Friedrich Huch
Pitt und Fox
Friedrich Huch

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Sechstes Kapitel

Lotte blieb nun wirklich in dem Heime Fräulein Nippes und Herrn Könneckes. – Herr Könnecke hatte tiefes Mitleid mit dem armen Mädchen, und wenn er ihr einen Teil seiner Bequemlichkeit opferte, so sagte er sich, er begehe dafür auch eine gute Tat: Er trat ihr sein eigenes Zimmer ab und teilte in der Folgezeit die Stube mit Fox. Der war anfangs über dieses Ansinnen tief verletzt. Herr Könnecke schlug ihm darauf vor, er könne sich ja ein anderes Zimmer mieten. Verstimmt, sich von Herrn Könnecke, vom Schicksal, von allen schlecht behandelt fühlend, rief Fox bitter: Natürlich! Ist ja ganz einfach, ich habe ja Geld wie Heu! Ich kann mir ja auch gleich eine ganze Wohnung mit einem Tanzsaal mieten! – Sie können doch nicht verlangen, sagte Herr Könnecke, daß ich mit meiner Kusine in einem Zimmer schlafe! – Ich verlange gar nichts! antwortete Fox und dehnte das letzte Wort betonend, bedeutend, zurechtweisend. Meinetwegen ziehen Sie in mein Zimmer, aber reden Sie wenigstens nicht vorher davon. – Herr Könnecke verschluckte seinen Ärger, und am nächsten Tage war die Stube für zwei eingerichtet. Sie war ganz vollgestopft mit Möbeln. – Ich kann überhaupt niemand mehr hier empfangen! rief Fox gereizt in die Luft hinaus, als er sein Zimmer in dem neuen Zustand erblickte.

Mit Lotte war er sehr wenig zusammen; ihr war es im Grunde recht, daß sie sich so selten sahen, denn sie empfand ihm gegenüber eine Scheu, die sie nicht mehr vertreiben konnte. Zu allen andern redete sie unbefangen; trat Fox ins Zimmer, so verstummte sie. Herr Könnecke widmete ihr viel von seiner freien Zeit und brachte ihr zuweilen eine Frucht oder eine andere kleine Überraschung mit. Und wenn sie traurig war, wenn diese schrecklichen Stimmungen wiederkamen, tröstete er sie, brachte er Bilderbücher, Photographiealbums, Geduldspiele herbei. – Selma, zeig ihr doch mal, wie man Patienzen legt! Selma, wollen wir ihr nicht mal ein Theaterbillett schenken? Selma, ich finde, nächsten Sonntag nachmittag könnten wir mal alle drei eine Partie zusammen machen! – Herr Könnecke war so gut, so sehr gut zu ihr! Und immer, wenn sie an ihn im allgemeinen dachte, kam ihr wieder jenes erste Bild vor die Augen, damals auf der Straße, als er zu dem Jungen sagte: Na ja, dann will ich es dir diesmal noch erlassen! – Immer hatte er Geduld mit ihr, auch wenn sie manchmal gereizt war, ganz ohne daß sie es wollte; sie bat ihn auch jedesmal hinterher um Verzeihung und sagte: Ich weiß ja, daß Sie es gut mit mir meinen! – Es war schließlich so, als wenn er und Fox die Rollen getauscht hätten, als wäre Fox ein Außenstehender, er selbst aber ihr natürlicher Schutz und Berater. Fox, unbewußt ganz zufrieden damit, fühlte sich doch in seinen Rechten zuweilen beleidigt. Herr Könnecke schenkte Lotte ein Billett zu einer Posse. Nein! sagte Fox, ich erlaube dir nicht, daß du hingehst. Das Stück ist ganz frivol, paßt nicht für junge Mädchen! – Du brauchst ja auch nicht hinzugehen, antwortete sie, in Gegenwart Herrn Könneckes mutiger. – Fällt mir auch gar nicht ein, aber du gehst ebenfalls nicht hin, ich will es nicht haben, also tust du's nicht! – Jetzt schritt Herr Könnecke ein. Zu viel hatte er sich von dem jungen Manne bieten lassen. Wieviel hatte er schon stillschweigend hinuntergeschluckt, gar nicht davon zu reden, daß er jetzt abends seine Pfeife nicht mehr rauchte, aus Rücksicht auf Fox, der, wie er sagte, seinen schlechten Knaster nicht vertragen konnte. – Ich habe ihr das Billett geschenkt, sagte er mit fester Stimme, und ich kann es verantworten, daß sie das Stück auch sieht. – Lotte, also ich sage dir – Wenn du mich lieb hast – Ach sei doch still! unterbrach sie ihn heftig, aber gleich darauf kam sie zu ihm und fuhr fort: Ja, Fox, wenn du es nicht willst, so gehe ich nicht! Aber nun war er beleidigt, zuckte die Achseln und sagte: Meinetwegen tu, was du willst – wenn du andern Leuten mehr glaubst als mir – und verließ grollend das Zimmer. – Ich will nicht gehen! Sie blickte ratsuchend auf Herrn Könnecke. – Wie Sie wollen, sagte er ruhig. – Nein, nun kränke ich Sie auch noch, und Sie haben sich das so schön für mich ausgedacht! Ich gehe doch, aber Sie müssen Fox sagen, daß ich nur gehe, weil Sie sich das so schön für mich ausgedacht haben! – Sie ging wirklich, und merkte sich den Inhalt der einzelnen Akte ganz genau, um Großmutter später davon zu schreiben.

