Friedrich Huch
Pitt und Fox
Friedrich Huch

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Die Holzrouleaus ließen das Licht des Tages nur gedämpft herein; es war still; eine Fliege summte an der Fensterscheibe. Pitt las in den Pandekten, aber seine Gedanken irrten ab und wurden immer träumerischer. Er hörte auf das Summen der Fliege an der Fensterscheibe, und ihm war, als läge da draußen gar keine Straße, sondern ein baumüberschatteter Weiher, und dahinter kamen Ställe und Scheunen. Das Haus aber war ganz klein, und er befand sich in der Stube zu ebener Erde; kein Geräusch war um ihn, nur die Fliege summte gegen die Scheibe, die heiß war von der Sonne. Sie wollte hinaus ins Freie; nun, sie würde es aufgeben, denn hier drin war es auch gemütlich, und all die Blumensträuße in den Fenstern verbreiteten Duft. Wer hatte sie dort hingestellt? Zwei blonde Knaben mit kurzem Haar; es waren Zwillinge und seine eigenen Kinder. Da standen sie schon vor ihm, in ihren kurzen Lederhosen und weißen Hemden, und wie sie jetzt lachten, sah er ihre spitzen Eckzähne. Wo hatte er nur solche Zähne gesehen? In der Luft lag ein Geruch von frischer Milch, und aus einem der Nebenräume drang das leise Stampfen eines Mörsers. – Er hörte auf den fernen Klang und sog den Duft ein – und die Fliege summte noch immer an der Scheibe. Draußen aber lag Sonnenlicht, und alle Bäume bewegten sich glitzernd, und ganz ferne krähte ein Hahn. – Das Essen ist angerichtet! sagte eine bekannte Stimme, – vor ihm stand ein großes, blondes Mädchen mit einer schneeweißen Schürze. War das Elfriede? – Unbeweglich lächelnd sah sie auf ihn, er fühlte, das er schlief, und daß sie ihn nicht wecken wollte, und doch hatte er die Augen offen und sah ganz deutlich diese schneeweiße Schürze. Da war es, wie wenn ein Ton fern verklänge, die Gestalt schien zurückzuweichen – und er starrte in sein aufgeschlagenes Pandektenbuch. – Plötzlich tat er einen Ruck. – Ich glaube fast, ich habe geschlafen! sagte er und sah auf seine Uhr, während er sich erhob. Und das ganze Traumbild zog noch einmal klar an ihm vorüber, wie er so unbeweglich dastand. – Sonderbar, sonderbar! sprach er zu sich selbst, was für Dinge liegen einem im Unterbewußtsein, von denen man keine Ahnung hat.

Er sah zu Lotte hinüber, machte eine Bewegung, als wenn er alles von sich abtue und trat langsam zu ihr hin. Sie rührte sich nicht. Er legte zart seine Hand auf ihre Stirn. Sie lag nach wie vor bewegungslos. Er nannte ihren Namen; ihr Atem ging tief, in immer größeren Zügen, plötzlich schlug sie die Augen auf. – Wir müssen gehen! sagte er leise. – Gehen? zu wem? – Zu Fox. – Sie dachte einen Augenblick nach, sagte dann: O es war so schön und schloß noch einmal die Augen. – Es muß sein; sagte sie endlich mit einem Entschlusse und erhob sich.

Fox runzelte die Stirn, als Pitt mit Lotte zugleich ins Zimmer trat; er ahnte, daß es jetzt Kämpfe geben würde. – Er wollte wieder mit seinen alten Argumenten kommen, ja er redete sogar von Großmutter- und Enkel- und Urenkelliebe, von den natürlichen Banden der Verwandtschaft, von Heimatsgefühl, das neuerdings auch in der Kunst so lebhaften Ausdruck fände, von liebgewordenen Betten, in denen man geboren sei und die doch auch zu Hause zur Verfügung ständen, und als das alles nichts half, rief er: Ja Kinder, und an die Hauptsache denkt ihr alle beide nicht, an die Kosten! Wer soll denn das bezahlen, wenn Lotte jetzt hierbleibt? – Du natürlich! – Ich?! – Ja, wer denn sonst? – Aber mein lieber Freund, das sind doch horrende Summen! Das kann ich ja gar nicht, so gerne ich möchte; wir kosten doch unserem armen Vater sowieso schon Geld genug! – Sie redeten hin und her.

