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8.
Luther und das Reich persönlicher Beziehungen im Gegensatz zu Bacon und dem modernen Staat


Im Gegensatz zu Bacon wird uns erst Luthers Lehre recht klar, dessen Ziel war, die unbewußte Kraft zu stärken zu einer Zeit, wo die Hemmung des Selbstbewußtseins drohte, den naiven, den mit Natur und Gott einigen Menschen auseinanderzusprengen. Luthers Weltanschauung beruhte auf dem Glauben an das Überwiegen der unwillkürlichen, nicht vom selbstbewußten Menschen ausgehenden, wenn auch natürlich ihn einschließenden, Kräfte. Er geht davon aus und betont immer wieder, daß die große Mehrzahl der Menschen, ob sie sich auch Christen nennen, Heiden sind, Menschen also, die ihren egoistischen Trieben folgen, daß Christen, nämlich freiwillig Sterbende, die zu leiden und sich zu opfern bereit sind, die Ausnahme bilden. Er betont, daß dies so ist und immer so sein wird. Jetzt freilich ist es Mode, zu behaupten, der Mensch sei gut; allein so kann nur Verlogenheit urteilen oder Unkenntnis, unterstützt dadurch, daß der Mensch sich nicht mehr freimütig äußert. Die moralischen Menschen, welche das Gesetz halten, ohne christliche Gesinnung zu haben, bekämpfte er unter dem Namen der Werkheiligen besonders; doch konnte er damals noch voraussetzen, daß die Mehrzahl der Menschen Heiden waren, die unbekümmert ihre egoistischen Triebe äußern. Damm sagt er, man brauche nicht zu fürchten, daß die Obrigkeit, wenn die Untertanen sich ihr nicht widersetzten, sondern ihre Übergriffe duldeten, immer grausamer würde in der Meinung, den Untertan ungestraft schinden zu können; denn Gott habe genug Mittel und Wege, die Obrigkeit zu strafen und etwa auch ganz aus dem Wege zu räumen. Erstens habe er Feuer, Wasser, Eisen, kurz, unzählige Weisen zu töten; er spricht also von den vielen Zufälligkeiten, die den mittelalterlichen Menschen aller Stände täglich bedrohten; ferner könne er ihn durch den aufrührerischen Untertan bestrafen und durch andere Fürsten und Herren, die ihn mit Krieg überzogen und besiegten. Luther meint also, daß die heidnischen Menschen, die Krieg und Aufruhr anfangen, was der christliche Prediger denen, die auf ihn hören, weil sie Christen werden möchten, verbietet und verbieten muß, von Gott gebraucht werden, um christliche Obrigkeiten zu bestrafen. Gelegentlich sagt er auch, daß die Kaufleute nicht Ursache hätten, sich zu beklagen, wenn sie von Edelleuten oder Straßenräubern angefallen, beraubt und wohl gar verwundet oder getötet würden, da sie ja ihr großes Gut auch nicht mit rechten Mitteln erworben hätten. »Nicht daß ich damit die Straßenräuber oder Strauchdiebe will entschuldigt oder Urlaub gegeben haben, ihre Räuberei zu treiben. Es ist der Landesfürsten Schuld, die ihre Straßen sollten rein haltenden Bösen ebensowohl zu gut als den Frommen. Und den Fürsten gebührt, solche unrechte Kaufhändel mit ordentlicher Gewalt zu strafen und zu wehren, daß ihre Untertanen nicht so schändlich von den Kaufleuten geschunden werden. Weil sie das nicht tun, so braucht Gott der Reiter und Räuber und straft durch sie das Unrecht an den Kaufleuten, und müssen seine Teufel sein; gleichwie er Ägyptenland und alle Welt mit Teufeln plagt oder mit Feinden verdirbt. Also stäupt er einen Buben mit dem andern, ohne daß er dadurch zu verstehen gibt, daß die Reiter geringere Räuber sind denn die Kaufleute, sintemal die Kaufleute täglich die ganze Welt rauben, wo ein Reiter im Jahre einmal oder zwei einen oder zwei beraubt.«

