Friedrich Huch
Pitt und Fox
Friedrich Huch

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Neuntes Kapitel

Fox Sintrup saß in einem Kupee vierter Klasse und fuhr nach irgendeinem entfernten kleinen Orte, den er nicht kannte. So mußte es gemacht werden, das war romantisch-echte Ziel- und Zwecklosigkeit, das unbestimmte Schweifen in die Ferne. Jetzt gilt es, der Not fest in das Auge zu sehen! sprach er zu sich selbst. Er erinnerte sich, daß er noch eine echte Havanna aus dem Niedergang gerettet hatte, fand sie auch wirklich in seiner Rocktasche, etwas abgeblättert, aber immerhin noch rauchbar, das vertrieb den schlechten Duft, der um ihn war. Ihm gegenüber lagerte ein junger Mann, fast noch ein Knabe, mit dunklen Augen; neben ihm saß eine alte Frau; sie hatte sich zu ihm gesetzt, obgleich sie nicht zu ihm gehörte. Ihre Augen waren starr, und sie bewegte sich kaum. Dann kamen Arbeiter mit dumpfen Gesichtern. Fox würdigte sie alle kaum eines Blickes; es dunkelte und wurde Nacht, er suchte zu schlafen, wurde aber bald geweckt durch die Töne einer Harmonika. Der junge Mensch spielte ein langsames trauriges Lied, während er die Augen, ohne etwas zu sehen, zum Fenster hin gerichtet hielt. – Das ist doch noch Poesie! dachte Fox, echte Poesie; da suchen die Dichter immer ihre Stoffe in erträumten Fernen und überblicken die nächste Realität! Wie leicht könnte ich jetzt hieraus ein Gedicht machen! Ein Gedicht, in der denkbar schlimmsten äußern Zwangslage geschaffen, und doch ein echtes Gedicht! Da sieht man wieder, daß es wahr ist: Kunst entsteht aus Not! Unsere heutigen Dichter aber sind Faulenzer auf dem Sofa: Bei dem Rauch einer Zigarette dichten sie über Waldesduft und Blätterrauschen; der heutigen Generation ist das Gefühl der Natur abhanden gekommen. Die Frau da hinten! Sitzt sie nicht da wie die menschgewordene Frau Sorge, drängt sich nicht einem geradezu Zeile um Zeile eines Gedichtes auf? Mal sehen. Er runzelte die Stirn: – Tief eingesunken starren meine Augen, die nur zum innern Sehn noch taugen! Das sollte ihm mal jemand nachmachen! So ganz aus dem Stegreif; – na und so weiter. Sollte er wohl eigentlich ein Dichter sein? Daran hatte er noch nie gedacht. Auch Dichter lernen das Elend kennen, Grabbe trank sogar, und doch kam sein Name auf die Nachwelt. Und Trinker werden wollte Fox ja nicht einmal. Das war alles vergangene Epoche. Was wollte er jetzt nur eigentlich in diesem Städtchen, dem er zurollte, mit jeder Sekunde sieben Meter? – Peter der Große hatte auf Schiffswerften gearbeitet. Hier war aber gar kein Meer. – Er mußte irgendwie seine Kenntnisse verwerten. Als Schreiber bei einem Rechtsanwalt? Alles sträubte sich dagegen in ihm. Aber in Amerika wurden sogar Hochadelige Kellner! Das war authentisch! Graf Zitzewitz zum Beispiel! – Sollte er doch Schreiber werden, sich nebenbei auf das Examen vorbereiten und seinem Vater später auf die Schulter klopfen und sagen: Siehst du, mein Lieber, es ging auch ohne dich?! Fox traute sich schon einiges zu, übers Jahr würde er dann Referendar sein – er war dann allerdings schon achtundzwanzig Jahre – aber dann ging es mit Riesenschritten in die große Karriere hinein.

