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Fräulein Nippe ging mit tragischer Miene zu Hause herum und dachte: Wenn ihr wüßtet, welches Schicksal in mir kreißt!
Schon früher hatte ihr vieles Fortbleiben von zu Hause Verdacht erregt. Herr Könnecke, der ihr auf vergangene leidenschaftliche und heftige Ausbrüche erwidert hatte: ich habe dich ja immer noch gern, aber Lotte steht mir nun doch mal näher als du, daran ist nichts zu ändern. – Herr Könnecke dachte in seinem guten schlechten Gewissen: Sie fühlt sich nicht wohl bei uns, sie will sich nicht aufdrängen, sie zieht sich ganz bewußt von uns zurück. Aber Frau Bornemann, die jetzt das neubezogene Heim ihrer Enkelin und ihres «Herrn Schwiegersohnes» teilte, meinte bedächtig: dahinter steckt was ganz Besonderes: Es sollte mich gar nicht wundern, wenn die auf Freiersfüßen ginge!
Schon früher hatte sie ihr geraten, doch einmal die Heiratsofferten in den Blättern durchzusehen, solche Ehen würden oft die glücklichsten, war dann aber sehr entrüstet, als Fräulein Nippe bissig fragte: Sie haben Ihren Mann wohl auch durch die Zeitung gekriegt? – Frau Bornemann und Fräulein Nippe waren sich durchaus nicht wohlgesinnt, ohne daß man recht wußte, wo der Grund lag. Gelegentlich sagte eine von der andern: Sie könnte sie nicht sehen.
Sollte sich Fräulein Nippe ihrem Vetter anvertrauen? Nein, sie mußte sich bis ans Ende allein durchringen! Und welches war dieses Ende?! Bisher hatte sie mit dem Gedanken an die Ehe mit Herrn Feihse nur gespielt, so wie ein Kind mit einer Kugel spielt, ja, ganz genau so war es! Sie malte sich dieses Bild weiter aus: Diese Kugel, anfangs leicht und durchsichtig, war unter ihren Händen gewachsen, hatte an Gewicht zugenommen, und während sie sie noch ahnungslos in die Luft warf, um sie wieder aufzufangen, lief sie Gefahr, unter ihrem zentnerschweren Gewicht zu Brei zermalmt zu werden! Oder diese Kugel war ein Feuerzeug, mit dem sie spielte, und unversehens stand sie selbst in Flammen! Oder war es vielleicht doch nur ein mildes, wärmendes, beglückendes Feuer, das diese Kugel – oder dieses Feuerzeug – auf sie niederregnen ließ?! War es ein befruchtender Tau oder war es ein reißender Gebirgsstrom, den es ausgoß, ein Strom, der sie erfassen würde, mit sich fortnahm in gefahrvolle unbekannte Gegenden, der sie an Felsgestein mit dem Kopf anrennen lassen würde, bis sie endlich als unkenntliche Leiche irgendwo ans Land geschwemmt wurde?
Fräulein Nippe hatte in den letzten Wochen mehrere Male auf eigene Faust in den Zeitungen inseriert, da sie ja Herrn Feihse eigentlich doch nicht heiraten wollte, aber kein Graf mit rabenschwarzem Haar, kein Künstler, der sie hätte anregen können, kein frisches junges Blut, dem sie auch so ans Herz gestürzt wäre; nichts, nichts von alledem fand sich in dem Netze vor, das sie – wie sie sich vor sich selbst ausdrückte – mit jenen Annoncen in die Welt geschleudert hatte. Ach Gott, das Leben war kaltherzig und grausam, heimtückisch und ungerecht! – Und Herr Feihse wartete! Die letzten Nächte hatte sie in ihrem Bett geweint, indem sie an ihr freudloses Leben dachte, daß es keinen Menschen gab, der ganz von selber an ihr Herz flog, dem sie alles hätte sein können: Freundin, Geliebte, Mutter. – Herr Feihse hatte durchblicken lassen, daß, wenn sie ihn nun nach ihrem wirklich intimen Seelenverkehr doch noch ausschlüge, dieses der schwerste Schlag sei, den das Leben ihm versetzen könne! Er wolle lieber auch noch das andere Bein brechen als das erleben! Der arme Mann! Das klang fast wie ein Selbstmordgedanke! Wie war er aufgeblüht unter ihrer liebevollen Pflege! Mehrere Male war er krank gewesen, zu Anfang, als sie ihn kennenlernte. Konnte sie nicht sein rettender Engel werden? Und wenn er immer kränker wurde, konnte sie sich nicht aufopfern, konnte sie ihn nicht pflegen, bis er tot war? – Sie sah ihn sterbend in seinem Bette liegen, sie selbst stand ihm zu Häupten, und seine schon halb erlöste Seele hielt sie in ihrem lichtweißen Kleide für einen wirklichen, echten Engel des Himmels! Und dann würde er voll Liebe aus dem Jenseits auf sie herabsehen! Sie wollte ja nicht, daß er stürbe, aber wenn er es doch tat, so stand im Hintergrunde ein ganz hübsches kleines Vermögen! Das war nicht schlecht von ihr gedacht, das war ganz selbstverständlich und natürlich. Und doch weinte sie wieder, wenn sie an dies alles dachte, und wußte nicht, was sie tun sollte.
