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18.
Allmähliche Verschlechterung der Zeit durch Entpersönlichung


O saeculum ignavum! O feiges Jahrhundert! klagte schon der heroische Gustav Adolf, und anderthalb Jahrhunderte später verwünschte Schiller sein tintenklecksendes Säkulum. In Schillers Dramen, in Goethes Götz, Egmont und Werther brach der eingeengte Tatendrang als mächtiger Strahl hervor. Nachtwandelnd kühn entwarf Goethe das Bild des volkstümlichen Mannes, der noch einmal das Recht der Selbstwehr vertrat gegenüber jenem merkwürdigen Kaiser, der, selbst noch dem freien Rittertum ergeben, wider sein eigenes Herz die Epoche der persönlichen Kämpfe beschließen mußte.

Nachdem die Zeit der großen Wahlkaiser abgelaufen war und die Habsburger wie die Reichsfürsten sich erblich machten, ruhte die Gottesherrschaft auf einigen genialen Fürsten, die hie und da auftauchten, und auf den großen Kanzlern, deren das Reich drei hatte: Luther, Goethe und Bismarck. Anders wäre das Schicksal Deutschlands geworden, hätte Friedrich der Weise von Sachsen die Schwungkraft gehabt, eine neue Kaiserdynastie zu gründen; aber die überwiegende Schwäche des alternden Reichs zog allseitig zum erblichen System. So führte Luthers Wirksamkeit die allgemeine Auflösung herbei, zugleich aber auch den Aufgang eines neuen Reiches; wie denn jeder große Führer mit einem Doppelantlitz zugleich dem Tode und dem Leben zugewendet ist. Merkwürdigerweise beklagt man immer die Unterbrechung, die Deutschlands Kultur durch den Dreißigjährigen Krieg erlitten habe. Ja, ein Untergang war es, aber ohne diesen wäre der herrliche Aufschwung des achtzehnten Jahrhunderts nicht möglich gewesen. Als den ersten Nachfolger Luthers kann man Gustav Adolf bezeichnen, als seinen letzten Goethe, der freilich nicht mehr in Taten, nur in Worten den schönen Tempel seines Reichs erbauen konnte.

Lavater sagte von Goethe, er wäre »ein herrliches, handelndes Wesen bei einem Fürsten … Er könnte König sein.« So wie Goethe selbst an Napoleon und Blücher die Beobachtung gemacht hat, daß sie redeten und schrieben, wenn sie nicht handeln konnten, so hätten Goethe wie auch Schiller Taten getan, wenn sie dazu berufen gewesen waren, und handelten nun in ihren Werken, da sie es im Leben nicht konnten. Eine Zeitlang versuchte Goethe durch Karl August zu regieren, und heftige Kämpfe müssen sein Inneres erschüttert haben, bis er zu der Erkenntnis kam: »Wer sich mit der Administration abgibt, ohne regierender Herr zu sein, der muß entweder ein Philister oder ein Schelm oder ein Narr sein.« Eine Erkenntnis, die er ergänzte durch die Worte: »Nur mit dem Säbel in der Faust, an der Spitze einer Armee kann man befehlen und Gesetze geben.« Es hat einen tiefen Sinn, daß Goethe seinen großen Zeitgenossen Napoleon so warm, so brüderlich verehrte; die Reihe zu wachsen war damals nicht am Reiche, und es konnte damals nur durch Dichter-Heroen vertreten werden.

Allerdings äußerte sich diese Notwendigkeit auch in Goethes Charakter und seiner vom Vater ererbten, krankhaften Verschlossenheit, deren er so oft selbst Erwähnung tut, und durch die er so viele Menschen abstieß. Er hätte vielleicht mehr Gewalt über Karl August bekommen können, wenn er sich dafür eingesetzt hätte; aber nach einer einmaligen Ablehnung zog er sich zurück und richtete eine Mauer der Förmlichkeit zwischen sich und dem Hofe auf, was dem Fürsten offenbar eher unlieb als lieb war. Von da an suchte er durch Ideen sein Volk und weiterhin die Welt zu beherrschen und gelangte schließlich zu der bitteren Einsicht, daß es niemandem um die Wahrheit zu tun ist. Etwa um das fünfzigste Jahr herum erreichte die selbsterhaltende Kraft in Goethe ihren Höhepunkt und hemmte ihn. Es ist die Zeit, wo sich auch in seinem Äußeren ein bürgerlich-beschränkter Sinn ausprägt, wo der Strom seiner Dichtung stockt, wo eine gewisse Behaglichkeit, Trägheit und Schwere ihn niederdrücken. Allein er gehörte zu denen, die nach seinem eigenen Ausdruck eine wiederholte Pubertät erleben, die, wie es in der Bibel heißt, wieder jung werden wie Adler. Je älter er wird, desto stürmischer rüttelt der dionysische Geist an seiner Seele, der schon erstarrenden, und wir sehen auf den Bildern des Greises die entfesselte Jugendflamme aus den drohenden Augen lodern.