Ich will dies nicht mehr mit anhören! sagte Lotte, die wortlos in einem Winkel gestanden hatte, ich werde ja hier verhandelt wie – wie, ich weiß nicht wie! – Ja, lieber Pitt, ich möchte dich auch bitten, etwas mehr Rücksicht auf Lottes Gegenwart zu nehmen. – Ich will nicht dabei sein! sagte Lotte leidenschaftlich.

In diesem Augenblick klopfte es an die Tür. – Ach! Fräulein Nippe! rief Fox, als sie sich auf der Schwelle zeigte, ich muß gerade etwas Wichtiges mit meinem Bruder bereden – wären Sie wohl so freundlich – Lottchen, du gehst wohl für einen Moment hinüber, du kannst ganz ruhig sein, die Leute sind furchtbar nett und freuen sich nur, wenn sie Besuch bekommen. – Kommen Sie, Fräuleinchen, kommen Sie! sagte Fräulein Nippe und zog Lotte hinaus.

Die beiden Brüder standen sich gegenüber. – Du hast mindestens ebensolche Verpflichtungen wie ich! sagte Fox; sie hat es zwar entschieden in Abrede gestellt, jemals noch zu dir gestanden zu haben, aber das ist auch ganz selbstverständlich; das tut jedes Mädchen; ich nehme ihr das auch durchaus nicht übel. Wenn wir die Kosten zu tragen haben, so haben wir sie gemeinsam zu tragen! – Fox redete mit vollster Überzeugung; die Einbildung, in die er sich hineinredete, beherrschte ihn so stark, daß er sie für die Wahrheit nahm. Er wußte plötzlich wieder, daß seine früheren Verhöhnungen Pitts, als habe sich der vergeblich um Lottes Gunst bemüht, nicht der Wahrheit entsprachen. Und da die Wahrheit ja das Gegenteil der Unwahrheit ist, so kam er jetzt dazu, seine Forderungen mit einer Art von moralisch-überzeugtem Pathos aufzustellen. Pitt überging dies erst, aber als Foxens Stimme nun einen fast predigerartigen Ton annahm, ging er auf ihn zu, sah ihm dicht in die Augen und fragte halblaut: Bist du eigentlich verrückt geworden? Besinne dich doch, was du sagst! – Fox sah ihn mit unsicheren Augen an: dieser durchdringende klare Blick brachte ihn allmählich zu sich, die Tatsachen, wie sie waren, rückten sich in seinem Geist zur Wirklichkeit zurecht, wurden zu einer Macht, die ihn beherrschte, und er sagte mit unsicherer Stimme: Na ja, ist doch alles klar! Mach doch die Sache nicht noch komplizierter als sie ist. Ich leugne ja absolut nicht, daß du recht hast, nur finde ich es durchaus nicht nötig, daß du dich mir gegenüber so aufs hohe Pferd setzt! Ich bezahle selbstverständlich, ich begreife nicht, weshalb du darum ein solches Geschrei machst! Ich finde es unvornehm, um Geld ein solches Geschrei zu machen! Pitt überlegte. Dies Benehmen seines Bruders grenzte schon hart ans Pathologische. War es ganz und gar ausgeschlossen, daß sich solche Zustände eines Tages wiederholten, und daß Lotte dann in die größten Verlegenheiten kommen würde? Dem mußte vorgebeugt werden.

Bitte, setz' das schriftlich auf. – Er holte Feder und Papier. Fox sah ihn verblüfft an und weigerte sich tief gekränkt. – Ich erniedrige mich dadurch. – Du brauchst dich deshalb nicht vor mir erniedrigt zu fühlen; es ist reine Formensache. – Vor dir?! absolut nicht! aber vor Lotte, vor der Familie! – Die Familie wird das Papier niemals zu sehen bekommen, auch Lotte soll nie etwas davon erfahren. Also bitte schreib, es ist nur, um dein eigenes Gedächtnis frisch zu erhalten! – Fox weigerte sich noch immer, sagte, dies sei eine Komödie, ein gesprochenes Manneswort bedürfe keiner schriftlichen Garantie, und ob er sich jemals in seinem Leben ehrlos benommen habe?! – Bitte, schreib. – Als Fox sich noch immer weigerte, griff Pitt zu einem letzten Mittel, von dem er sicher wußte, daß es wirkte: Wenn du nicht schreibst, werde ich mir Garantien von unserem Vater verschaffen. Seine Augen blickten nach wie vor durchdringend auf ihn hin. Fox ergriff mechanisch die Feder, indem er sagte: Ein schönes Mittel! Dies grenzt ja an Erpressung! Pitt lachte innerlich, dann diktierte er, aber Fox sagte: ich weiß schon selber, was ich zu schreiben habe. – Da hast du den Wisch! sagte er endlich. Pitt las das Papier aufmerksam durch, faltete es dann sorgfältig zusammen und steckte es in seine Tasche. – Nun will ich aber nichts mehr von dir hören! sagte Fox diktatorisch, und mit Lotte werde ich über diese triviale Angelegenheit auch bloß ein paar Worte sprechen. Mir gehen weiß Gott andere Dinge genug im Kopfe herum! Und er dachte an Herrn von Sanders Schülerin, mit der er sich heute am Nachmittag angeregt und geistreich unterhalten hatte über das Problem des Weibes. – Dieser Abstieg in die platteste Misere des Lebens war zu erbärmlich!