Eine Annonce stand noch aus; sie hatte sie an jenem Abend, als sie Herrn Feihse zum letzten Male sah, noch rasch verfaßt und am nächsten Morgen auf die Redaktion getragen. Von dem Erfolge dieses Schrittes wollte sie ihr Schicksal abhängig machen. Und diese letzten Tage und Stunden waren schwer für sie. Zwei Bilder schaukelten in ihrer Seele, das Bild Herrn Feihses und das des idealen Mannes, den sie fast ganz deutlich vor sich sah: Wenn es ihn wirklich gab, so mußte er jetzt endlich erscheinen. – Aber er erschien nicht. Mit leeren Händen eilte sie von der Redaktion wieder ins Geschäft oder in die Wohnung. – So war der dritte Tag beinah verstrichen. Ein letztes Mal war sie auf der Redaktion. Sie war bereits geschlossen, sie rüttelte vergeblich an der Tür. Dann aber dachte sie: Wenn diese Tür sich mir verschließt, so weiß ich nun eine andere, die eine unsichtbare Hand mir weist, keine mit Farbe gemalte, wie diese herzlose Hand hier, die nur auf Bureautüren deutet, sondern die Hand des Schicksals selbst! – Vorher aber wollte sie noch einmal ins Leben untertauchen, ins wildeste Leben. Wie hatte sie gesagt: Wenn die Mitternacht des dritten Tages anbricht... Mit dem Schlage der Mitternacht würde sie Herrn Feihses Nachtglocke anläuten, und vorher wollte sie mit ihrem Vetter und mit Lotte in den Zirkus; die beiden hatten schon mittags davon gesprochen, ohne daran zu denken, sie selber aufzufordern. Da wollte sie Abschied nehmen von dem jubelnden reichen Leben!
Ich gehe heute abend mit euch! sagte sie, als mache sie den beiden ein großes Geschenk damit. – Aber Herr Könnecke schien nicht erfreut darüber. – Du darfst es uns doch nicht übelnehmen, sagte er, als sie allein waren, daß ich endlich einmal auch ein Vergnügen mit Lotte allein haben möchte. Überall bist du dabei, es ist ja fast gar nicht so, als ob wir verheiratet wären! – Ich springe aus dem Fenster! schrie Fräulein Nippe plötzlich, in der mit einem Male alle Bitterkeit, alle Wut gegen das herzlose Schicksal überkochte – und sie rannte durchs Zimmer und schwang sich wirklich auf die Fensterbank. – Komm da mal gleich wieder 'runter! sagte Herr Könnecke erschrocken. – Diesmal, rief sie, ist es mißlungen, aber das nächstemal wirst du mich nicht hindern. Rühre mich nicht an! fuhr sie heftig fort, wir haben keine körperliche Gemeinschaft! – Sie war wieder unten und überhäufte ihn mit Vorwürfen. Sie habe Lotte von der Gasse aufgelesen, und durch Lottes Schuld seien ihm nun die Nägel zu Geierskrallen gewachsen, die er einschlage in sie armes wehrloses Opfer. – Das verbitte ich mir! sagte er in bestimmtem Ton, du bist absolut nicht objektiv! – Schon wieder dieses herzloseste aller Worte, das die Gefühle auf eine Waage legt und gegeneinander abwägt! Bei lebendigem Leib wird man seziert, aufgeschnitten, daß Herz und Lunge und Eingeweide klopfen! – Also du kannst ja mitgehen, wenn du durchaus willst, sei doch nur endlich ruhig! – Nein, nun will ich nicht! rief sie heftig, das ist die rechte Art! Erst lechzt man nach einem Trank und kriegt ihn nicht, dann spuckt der andere hinein und sagt: nun trink! – ich