Lotte hatte ihre ganze Erfindungskraft aufbieten müssen, um Frau Bornemann erklärlich zu machen, daß sie nicht an ihrem ursprünglichen Ziele weile, sondern woanders. Dort sei die Cholera aufgetreten, so schrieb sie, und da habe ein Onkel ihrer Freundin sie sämtlich eingeladen, auf sein Gut, das sich hier in der Nachbarschaft der großen Stadt befände; auch werde die Post jeden Tag von dem Geschäftshaus des Onkels her – sie nannte Herrn Könneckes Wohnung – hinausgeschickt. Es sei einfacher, alle Postsendungen immer an den Onkel selbst, Herrn Könnecke zu adressieren, da die Postverbindung zum Gut hinaus sehr unzuverlässig sei und Herr Könnecke immer abends alles in seiner Equipage mitbringe. Diese langatmige Situation erfand sie, und wieder kam sie sich unsäglich schlecht vor, die alte, gute Großmutter so zu hintergehen. Aber sie war einmal in die Hintergehungen hineingeraten und mußte vorwärts. Fox wußte von diesen Täuschungen, und er wollte sie zu einer Art witziger Geistesübung machen, worauf Lotte jedoch nicht einging. – Dann nicht! sagte er; es scheint dir seit einiger Zeit überhaupt alles egal zu sein, was ich vorschlage. – Er hatte ein bitteres, gekränktes Gefühl gegen sie, und lediglich nur deshalb, weil sie das Kind erwartete. – Fox verlangte mehr Geld von seinem Vater; der begann ihm Vorwürfe zu machen wegen seiner vielen Ausgaben, die sich steigerten, und auf Pitt hinzuweisen, der nicht einmal die Hälfte von dem brauchte, was Fox bekam. Diese Vorwürfe erschienen Fox ungerecht und kränkend, denn das Geld wanderte ja nun zu einem großen Teil in die Hände Fräulein Nippes. Lotte war zwar sehr bescheiden in dem, was sie brauchte, aber immerhin mußte er sich ihretwegen doch sehr einschränken. Auf die Dauer jedoch wurde ihm dies unmöglich; er begann Schulden zu machen, und anstandslos borgten oder lieferten ihm Restaurateure und Geschäftsleute, da er ihnen allen schon so viel zu verdienen gegeben hatte. Von dem einen Gegenteil verfiel er nun ins andere: Er wollte sich entschädigen für alle Unbill, er zog wirklich aus und mietete sich für die kurze Zeit seines Aufenthaltes – denn inzwischen war das Semester vorgerückt und bald nahte es seinem Ende – in einer der schönsten Straßen ein. – Wie alles werden sollte, wenn erst die großen Summen kamen für Lotte, die er dann zu bezahlen hatte, wußte er vorläufig nicht. Aber daran dachte er jetzt noch nicht. – Weniger und weniger sah er Lotte; das «Problem des Weibes» war entschieden interessanter als sie. – Lotte selbst vermißte ihn nicht, ja sie war froh, daß er nun bald ganz fortging. In den ersten Zeiten wollte sie sich das nicht eingestehen, aber mehr und mehr ahnte sie, daß auch ihre Liebe schwand. Ihre Zukunftsbilder beschäftigten sich nie mit ihm. Schmerzlich war es ihr, daß er niemals von dem Kinde zu ihr redete, daß er sagte: Wenn es da wäre, dann sei immer noch Zeit dazu. – Da wirft sie mir nun Kälte vor! Gesagt hat sie es ja nicht, aber ich fühle es durch, ich fühle es durch! so dachte Fox; und Pitt scheint sie für den zartfühlendsten Menschen zu halten! Was mir da Fräulein Nippe erzählt hat über die Art, wie er sich bei Lotte zu Anfang über die Vaterschaft des Kindes erkundigte – sie scheinen beide nichts dabei zu finden – nun, das weiß ich: Niemals wäre mir ein solches Wort über die Lippen gekommen! Nein nein, niemals! Ich finde das zynisch, ohne jede weitere Entschuldigung.

