liebtest,
Weg, warum du dich betrübtest,
Weg dein Fleiß und deine Ruh –
Ach, wie kamst du nur dazu!

Eine Stimmung bemächtigte sich ihrer, wie sie noch kaum je durch ihre Seele gegangen war – sehnsüchtig schwellendes Liebesverlangen, Süßigkeit und Bangigkeit, Hoffen und Erwarten. Im Heiligen Abend war das Weib in ihr erwacht – die starke Liebe! –

Selbst wenn Siegfried Kulbach im Frühling für immer von dannen zog, ihn lieben war doch ein höheres Glück, als wenn sie wie bisher liebeleer durchs Leben ging. Und vielleicht – vielleicht – – Unsäglich freute sie sich auf den übermorgigen Ausflug mit ihm in die sonnige Weihnachtswelt der Berge.


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