Demnach ist der naiv sich äußernde Machttrieb in die Wettentwickelung mit eingerechnet. Gerade der naiv sich äußernde Machttrieb ist der Teufel, der in seinem Anfang, wie die Kirchenväter lehrten, gut ist, Kraft, und als solche göttlich. War denn Luther so kindisch zu glauben, Gott schaffe und leite die Welt, indem er wie ein Mann hierhin und dorthin liefe und ein Rad oder eine Schraube drehte? In dem uns ewig unerforschlichen Zusammenwirken aller Kräfte offenbart er sich, deren wundervolles Gewebe wir mit unserm Verstande wohl auflösen, aber nicht begreifen, noch, wie wir uns einbilden, durch ein besseres ersetzen können. Den heidnischen Machttrieb aufzuwiegen, darf der christliche Opfertrieb nicht fehlen; aber der Opfertrieb hätte keinen Sinn, wenn der Machttrieb nicht da wäre, auf den er sich sozusagen stützt. Es ist selbstverständlich, daß ein Lehrer oder Prediger die Menschen nicht anfeuern kann, unrecht zu tun; aber er wird, wie Christus tat, die übertünchten Gräber hassen und bekämpfen, die ihre natürlichen egoistischen Triebe nicht äußern, um gerecht zu scheinen. Zur Zeit des unglücklichen Nietzsche war die mit Bacon beginnende Verkehrung schon so befestigt, daß er gradezu das Heidentum predigen zu müssen glaubte, womit doch der Zweck niemals erreicht werden kann; erstens weil wer bewußt natürliche Triebe äußert, schon keine natürlichen Triebe mehr äußert, zweitens weil innerhalb der modernen Gesellschaft natürlicher Machttrieb von Einzelnen gar nicht mehr geäußert werden kann, und ehe dies geschehen könnte, die ganze Gesellschaft umgeworfen und umgewandelt werden müßte.

Luther lebte und dachte noch durchaus in dem mittelalterlichen Reich persönlicher Beziehungen, wonach jeder in doppelter Beziehung steht, nämlich nach oben, zu einem höheren Herrn, dem er unterworfen und dem gegenüber er ein Einzelner ist, und nach unten, in welcher Beziehung er ein mehr oder weniger Ganzer ist, mehrere vertretend. In dieser Pyramide ist der Kaiser der Höchste, der als Einzelner unmittelbar vor Gott steht und von ihm Impulse empfängt, und der nach unten alle, das ganze Reich, vertritt.

Von oben strömt die schaffende Kraft ein und ergießt sich, mächtig und unerschöpflich, durch alle Glieder, sofern sie sie willig auffangen.

Indessen war dieser herrliche Bau schon unterwühlt und wurde gerade zur Zeit von Luthers Jugend grundsätzlich umgewandelt durch die Reichsreform unter dem fabelhaften Maximilian, der noch einmal Kaiser nach alter Weise sein wollte, aber in einer Zeit, wo Menschen und Zustände dem nicht mehr entsprachen, nur das Vorbild eines Don Quijote werden konnte. Wie in der Wissenschaft Bacon die Natur vom Individuum abzog, so wurden durch die Reichsreform die öffentlichen Funktionen von den Privatpersonen abgeleitet, womit aus dem Reich ein unpersönlicher Staat wurde.

Wesentlich war dabei die Abschaffung des altgermanischen Fehderechtes, wonach der Freie sich oder anderen sein Recht, wenn es ihnen sonst nicht gewährt wurde, selbst schaffen durfte, indem er es sich erkämpfte.

Goethe hat in seinem Jugenddrama »Götz« mit genialem Griff diese staatliche Umwandlung als den tragischen Punkt des germanischen Reichs herausgegriffen und wunderbar die schwermütig-wirre Gestalt des letzten Kaisers und die des letzten christlichen Ritters im Lutherschen Sinne als Mahnung hingestellt. Auf den Ritter, eigentlich den Helden oder Heiland, ist die Idee der germanischen Welt gegründet, auf den Tapferen, der, vor Gott ein Einzelner, unmittelbar von Gott Aufträge empfängt, Ideen, die in Kraft treten sollen. In seinen Auseinandersetzungen über Obrigkeit und Untertan, Krieg und Frieden, Recht und Unrecht betont Luther, daß es zwar nicht erlaubt sei, sich selbst zu rächen, wohl aber dürfe jeder Christ für einen anderen das Schwert führen, ja er nimmt Simson als Beispiel, daß einer, der von Gott dazu berufen sei, es auch in eigener Sache brauchen könne. Ein solcher müsse aber voll Geistes und ein rechter Christ sein, die Vernunft würde stets nur vorgeben, es geschehe nicht aus Selbstsucht, und doch aus Selbstsucht handeln, wenn nicht die Gnade dabei sei. Hier sieht man deutlich, daß Luther das Wort Vernunft im Sinne von bewußt handeln, dem Verstande gemäß handeln, gebraucht; das Wort Gnade oder Geist dagegen für ein Handeln aus dem Unbewußten, nach übermächtigen Impulsen, denen der Verstand vielmehr entgegen ist, die ihn aber überwältigen. Der besondere Auftrag von Gott hebt jede Regel auf; er ist auf das Gewissen des Einzelnen gelegt, hängt von seiner Beziehung zu Gott ab. Wenn die Oberen, welche die gesetzmäßigen Vertreter der Schwachen und Unterdrückten sind, ihres Amtes nichtwalten, so erweckt ihnen Gott Helden oder Heilande, um sie zu retten: er tut dies aber nur in einer Welt, wo die Hemmung des Selbstbewußtseins noch nicht das Übergewicht über die unbewußten Kräfte erlangt hat.