Am nächsten Morgen kam er in seinem kleinen Bestimmungsorte an. Ein Bahnhof lag da, aus traurigen roten Backsteinen erbaut. Hühner wandelten, ernsthaft nach Würmern pickend, hin und her. Bei dem Anblick der Hühner fiel ihm ganz ohne Vermittlung das Fräulein ein. Er hatte vollkommen vergessen, ihr adieu zu sagen! Nun, auch sie gehörte einer vergangenen Lebensepoche an. – Die wenigen Aussteigenden hatten sich verlaufen, Fox sah sich nach rechts und links um. – Was soll ich denn hier? fragte er sich halblaut, dies scheint ja eine Dreckstadt zu sein! – Er überlegte, ob er weiterfahren solle, nach der nächsten Großstadt – aber das Geld! – Er überzählte seine Barschaft. – Das genügt doch nicht! Ich kann doch nicht all mein Geld verfahren für nichts und wieder nichts! All dies sprach er zu sich selbst, als sei er eigentlich gedoppelt, als habe ihn ein anderer in diesen Sumpf hineingelockt, dem er nun die Torheit, den Blödsinn dieses Schrittes vorhielt. – Er suchte sich das beste Hotel, in der Überlegung, es werde guten Eindruck machen bei den Rechtsanwälten, die er aufsuchen wollte. – Vier Vertreter dieses Standes fand er in dem dünnen, magern Adreßbuch, alle vier besuchte er, alle vier sagten, es sei kein Posten frei. – Aber so schaffen Sie mir doch einen! Ich bin eine horrende Kraft! Ich habe akademische Bildung! Ich bin kein gewöhnlicher Schreiber! Ich bin was Besseres! Einer gab ihm ein Geldstück. Fox nahm es, ohne zunächst den Zusammenhang zu begreifen, dann sah er es aufmerksam an und führte darauf einen so ausdrucksvollen Blick unter seinen emporgezogenen Augenbrauen auf den Geber, daß der in ein lautes Gelächter ausbrach und es gutmütig zurücknahm. – Wieder ein anderer – es war der letzte der vier, die in Betracht kamen, riet ihm, er möge sich ans Amtsgericht wenden, da sei gerade ein Portierposten frei. Bei diesem Wort war es, als wenn Fox in die Länge und die Breite wüchse: Wüßten Sie, sagte er mit traurigen, strafenden Augen, wen Sie vor sich haben, so hätten Sie das nicht gesagt! Der andre sah ihn ganz verwundert an und lachte dann ebenfalls. Dann war er wieder auf der Straße, auf dieser abscheulichen kleinstädtischen Straße, und dachte: Und was wird nun?! – Vor einem Hause war ein Auflauf, viele Kinder drängten sich am Tor, zuweilen wich alles zurück, dann kam ein Herr oder eine Dame heraus, zierlich und auffallend herausgeputzt. Gruppen von Erwachsenen standen auf dem gegenüberliegenden Fußsteig, auch sie sahen voll Interesse herüber, und aus den Fenstern der verschiedenen Stockwerke unterhielten sich Menschen mit den Untenstehenden. – Hermann Steinert, Theaterdirektor, las Fox an der Tür, auf einem Schild. – Schmiere! dachte er verächtlich; so tief bin ich noch nicht gesunken. Dann ging er wieder weiter und ärgerte sich, daß er überall an allen Ecken dieselben Menschen traf.

Als Klavierlehrer könnte ich mich doch hier niederlassen! dachte er plötzlich, als er ein schlechtes Instrument vernahm, dessen Töne durch irgendein Fenster hinaus die ganze Straße zu füllen schienen; – dazu braucht man nichts als ein Klavier und ein sicheres Auftreten. Das Klavier bezahle ich nicht, und das Auftreten habe ich. Ich will mich schon einführen! Ich setze mich einfach abends zu den Honoratioren an den Tisch im Gasthaus, an dem die Kerle alle beieinander hocken! Seine Idee, Bureauschreiber zu werden, erschien ihm mit einem Male lächerlich. Aber wenn ihn unter den Stammgästen die vier Rechtsanwälte erkannten? Dann war sein Renommee dahin! Er ließ sich Backen- und Schnurrbart abnehmen, und als er sich nun glatt und bartlos im Spiegel betrachtete, beunruhigte ihn der Gedanke, ob er sich damit nicht irgendeinen andern Beruf zerstört habe, für den der Bart vielleicht unumgänglich nötig sei.

