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32.
Goethes Gottesverehrung auf verschiedenen Stufen des Lebens


»Es gibt nur zwei wahre Religionen: die eine, die das Heilige, das in und um uns wohnt, ganz formlos, die andere, die es in der schönsten Form anerkennt und anbetet. Alles, was dazwischen liegt, ist Götzendienst.« Die formlose Gottesverehrung finden wir in höchster Vollendung bei den Israeliten, die zweite, welche das Göttliche in schönster Form anbetet, bei den Griechen. Im Zusammenhang damit finden wir, daß die Juden für das höchste Ziel menschlicher Entwickelung das Sittlich-Große ansahen, daß ihr Gott die Ewige-Zeit, der Ewig-Künftige war, während die Griechen die Vollendung wesentlich im Schönen und Starken suchten und eine besondere Begabung für die bildende Kunst hatten, die den Israeliten durchaus fehlte. Die griechische Art der Gottesverehrung ging auf die Italiener über, welche als Nachfolger der Römer von Haus aus nicht religiös waren, die jüdische auf die Germanen, deren Gottesanschauung gleichfalls vorwiegend formlos-sittlich gerichtet war. Wie nun die Germanen in das römische Gebiet eindrangen und sich teilweise mit der römischen Bevölkerung vermischten, so war das mittelalterliche Christentum eine Mischung aus beiden Arten der Gottesverehrung, so jedoch, daß das Sittlich-Poetische bei den überwiegend germanischen Völkern vorherrschte, das Formale, Bildnerisch-Äußerliche bei den romanischen. Indessen hat Goethe im obigen Ausspruch eine dritte Art der Gottesverehrung zu nennen vergessen, welche weder den Juden noch den Griechen und ihm selbst fehlte, nämlich den Heroenkult, welcher in der Verehrung des Heilandes oder Helden der Menschheit mündet. Wenn in der griechischen Art des Gottesdienstes der in der Natur gestaltende Gott verehrt wird, in der jüdischen der frei wehende Heilige Geist, so tritt zu beiden ergänzend die Verehrung des Sohnes, des Vertreters der Menschheit, in welcher Natur und Geist eins werden. Wir sehen, wie das Christentum die beiden Hauptformen menschlicher Weltanschauung in der Erkenntnis des dreieinigen Gottes, innerhalb dessen die Persönlichkeit ein Moment ist, zusammenfaßte. Der modernen Weltanschauung gegenüber ist das entscheidende Merkmal der antik-mittelalterlichen das Gefühl und Bewußtsein der Abhängigkeit von einem höheren göttlichen Willen, dem man doch wieder als ein selbstbewußtes, eigenwilliges Einzelwesen gegenübersteht. Ich habe mehrere Beispiele angeführt, wie lebhaft Goethe diese Abhängigkeit des Menschen anerkennt; viele wundervolle, zur Genüge bekannte Stellen aus seinen Dichtungen zeigen, daß das Bewußtsein davon einem tieflebendigen Gefühl der Ehrfurcht, der Dankbarkeit, der kindlichen Hingabe entsprang. Dieses unmittelbare Glauben flammt in dem Jüngling und wird im Greis ein Schauen: der alternde Goethe sucht das Göttliche, das er fühlt, das in ihm wirkt, seiner und unserer Anschauung nahe zu bringen. Was er im dunklen Spiegelwort der Dichtung uns vorführte, zeigt er uns nun von Angesicht zu Angesicht. Indessen noch bei dem Greise spüren wir oft den naiven Zusammenhang, wenn er zum Beispiel den Begriff der Prädestination bestimmt:

»Frage: Was ist Prädestination?

Antwort: Gott ist mächtiger und weiser als wir; darum macht er es mit uns nach seinem Gefallen.«

Die streitenden Behauptungen, Goethe sei Pantheist, er sei Heide, er sei Atheist gewesen, erklären sich, abgesehen von den Mißverständnissen, die mit diesen Namen verknüpft sind, daraus, daß, wie er selbst gesagt hat, jeder Stufe unseres Daseins eine besondere Weltanschauung entspricht, und daraus, daß der dreieinige Gott sowohl unpersönlich wie persönlich ist. Wir können nicht wahrhaft, von innen heraus Monotheisten sein, bevor wir nicht die innere Einheit, das volle Selbstbewußtsein erreicht haben; denn Gott offenbart sich in uns, und erst an der auf einen Punkt gedrängten, von einem Punkt entspringenden Gesamtheit der Kräfte, die wir als persönliche Willenskraft erleben, erkennen wir den persönlichen Gott. Der Monotheist wiederum muß das dreieinige Wesen der Gottheit in sich erleben, nämlich die Auflösung der eigenen Einheit um des Künftigen willen, da er sonst in der Selbstbeziehung erstarren würde. Wer durch das Selbstbewußtsein zum ganzen Menschen geworden ist, kann nicht umhin, seine Dauer und Selbsterhaltung zu wünschen und zu betreiben. Diese liegt aber nicht in Gottes Willen, sondern der Mensch muß, wie Goethe sagt, wieder ruiniert werden, wenn er sich nicht freiwillig auflöst. Wir durchlaufen verschiedene Bewußtseinszustände, vom Unbewußten zum Selbstbewußtsein, zu einem erhöhten Unbewußten oder zum Überbewußten, und diesen Stufen entspricht ein verschiedenes Verhältnis zur Gottheit, sie sind selbst eine verschiedene Beziehung zwischen dem All und Einem. Der jugendliche Geist lebt in Anschauung und Erfahrung, er hat die Tat vor sich; der alternde löst die von ihm selbst geschaffene Form wieder auf, wie wir es so wunderbar an den letzten Kompositionen Beethovens erleben. Der göttliche Geist ist nicht nur schaffend, sondern auch verwandelnd. Der Alternde als Erstarrender lebt im abstrakten Denken, er bildet Begriffe, die nicht in Kraft treten; es ist der wissenschaftliche Geist.

Atheist in dem Sinne, als habe er einen höheren Willen über sich geleugnet, ist Goethe niemals gewesen, und niemand, der seine Werke oder auch nur ein einziges derselben kennt, wird das ernstlich verfechten können. Scheint es nun auch hier wieder, als sei der Mensch an ein Schema gebunden, das er abzuleben habe, so möge man abermals bedenken, daß es so viele Formen des geistigen wie körperlichen und seelischen Erlebens gibt, wie es Menschen gibt, und daß erst der Betrachter des vollendeten Lebens, das ihm zum Stoff geworden ist, zu der gesetzmäßigen Grundform vordringt. Der Werdende selbst fühlt sich, seinen Weg und sein Ziel einzig, und so ist es auch.


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