Um so wohltuender war es Lotte, daß Fräulein Nippe so oft von dem Kindchen zu ihr redete. In ihren freien Stunden saß sie bei ihr und häkelte und strickte mit ihr zusammen Sachen für das zu erwartende kleine Wesen. Einmal sagte sie: Es ist mir beinahe so, als ob ich selbst das Kind erwartete! Ach es muß doch zu schön sein, so ein wonniges kleines Ding im Arm zu halten, das einem ganz allein gehört!

Und Lotte begann sich leise auf diesen Augenblick zu freuen. Allmählich, ganz allmählich war Ruhe über sie gekommen, die furchtbare Angst um das Unabänderliche war von ihr genommen, sie erschien sich nicht mehr, so wie früher, wie das verruchte Gegenteil einer Mörderin etwa, indem sie, anstatt zu töten, einem Wesen widerrechtlich das Leben gab. Pitt sah sie nicht besonders häufig. Ihre Gefühle zu ihm waren ganz schwesterliche geworden. Wärme und Kühle gingen bei ihm durcheinander, das empfand sie wohl, aber er war der erste Mensch gewesen, der ihr half, der sie verteidigte, und das vergaß sie ihm niemals. Ab und zu besuchte sie ihn noch, ging mit ihm ein wenig spazieren und dachte nicht mehr daran, daß sie ihn belästigen könnte; dazu war sie zu ernst, zu ruhig, ihrer selbst zu sicher geworden. Unter den Bäumen, die nun ihr goldenes Laub bereits langsam zur Erde sinken ließen, saß sie manchmal mit ihm zusammen, auf einer Bank, und während sie sich still von der Mittagsonne bescheinen ließ, dachte er: Nun gibt sie bald einem Kinde das Leben! Was wird sein Schicksal sein? Und wenn es mein eigenes wäre – was für ein trostloser Gedanke, sich selbst noch einmal auf der Welt zu sehen; und dieses Kind wächst dann heran, wird groß, und sieht sich später wieder in anderer Gestalt durchs Leben schreiten, und das geht immer so fort, immer so fort, und war von allem Anfang so.