Als er gegen Abend ins Hotel zurückkehrte, blieb das Zimmermädchen auf der Schwelle stehen. – Wann fängt denn der Theater an? fragte sie endlich langsam und neugierig. – Der Theater? Fox zog die Augenbrauen hoch und ließ den Blick groß zu ihr hingehen. – Sie stieß einen unterdrückten Lachton durch die Nase. – Sind Sie der Komeker? fragte sie, und ihre Augen glänzten schon vor Freude. – Komeker?! Machen Sie, daß Sie 'rauskommen! sagte Fox. – Er kleidete sich nun auf das peinlichste um, nichts sollte an seinen früheren Zustand erinnern.

Wann fängt denn der Theater an? fragte der Kellner diskret beim Servieren. – Heute! sagte Fox geärgert. Der Kellner nahm das als einen Scherz hin. Nach dem Essen suchte Fox den Portier auf und fragte nach dem Stammlokal der ersten Bürger. Der Portier sah ihn etwas verwundert an, nannte es und sagte dann: Herr Steinert hat wirklich Glück gehabt! Fast hätte er doch nun auf alle Lustspiele und Possen verzichten müssen! Gestern telegraphierte ihm sein Komiker, er käme nicht, und heute hat Herr Steinert bereits Ersatz gefunden. Er kann die Saison ruhig beginnen! Wirklich ein rühriger Geschäftsmann! – Und woher wissen Sie, daß ich der Komiker bin? – Sie haben es doch selbst dem Zimmermädchen gesagt! – Fox zuckte die Achseln; es war ihm nicht der Mühe wert, diese Leute aufzuklären, daß er Regierungsbeamter – nee, was war er denn? Schreiber – Kammervirtuose – Fox wußte im Augenblick selbst nicht, was er war. Er trat auf die Straße. Mochten sie denken, was sie wollten. Kommt alles durch den Bart, der weg ist! Hopla, dies verfluchte Pflaster! Und diese elende Straßenbeleuchtung! Es fiel ihm auf, daß fast alle Häuser dunkel waren. Um wieviel Uhr gehen denn die Leute hier zu Bett?! so dachte er, unwillkürlich stehen bleibend. Da schnarcht ja was im Parterre! Hinter der Gardine! Ich höre es ganz genau, durch die Fensterscheiben! Da schnarcht was! – Plötzlich befand er sich vor dem bezeichneten Restaurant. Das hatte ihm der Portier auch so beschrieben, als wenn es Gott weiß wie weit bis dorthin wäre. Ein Katzensprung! Nichts weiter!