Bei Gelegenheit des Umstandes, daß Madame Rolland auf dem Blutgerüst ein Schreibzeug verlangte, um die ganz besonderen Gedanken aufzuzeichnen, die ihr vorschwebten, machte Goethe die einzig schöne Betrachtung: »Schade, daß man ihr's versagte. Denn am Ende des Lebens gehen dem gefaßten Geiste Gedanken auf, bisher undenkbare; sie sind wie selige Dämonen, die sich auf den Gipfeln der Vergangenheit glänzend niederlassen.« So klingt nun auch bei ihm, was in seiner Jugend in Dichtungen Fleisch und Gestalt ward, in geheimnisvoll durchleuchteten Sprüchen von seinen weissagenden Lippen.

Immer wieder trifft seine Anklage die schlechte Zeit, die nichts Großes leidet, weswegen auch die Kunst nichts Großes hervorbringen kann. Bewundert man die Tragödie der alten Griechen, so sagt er, man solle vielmehr die Zeit und das Volk bewundern, wo sie möglich war. Er bedauert Lessing, daß er in einer so erbärmlichen Zeit leben mußte, die ihm keine besseren Stoffe gab, als in seinen Stücken verarbeitet sind! Und daß er immerfort polemisch wirkte und wirken mußte, habe an der Schlechtigkeit seiner Zeit gelegen. Er spricht von dem Männlichen früherer Jahrhunderte, das uns fehle, und ist sich durchaus bewußt, daß er in einer dekadenten Zeit lebt. »Die jetzige Generation fürchtet sich vor der Kraft, und nur bei der Schwäche ist ihr gemütlich und poetisch zu Sinne.« Glücklicher war Shakespeare; aber wie »zahm und schwach ist seit den lumpigen paar hundert Jahren nicht das Leben selber geworden! Wo kommt uns noch originelle Natur unverhüllt entgegen! Und wo hat einer die Kraft wahr zu sein und sich zu zeigen, wie er ist!«

Nicht ohne Empfindlichkeit weist er darum das allgemeine Urteil zurück, das ihn einen Freund des Bestehenden nennt. »Gott war mit Christus und Luther, und beide waren nicht Freunde des Bestehenden, sondern überzeugt, daß der alte Sauerteig ausgekehrt werden müsse.« Heißt er sich selbst anderwärts Freund des Bestehenden, so mag das einerseits ein durch verschiedene Lebensepochen bedingter Widerspruch sein; andrerseits erklärt er sich daraus, daß er die Zerstörung begrüßte, die die Hand eines Berufenen, wie etwa Napoleons, herbeiführte, nicht die Selbstzerstörung verworrener, verwilderter Menschen.

»Es geht uns alten Europäern übrigens mehr oder weniger allen herzlich schlecht; unsere Zustände sind viel zu künstlich und kompliziert, unsere Nahrung und Lebensweise ist ohne die rechte Natur und unser geselliger Verkehr ohne eigentliche Liebe und Wohlwollen. Jedermann ist fein und höflich, aber niemand hat den Mut, gemütlich und wahr zu sein, so daß ein redlicher Mensch mit natürlicher Neigung und Gesinnung einen recht bösen Stand hat. Man sollte oft wünschen, auf einer der Südseeinseln als sogenannter Wilder geboren zu sein, um nur einmal das menschliche Dasein ohne falschen Beigeschmack, durchaus rein zu genießen.«