Luther war durchaus nicht unser Führer in unsere, die moderne Zivilisation; er war auch nicht reaktionär und nicht konservativ, sondern er wollte zu den Quellen des Lebens zurückführen. Macchiavelli hat einmal bemerkt, von Zeit zu Zeit müsse jedes Volk zu seinen Anfängen zurückgeführt werden, weil es im Laufe seiner Entwickelung erstarre. »Es ist eine unbestreitbare Tatsache, daß alle Dinge dieser Welt ein Ende ihres Lebens haben. Aber sie nehmen den Verlauf, der ihnen vom Himmel im allgemeinen geordnet ist, wenn sie ihren Körper nicht in Unordnung geraten lassen, sondern ihn in Ordnung erhalten, sei es daß er sich nicht verändere, oder, wenn er sich verändert, es zu seinem Heil und nicht zu seinem Schaden tue. Und da ich von gemischten Körpern spreche, von Staaten und Sekten nämlich, so sage ich, daß diejenigen Veränderungen heilsam sind, welche die Körper zu ihren Anfängen zurückführen. Deswegen sind die am besten geordnet und haben das längste Leben, welche (mittels ihrer Gesetze) sich häufig erneuern können, oder aber, die durch Ereignisse außerhalb besagter Ordnung zu besagter Erneuerung gelangen. Und so ist es klarer als das Licht, daß die Körper, wenn sie sich nicht erneuern, nicht dauern. Die Art sich zu erneuern ist, wie ich schon gesagt habe, sie zu ihren Anfängen zurückzuführen. Denn alle Anfänge der Sekten und Gemeinwesen und Reiche haben etwas Gutes in sich, mittels dessen sie ihren ersten Ruf und ihre erste Kraft wieder aufnehmen können. Und weil im Laufe der Zeit dies Gute verdirbt, muß der Körper notwendigerweise zugrunde gehen, wenn nicht etwas kommt, was ihn zum Anfang zurückführt. So sagen auch die Doktoren der Medizin in bezug auf den menschlichen Körper: was täglich wächst, bedarf irgendwann einmal der Heilung. Die Zurückführung zu den Anfängen nun in bezug auf Gemeinwesen kann entweder durch Ereignisse von außen oder durch Klugheit im Innern sich vollziehen. Den ersten Fall betreffend sieht man, wie notwendig es war, daß Rom von den Franzosen eingenommen wurde, damit es wiedergeboren würde und durch die Wiedergeburt neues Leben und neue Kraft bekäme und die Ehrfurcht vor der Religion und der Gerechtigkeit wiedergewänne, welche zu schwinden begannen. »Es ist also notwendig, daß Menschen, welche in irgendeiner Ordnung zusammen leben, sich entweder durch äußere oder durch innere Ereignisse erneuern. Und im letzteren Falle muß es entweder durch Verordnungen geschehen, welche den Menschen häufig ihr Tun nachrechnen, oder durch einen guten Menschen, der unter ihnen ersteht, der durch sein Beispiel und große Taten dieselbe Wirkung hervorbringt wie das Gesetz … Was die Sekten anbetrifft, sieht man, wie notwendig die Erneuerung ist am Beispiel unserer Religion, welche, wenn der heilige Franz und der heilige Dominikus sie nicht zu den Anfängen zurückgeführt hätten, ganz erloschen wäre …

»Nichts ist notwendiger, als daß gute Gesetze da seien oder daß gute Menschen dieselbe Wirkung hervorbringen, damit es nicht durch äußere Macht geschehen muß. Denn wenn dies auch manchmal ein vorzügliches Heilmittel ist, wie im Falle Roms, ist es doch so gefährlich, daß man es durchaus nicht wünschen kann.«