Drinnen saßen lauter Männer mit Bärten, die meisten auch noch mit Brillen. Es war ein geräumiges, niedriges Zimmer, in dem ein schlechter Tabaksdunst herrschte. An einzelnen Tischen wurde Karten gespielt. Alle sahen auf, wie Fox hereintrat, neugierig wurde er gemustert. Jetzt galt es! Mit rascher, großer Gebärde legte er seinen Mantel ab, setzte sich an einen freien Tisch und trommelte mit den Fingern. Dann fragte er den Kellner, ob Freiherr von Strambach keine Nachricht für ihn hinterlassen habe: Von Sintrup, Kammervirtuose. Der Kellner verneinte bedauernd und interessiert. Nein!? rief Fox und fuhr vom Stuhl empor. Dann gab er sofort ein Telegramm auf: Freiherr Strambach nicht hier, alles vorläufig sistieren. Die Adresse lautete wieder an seinen alten Freund, den Kriegsminister. Und er lachte innerlich, denn der alte Herr hatte inzwischen schon öfter Nachricht von ihm bekommen, und diesmal wurde er gar durch ein Telegramm aus dem Schlafe alarmiert. – Er erreichte, was er wollte: Im Nu war alles im Lokal bekannt, und der Kellner kam im Auftrag der Herren, ihn an ihren Tisch zu bitten. Diskret ward er nach dem Kriegsminister gefragt; er sagte, Freiherr Strambach sei ein Freund von ihm und nannte die Sache, um die es sich handelte, «eine leidige Angelegenheit», in der er den Vertrauensmann spiele. Der Kriegsminister habe übrigens eine reizende talentvolle Tochter, die er im Klavierspiel unterrichtet habe. Man fragte ihn nun, ob er hier konzertieren wolle. Fox schüttelte den Kopf und sagte, seine Tourneen gingen immer nur über größere Städte. – Ach, das ist aber schade, äußerst schade! Nebenan im Zimmer ist ein Klavier, wollen Sie uns nicht einmal die Freude machen, wenn es nicht unbescheiden ist? – Fox machte ein bedauerndes Gesicht; seit Monaten habe er keine Taste angerührt, jetzt gehe es seinen Nerven allerdings etwas besser. – Nun sehen Sie! na, wenn es jetzt besser geht... Fox ließ sich noch etwas bitten, dann verschwand er mit resigniert-freundlichem Gesichte im Nebenzimmer, und alsbald donnerten die Eingangsklänge der Holländerballade, die Fox konnte.

Die Suggestion des Kammervirtuosentums wirkte, unterstützt durch übrige Kritiklosigkeit. Fox kam wieder aus seinem Zimmer heraus, als wenn er dort gerade gebadet habe und sich vor Zug in acht nehmen müsse, und ward mit Bravos empfangen. Er schimpfte auf das scheußliche Klavier. Einige nahmen das Klavier in Schutz, andere verwiesen auf das bessere im eigenen Hause. – Wenn Sie hier am Orte bleiben, müssen Sie uns unbedingt einmal die Ehre geben! – Meine Frau sucht schon lange einen Partner im Vierhändigspielen, keiner ist ihr gut genug, sie macht eben künstlerische Ansprüche! – Mein Sohn klagt immer, zu was er denn Violine lerne, wenn er das Dings immer solo spielen müsse, viel kann er ja noch nicht, aber Talent hat er. – Ich spiele selber Cello! und ärgere mich, daß meine Frau so absolut unmusikalisch ist! Ich möchte ja immer gern mit der Frau Sekretär zusammen spielen, aber da sollten Sie mal das Gesicht von meiner Frau sehen! So flogen die Rufe durcheinander.

Fox erklärte sich zu allem bereit, falls er sich länger hier am Orte aufhalte, was noch fraglich sei. Es käme auf die Luft an, die hier herrsche. – Übrigens, setzte er hinzu, werde er eventuell auch einige Stunden erteilen – auf Honorare verzichte er, es sei ihm ein Bedürfnis, junge Menschen, die Talent hätten, zur Musik auszubilden. – Diese Worte sprach er jenem Rechtsanwalt ins Gesicht, der ihm am Morgen den Portiersposten empfahl, und der nickte und sagte: Bravo, das ist wahrhaftig philanthropisch! Schade, daß ich keine Kinder habe, ich würde sie sofort von Ihnen unterrichten lassen, allerdings nicht gratis, das versteht sich von selbst. – Sprechen Sie doch mal mit meiner Frau! Unser Gretchen hat zwar Stunden, aber wir sind beide nicht zufrieden. Natürlich auch nicht gratis – wenn Sie nicht übermäßige Forderungen stellen. Fox sagte, er wolle es versuchen, über das Honorar könnten sie sich ja einigen, allerdings: wenn der Fehler an Ihrem Gretchen liegt...!

Er wartete noch auf andre Anträge und dachte dabei: Weshalb meldet sich niemand? Klavier lernt doch heutzutage jedes Rindvieh in den Windeln! Jedoch nur ein magerer Offizial stellte sich vor, griff aber auf Foxens Worte von der Honorarfreiheit zurück.


 << zurück weiter >>