»Denkt man sich bei deprimierter Stimmung recht tief in das Elend unserer Zeit hinein, so kommt es einem oft vor, als wäre die Welt nach und nach zum Jüngsten Tage reif. Und das Übel häuft sich von Generation zu Generation. Denn nicht genug, daß wir an den Sünden unserer Väter zu leiden haben, sondern wir überliefern auch diese geerbten Gebrechen, mit unseren eigenen vermehrt, unseren Nachkommen.«

So prophezeite Christus vor seinem Tode Untergang der Menschheit und Auferstehen, so träumte Luther vom Ende der Welt und Wiederbringung, und auch an Machiavellis Urteil müssen wir denken, daß alles Irdische von Zeit zu Zeit zur Verjüngung wieder zu den Anfängen müsse zurückgeführt werden.

Die Einsicht in die Notwendigkeit der Zerstörung und Verjüngung ist zunächst ganz persönlich im Zustande des Alternden, vielmehr des Sterbenden, begründet, der eben deshalb stirbt, weil seine produktive Tätigkeit auf Erden vollendet ist, und der deshalb seine Verwandlung will. Er werde finden, sagte Goethe zu Eckermann, daß im mittleren Leben des Menschen häufig eine Wendung eintrete, in der Art, daß, wie ihn in seiner Jugend alles begünstigt habe, nun ein Unfall sich auf den andern häufe. »Wissen Sie aber, wie ich es mir denke? Der Mensch muß wieder ruiniert werden!« Wundervoll spricht sich da der außergewöhnlich starke Selbsterhaltungstrieb Goethes aus, den er selbst zu durchbrechen im Begriff war, man fühlt es den Worten an mit welcher Anstrengung.

Jeder Mensch stellt in sich die Welt dar und ist doch zugleich ein Einzelner; er erlebt also an seinem eigenen Schicksal das Schicksal der Welt und fühlt vollkommen der Wirklichkeit entsprechend, wenn er das, was ihn angeht, auf die Welt bezieht, ganz besonders dann, wenn es sich um einen Menschen handelt, der viele, ja der ein ganzes Volk vertritt. Nur ein Sterbender wird seinem Volke weissagen können, daß es sterben muß, und er wird eben zu einer Zeit erscheinen, wo es auf einem Punkte angekommen ist, der ihm nicht mehr ermöglicht, sich noch produktiv zu äußern, bevor es nicht gestorben und wieder auferstanden, verwandelt ist. Zuweilen täuschen geringere Verwandlungen, wie zum Beispiel die Gründung des neudeutschen Kaiserreichs, einen Aufstieg vor, der aber in Wirklichkeit nur ein Schritt der Erhaltung ist und den Zusammenbruch hinausschiebt, um ihn desto vernichtender zu machen. Im neudeutschen Kaiserreich, um bei diesem Beispiel zu bleiben, war nicht das ganze Volk vertreten: Katholiken und Sozialisten standen außerhalb. Dementsprechend war auch Bismarck nicht, von den Hohenzollern ganz zu schweigen, Vertreter eines ganzen Volkes; man spürt das so recht, wenn man sich vorstellt, was freilich ein Unding ist, daß er und Lassalle eine einzige Person gewesen wären.

Kann man es dem Sozialismus als eine Schuld anrechnen, daß er außerhalb des neuen Reiches stehen blieb? Nein, durchaus nicht; der Sozialismus war eine notwendige Erscheinung im Regnum hominis, welches, vom Bewußtsein ausgehend, in der Absonderung der Menschen voneinander das Maß überschritt, welches das äußerste ist, das noch einen Zusammenhang ermöglicht. Noch im siebzehnten Jahrhundert waren die Verhältnisse so, daß die Standesunterschiede, so stark sie auch betont wurden, in der allgemeinen Lebensführung und Lebensanschauung entfernt so bitter nicht empfunden wurden wie jetzt. Erst nachdem die Kräfte der abendländischen Menschheit bewußt auf Vermehrung der Bequemlichkeit und des Genusses gerichtet wurden, haben Wissenschaft und Technik die Möglichkeit materiellen Genießens, anstrengungs- und schmerzensfreien Lebens ins Ungeheure vermehrt, und hat die Geldwirtschaft es dahin gebracht, daß diese Möglichkeit nur für den geldmächtigen Teil der Bevölkerung zu verwirklichen ist; seitdem erst hat die wissenschaftliche Erziehung einen Abgrund gerissen zwischen dem Teil der Bevölkerung, der sie sich verschaffen kann, und dem Teil, der auf den gesunden Menschenverstand angewiesen blieb.