Also Lotte, sagte Fox eines Tages, indem er wieder, so wie damals beim ersten Abschied, in seinen roten Glacéhandschuhen, den steifen Hut in der Rechten, vor ihr stand, also Lotte, laß es dir gutgehen. Ich reise heute ab. Ich habe meinen Aufenthalt hier schon weit über Gebühr verzögert und kann nun nicht mehr länger warten. Meine Eltern werden ungeduldig. Ich habe Fräulein Nippe noch eine gehörige Summe für dich hinterlassen, wenn die zu Ende ist, wird sie mir schreiben; die Summen werden sich jetzt allmählich häufen, ich weiß noch nicht, wie sie geschafft werden sollen, aber geschafft werden sie, das garantiere ich. Du sollst dir nicht zu allem übrigen auch noch Sorgen um das leidige Geld machen. Wo du das Kind hintun wirst, wie es versorgt wird, das schreibst du mir später wohl, natürlich postlagernd. Ich komme für alles auf, ich bin ein verläßlicher, anständiger – Vater. Ja ja, Lotte, manche Fehler rächen sich im Leben; es ist der Fluch der bösen Tat, daß sie – na und so weiter. Hab' nur keine Angst, wird sich schon alles überstehen! Und was unsere Zukunft betrifft – deine und meine – so kann ich dir beim besten Willen noch nichts Näheres sagen, ich habe in den nächsten Jahren große Pläne vor mir, und diese Pläne erfordern – aber Lotte unterbrach ihn: Ich weiß das alles; mach' dir nicht so viel Mühe, Fox. – Na ja, sagte er, etwas verlegen; also dann: Leb' wohl, Lotte! Er hielt ihre Hand einen Augenblick, indem er darauf wartete, daß sie ihm die Lippen zum Kusse bieten würde, dann nahm er ihre Wangen zwischen seine Hände und drückte seinen Mund zart und schützerisch auf ihre Stirn.

Fräulein Nippe sagte ihm allein adieu. Sie hatte Tränen in den Augen, hielt seine beiden Hände gefaßt und nannte ihn einen Ehrenmann; es tue ihr ja so leid, daß dies alles für ihn gekommen sei; ein junger Mann müsse unbeschränkt die goldne Freiheit genießen; sie verstehe es ja so gut, daß er gegen Lotte mehr Ungeduld als sonst etwas empfinde; andere könnten es gefühllos nennen – aber es sei das Recht der sieghaften Jugend! Wieviel besser es doch gewesen wäre, wenn dieses ganze Unglück seinen Bruder Pitt getroffen hätte, der – na, seien wir offen, zu Ihnen darf ich schon ein freieres Wort reden! – im Grunde ein wenig stumpfsinnig dahinlebe! – Absolut nicht, absolut nicht! sagte Fox, dessen Familienstolz sich regte, aber im Herzen dachte er: Recht hat sie! Endlich doch mal 'ne Person, die mich versteht! – Mein Vetter, fuhr sie fort, sitzt nun in seiner Schule und kann Ihnen nicht adieu sagen, leider. – Ist auch gar nicht nötig, dachte Fox, denn seine Sympathie für Herrn Könnecke war in der letzten Zeit wesentlich herabgemindert.

Und du, sagte er zu Pitt, willst du nun wirklich ganz hierbleiben in den Ferien? Ja, du kannst dir das schon leisten; ich muß zurück zu den Alten, ich bin pleite, absolut pleite! – Er hinterließ ihm noch einen Haufen Aufsätze, die er in den letzten Monaten zusammengeschrieben hatte, und die zumeist über das Bühnenwesen handelten. – Ich habe da erst mal mit groben Besen gekehrt, die feineren kommen später dran, und die eigentliche positive Arbeit beginnt erst, wenn dieser Augiasstall einmal ganz ausgemistet ist! Mein Lehrer hat mir vorgeschlagen, ich solle Dramaturg oder Regisseur werden, aber solche Tätigkeit ist doch eine zu untergeordnete.

So räumte Fox wirklich das Feld. Zu Hause ist es doch am besten, man mag sagen, was man will! dachte er, als er im heimatlichen Bahnhof abstieg: die Heimat ist ein Hafen, in den man sich allzeit flüchten kann vor den Miseren des Lebens. Und die praktische Bestätigung dieses Ausspruches sollte er erfahren, als er sich endlich entschloß, sich seiner Mutter anzuvertrauen, da er beim besten Willen nicht mehr wußte, wie er nun das viele Geld für Lotte schaffen solle. – Du bist mir ja ein schöner Windbeutel, du bist mir ja ein sauberes Früchtchen! so sprach Frau Sintrup und ließ diesen Bildern noch mehrere folgen, die gleichfalls dem Gebiet der Konfitüren entlehnt waren. Aber dann verstand sie sich doch dazu, Fox die Summe zu bewilligen, um die er bat. Alles mußte er ihr erzählen, von Anfang bis zu Ende, und wie es nichts mehr zu fragen und zu erzählen gab, sagte sie, sie wolle nicht in nähere Einzelheiten eindringen, die Tatsache sei ihr genug. Ähnlich sprach sie zuweilen zu Herrn Sintrup, wenn der ihr seine Erlebnisse beichtete, aus einem innern Gefühl der Anständigkeit und aus einer Forderung des Gemüts heraus.