danke bestens! – Jetzt ging die Tür auf, die alte Frau Bornemann zeigte sich auf der Schwelle, das Kindchen auf dem Arm, sah kurzsichtig von einem zum andern und sagte mit enttäuschter feiner Stimme: Es war mir vorhin so, als würde hier gesungen! Aber ich muß mich wohl geirrt haben. Ich höre Lieder für mein Leben gern, aber wie mein Mann selig in die Grube fuhr, wurde auch's Klavier verkauft. Gott, was waren das für schöne Zeiten! Aber wir wollen nicht klagen: Lotte ist glücklich verheiratet mit'm Kind, ich bin bei ihr geblieben, das Kind wächst und gedeiht zu seines Schöpfers Ehre, und ich zahl' meine Miete, wie sich's gebührt! Und ein Liedchen trällernd, wie es schon zur Zeit ihrer Altvordern gesungen wurde, zog sie auf ihren Filzpantoffeln mit dem Kinde wieder ab.
Es geht nicht, es geht nicht für die Dauer! dachte Herr Könnecke, und ahnte nicht, wie nahe die Wendung in Fräulein Nippes Geschick war.
Fräulein Nippe verließ das Haus: Nun würde sie sogleich zu Herrn Feihse gehen! Herr Könnecke und Lotte aber gingen nun auch nicht in den Zirkus da ihnen die Stimmung verdorben war.
Sie läutete an Herrn Feihses Wohnung, sie hörte seinen rhythmischen, erregten Gang, er öffnete, mit Tränen in den Augen stand sie vor ihm und sah ihn an mit verheißungsvollem Blick. Er tastete in sein Zimmer zurück, sie folgte ihm. – Tapferer Mann! sagte sie, Sie haben sich Ihr Glück erkämpft! Ich bin die Deine! Kannst du mir ein wenig gut sein? – Herr Feihse keuchte so, daß er sich setzen mußte; er ergriff ihre Hände, auch ihm rollten die Tränen über das Gesicht; dann wollte sie einen Satz vom Lebensglück sagen, in dem das Wort «basiert» vorkommen sollte. Aber sie brachte ihn nicht heraus; und überhaupt: Welcher Mensch denkt denn in Augenblicken, wo man den Pulsschlag des Lebens fühlt, an Fremdwörter?! Und dann sagte sie statt dessen, mit vor Rührung halb erstickter Stimme: Armer Mann! Du hast einmal in einem Moment der Bitterkeit gesagt, wenn du stürbest, so würde kein Hahn danach krähen; – du sollst dich getäuscht haben!
Herr Könnecke saß mit Lotte und Frau Bornemann beim Abendessen. Fräulein Nippe kam nicht; sie erschien erst, als alle gerade zu Bett gehen wollten. Herr Könnecke hielt es für angebracht, etwas darüber zu sagen, daß sie zuviel die Hausordnung verletze; sie hätten sich alle um sie geängstigt; sie möge doch ein wenig rücksichtsvoller sein!
Fräulein Nippe war gerade recht in der Stimmung, sich Vorwürfe machen zu lassen! – Ihr kaltherziges Philisterpack! rief sie, was wißt ihr denn überhaupt von dem, was in der Seele eures Nächsten vorgeht! Ahnst du denn, was mich die letzte Zeit bewegt hat? Hast du wohl soviel Interesse gehabt, darüber auch nur nachzudenken? Ihr alle habt keinen Funken von Interesse oder Intelligenz! Wollt ihr wissen, was es ist? Und dann legte sie ihr ganzes Triumphgefühl, die ganze Wucht ihres Schlages in die Worte: Verlobt habe ich mich! Ha, da können die Spießbürger die Mäuler aufsperren! Aber plötzlich wurde sie weich und sagte: der Geist der Liebe soll uns alle verbinden! umarmte einen nach dem andern und weinte wieder.