Damit vergleiche man die Behauptung des Athanasius, daß Christus gekommen sei, um alles auf den Anfang zurückzuführen. Auch Luther hat für diejenigen, die ihm anhingen, eine Verjüngung bewirkt; aber das Rad der Zeit aufhalten, welches sich in der Richtung der Gottesferne bewegte, konnte er nicht. Zwingli und Calvin waren viel aktueller als er; aber zur Ewigkeit seiner Wahrheit führt aus jeder Zeit der Weg. Die Geldwirtschaft, die damals ihren Siegeslauf begann und der Neuzeit das Gepräge gegeben hat, bekämpfte er standhaft, ohne sich durch Scheingründe des Verstandes erschüttern zu lassen. Man hat oft gemeint, Luther sei eben ein Theologe gewesen, habe von Volkswirtschaft nichts verstanden, den herrlichen Geist der neuen Zeit nicht begriffen. Die Wahrheit ist, daß er vorauswußte, zu welchem Zusammenbruch der Kapitalismus führen müsse, daß er ihn mit dem Urteil des gesunden Menschenverstandes, welcher doch zuletzt recht behält, verdammte. Wenn es nach ihm gegangen wäre, so wäre Deutschland ein wesentlich ackerbautreibendes Land geblieben, Handel und Industrie im großen Maßstabe, wie sie damals betrieben zu werden anfingen; lehnte er ab. Durch nichts ließ er sich in dem Grundsatz irremachen, daß das Geld von Natur unfruchtbar sei und sich nicht mehre; wenn es sich aber doch mehre, so sei es Wucher, der durchaus unerlaubt sei. Dies ist nicht ein bloßer moralischer oder kirchlicher Grundsatz, wie wohl angenommen wird; sondern Luther wollte, daß Arbeit und Gewinn einander entsprächen, daß nicht einer hinter dem Ofen sitzen und faulenzen könne, während sein Geld für ihn wachse, weil das den Leuten »ein weibisches, kindisches und knechtisches Herz schaffe«. Wie recht er damit geweissagt hat, daran zweifelt man wohl täglich weniger. Die Geldwirtschaft ist eine Abstraktion von Natur und Leben wie die Wissenschaft; auch die Erfindung der Buchdruckerkunst trug dazu bei, der alternden Menschheit ein einseitig intellektuelles Leben neben dem handelnden Leben zu ermöglichen.

Trotz seiner prophetischen Einsicht wollte Luther keine Zwangsmittel angewendet wissen, um die Ideen seiner Zeitgenossen zu unterdrücken und den seinigen Geltung zu verschaffen. Er wußte, daß nicht eine Umwandlung von Einrichtungen, sondern nur eine Umwandlung der Gesinnung retten kann, daß es auf Entfesselung von Kraft ankommt, und das ist Freiwilligkeit, die, wie wir uns ausdrücken, aus dem Unbewußten strömt. Dadurch unterscheidet sich der Christ oder Idealist von dem Ideologen, Dogmatiker oder Fanatiker.

Etwa ein Menschenalter nach Luther lebte neben Bacon auch Shakespeare, in dem die von Luther entfesselte Woge des Christentums Wort wurde, wie sie Bild wurde in Rubens und Rembrandt, Ton in Bach und Händel. Was ist es denn, was uns in Shakespeares Werken so süß durchdringt und so tief erschüttert? Es ist die Fülle heroischer Persönlichkeit, die sich Gott selbst, dem Kern des Ganzen, in den Weg stellt, mit ihm ringt, qualvoll unterliegt und glorreich unter die Sterne verseht, himmlisch auf die Erde strahlt, wo die Klage tönt und allmählich in Harmonien sich auflöst. Wir erleben mit zerrissenem Herzen die unentrinnbare, vernichtende Schuld des Edlen und fühlen unseren und seinen Jammer aufgehoben und eingeschmolzen in den azurnen Mantel der allmächtigen Gottheit, die hoch über uns von Ewigkeit zu Ewigkeit dahinrollt. Wir erkennen das unzertrennliche Verschlungensein von Ein und All, von Kampf und Glorie, von Untergang und Auferstehen: das ist Luthertum oder Christentum, denn Luthertum ist ja die Erneuerung des Christentums. Persönliche Freiheit, nicht Straffreiheit, sondern Verantwortlichkeit und Schaffenskraft, das ist, in zwei Worte gefaßt, das Wesen des Christentums, in welches die Antike einmündete; der Glaube an den schaffenden, persönlichen Gott, der die Kruste des unpersönlichen, in Gesetzlichkeit und Zahlendespotie erstarrten Lebens mit millionenfach er Blütenpracht durchflammt. Aus dem öde gewordenen mittelalterlichen Römischen Reich schuf Luthers Tat ein neues protestantisches Reich, dessen Herz Deutschland, dessen Kopf und Hand England und Holland, die Meerländer, wurden. Hat auch Shakespeare nicht die Taten Luthers, Gustav Adolfs, Wallensteins, Wilhelms von Oranien und vieler anderer mit Namen genannt oder deutlich verkündet, so braust doch die Leidenschaft des Reformationsjahrhunderts durch seine Wunderwelt, nur halb verstanden und doch sehnsüchtig, ja neidisch bewundert von den schwächeren Geschlechtern, die, nachdem der Genius seinen Zauberstab ins Meer versenkt hatte, sich dem Metermaß seines Zeitgenossen Bacon unterwarfen.


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