Lotte wartete der Zukunft entgegen, die Zeit verging. Frau Bornemann schrieb seit einigen Wochen mahnende Briefe, es sei nun die höchste Zeit, daß sie zurückkomme, der Lehrkurs des neuen Halbjahres beginne bald, und mit bescheidener Frivolität fragte sie endlich an, ob Lotte sich etwa verliebt habe und darum nicht zurückkomme? Sie hätte ja dem Kind so gerne den Lehrberuf erspart! Ach, wenn sie sich doch verlobt hätte!

Und Lotte wartete in dieser stillen Zeit ihrem Ereignis entgegen, mit immer größerer Ungeduld, so wie man in kostbaren freien Tagen draußen den zögernden Frühling erwartet, ehe man in die dunkle Stadt zurück muß und in das graue Einerlei des Lebens, das nichts von den Herrlichkeiten da draußen weiß. Alle Angst hatte sie verloren, sie war zuversichtlich still und beinah glücklich. – Es handelt sich nur noch um Wochen! sagte Fräulein Nippe zu Herrn Könnecke, und setzte sich mit einer Frau in Verbindung, da sie sich diesem Dienste nicht gewachsen fühlte.

Lotte war viel für sich allein; sie suchte die Einsamkeit. Sie dachte an die eigne Kindheit, an ihre Eltern, die nun schon lange tot waren, an die Großmutter, die ihr nun alles ersetzte. Und stärker als früher war das Gefühl in ihr, sie handle unrecht, indem sie diese Frau hinterging, die stets nur das Beste für sie gewollt hatte. – Lotte hatte sich an ihren Zustand, an den Gedanken, der ihr anfangs selber so unfaßbar war, gewöhnt; alles Schreckliche lag so weit hinter ihr, daß es nur noch als ein Schatten in die ruhige Wirklichkeit hineinragte. Unwillkürlich übertrug sie diese Ruhe auch in die Vorstellungen, die sie von ihrer Großmutter hatte: Vielleicht, wenn sie doch einmal alles erfuhr, wie Pitt immer sagte, vielleicht würde es sie dann viel mehr schmerzen, daß Lotte kein Vertrauen zu ihr gehabt hatte, daß sie zu andern, zu fremden Menschen ging. Vielleicht würde sie, wenn Lotte jetzt zu ihr kam, ehe das Kind geboren war, sie zwar sehr traurig aufnehmen, aber doch wenigstens froh darüber, daß sie ihre Furcht und Angst besiegte und Vertrauen bei ihr suchte; sie war doch die Mutter ihrer Mutter! Es traten Lotte die Tränen in die Augen; die Sehnsucht nach ihrer Großmutter wurde immer stärker, es wurde ihr zu immer größerer Gewißheit, zu immer dringenderer Forderung, daß sie fort, daß sie zu ihr müsse. Fräulein Nippe redete ihr ab: Das sei so eine vorübergehende Stimmung; wenn sie ihr folgte, würde sie es wahrscheinlich bitter zu bereuen haben. Sie rief ihr ihre erste Angst, ihre Furcht zurück, aber Lotte sagte: Großmutter kann mich ja gar nicht verfluchen, sie hat mir ja nie, nie das geringste Wirkliche gesagt, sie müßte sich ja selbst verfluchen! – Aber Fräulein Nippe blieb bedenklich und sagte: Kind, ich kenne die Leute besser; das ist ja alles schön und richtig, aber die Scheuklappen, die sie andern um die Augen legen, werden zu schweren Eisenpanzern, in die sie ihre eigenen Seelen hüllen, und unbarmherzig ziehen sie daraus das Flammenschwert des Gerichtes hervor, mit dem sie ihr Opfer dann umgarnen! Tun Sie es nicht, tun Sie es nicht!


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