Lotte war inzwischen in Fräulein Nippes Zimmer, erschüttert durch die neuen Aufregungen, in Tränen ausgebrochen. Fräulein Nippe war so teilnehmend, so liebevoll, es drängte Lotte, ihr, einer Frau, ihr ganzes Herz auszuschütten, und sie tat es. Alles, alles erzählte sie, kaum etwas, das Fräulein Nippe noch nicht wußte, aber so im Zusammenhang erhielt sie doch einen besseren Überblick. – Armes Kindchen! sagte sie und streichelte ihre Hand, nein, zu Ihrer Großmutter dürfen Sie nicht zurück, das ist ausgeschlossen, aber hier – wenn Sie hier unter ganz fremde Menschen gehen – ach, das Herz krampft sich mir ja zusammen, so'n junges Blut unter kalten, herzlosen Berufsmenschen, die die heiligsten Dinge als ein alltägliches Geschäft ansehen! Nein, Kindchen, das dürfen Sie nicht. Wenn ich nur etwas anderes wüßte! Fräulein Nippe tat plötzlich eine Bewegung: Ein rettender Gedanke war ihr gekommen: Hier sollen Sie bleiben, hier bei uns! Ich lasse Sie nicht wieder fort, bis Sie alles glücklich überstanden haben. Ich weiß allerdings noch nicht, wie ich Platz schaffen soll, aber wir müssen Platz schaffen. – Lotte faßte wie gerettet ihre Hand und küßte sie, Fräulein Nippe aber nahm sie in ihre Arme und hielt sie fest, und nannte sie eine arme verängstigte Taube, die sich vor den Krallen des Geschicks an ihre Brust geflüchtet habe. Sie fühlte sich so stolz, so glücklich wie noch nie in ihrem Leben. – Warten Sie hier, ich gehe hinüber zu den Herren und bespreche alles mit ihnen! – Sie huschte hinaus, und dann stand sie klein, aber sicher vor den beiden großen Brüdern und teilte ihnen ihren festen Entschluß mit. – Bravo, Fräulein Nippe, bravo! rief Fox warmherzig und lebhaft, und dann wandte er sich vorwurfsvoll an Pitt: Siehst du, so benehmen sich großherzige Menschen in großen Augenblicken! – Das Pekuniäre, sagte er hierauf wieder zu Fräulein Nippe, mache ich später mit Ihnen genauer aus! – Ach, das ist ja das wenigste, meinte sie, Sie werden sie wohl nicht zu kurz kommen lassen! – Absolut nicht, absolut nicht! sagte er feierlich protestierend gegen die Möglichkeit eines solchen Verdachtes; im Gegenteil, ganz im Gegenteil! – und als Fräulein Nippe weiter sagte, er solle nun hinübergehen und ein paar Worte mit Lotte sprechen, nickte er: Sofort, gewiß, jawohl, versteht sich! und wanderte sogleich hinüber. Auf den Gedanken, daß es eigentlich nicht schön sei, Lotte nun immer in so unmittelbarer Nähe um sich zu haben, kam er jetzt noch nicht. – Na, Lottchen, sagte er, also du bleibst ja nun vorläufig hier, – und streckte ihr die Hand entgegen; du weißt doch, daß ich es gut mit dir meine! Hier ist es am besten für dich! Ich habe mir das überlegt, obgleich es nicht leicht ist für mich, das kannst du dir wohl denken! Also, Lotte, – na, gibst du mir nicht die Hand? Sagst du gar nichts Freundliches zu mir? – Danke! sagte sie.


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