Es ist ein hartes Gesetz des Lebens, daß der stehenbleibende Teil eines Organismus, wäre er auch an sich lebensfähig, die Tugenden und Kräfte nicht behält, die der ganze Organismus hatte, bevor ein Teil desselben sich loslöste und in anderer Richtung weiterentwickelte. Das ungelehrte Volk von heute ist nicht mehr dem jungen Volk des Mittelalters zu vergleichen, welches als ganzes noch naiv und produktiv war, wenn es auch die wissenschaftliche Entwickelung nicht mitgemacht hat. Dies fühlend, versucht der Arbeiterstand sie nachzuholen, ohne von den Vorläufern anerkannt zu werden, während der Bauernstand und etwa eine kleine Schicht von Handwerkern entschieden auf ihrem Standpunkte verharren. So stehen sich der auf der Wissenschaft fußende Teil der Bevölkerung und der auf den gesunden Menschenverstand angewiesene verständnislos, ja feindlich gegenüber, und zwar so, daß die Wissenschaft zwar unrecht hat, der gesunde Menschenverstand aber doch nicht recht behalten kann.

Es haben sich immer Reiche und Arme gegenübergestanden und werden es immer tun; der Unterschied dürfte aber nicht so aufs Äußerste getrieben sein, daß die Armen, welche naturgemäß die anstrengendste Arbeit zu leisten haben, die körperlich Schwachen und Elenden sind. Sowie im allgemeinen die Besitzenden gut ernährt und kräftig entwickelt, die Arbeitenden schlecht ernährt und schwächlich sind, und dies ist mehr oder weniger bei uns der Fall, steht das Gemeinwesen auf tönernen Füßen und muß zusammenbrechen. So war jedenfalls die Zusammensetzung des jüdischen Volkes, als Christus erschien: einem verelendeten Volkestand eine üppige Oberschicht gegenüber. Ähnlich ist es leider bei uns; vergebens berufen sich die Reichen auf Zeugnisse der Vergangenheit und Gegenwart, die zu ihren Gunsten zu sprechen scheinen: sobald der Reichtum auf Kosten der Kraft und Gesundheit des Volkes besteht, hat er unrecht, weil sein Bestehen unmöglich wird.

Unversöhnlich ist das Volk gespalten durch Geldwirtschaft und Wissenschaft, zwei auf dem gleichen Baume gewachsene Früchte; denn die Geldwirtschaft verhält sich zur Naturalwirtschaft genau so wie der Begriff zur Idee. Geld und Begriffe können ins Unendliche vermehrt werden, ohne daß sie in Kraft treten. Derjenige Teil der Bevölkerung, welcher das Geld hat, bildet sich ein, nach Idealen zu streben, wenn er sich für Kunst, Literatur und Wissenschaft und etwa gar für die soziale Frage interessiert, und hält den nichtbesitzenden Teil für materiell, welcher noch nach dem Gelde strebt, das er, der Besitzende, schon hat und erhalten will. Er verachtet und haßt diese Nichtbesitzenden, welche sich zu ihm drängen oder ihn verdrängen wollen, während sein Glück davon abhängt, daß es Nichtbesitzende gibt, die für ihn arbeiten. Damit daß die bisher Genießenden arbeiteten und die bisher Arbeitenden genössen, würde zwar für den Augenblick das Gerechtigkeitsgefühl befriedigt, auf die Dauer aber nichts gewonnen sein. Das rechte Maß zwischen den einzelnen Schichten des Volkes müßte wieder gefunden werden; der Verstand wird dazu aber nie imstande sein. Nur vom Unbewußten ausgehend, nicht mit Ausschluß des Verstandes, sondern ihn einschließend, regelt sich der Organismus so, daß er leben und gedeihen kann. Der moderne Staat ist aber kein gewachsener Organismus, sondern eine zusammengesetzte Maschine.


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