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35.
Sowie der bewußte Einzelwille den Willen zum Ganzen überwiegt, wird jede Unvernunft möglich. Blick auf den Okkultismus


Die Welt ist nichts Gewordenes und Fertiges – sonst wäre sie ja tot –, sondern etwas Werdendes, das beständig durch die Kraft des Menschen, Willenskraft und Phantasie, geschaffen werden muß, um zu sein. Diese schaffende Kraft im Menschen ist eine unbewußte, nicht von ihrer Willkür abhängige; nur solange und soweit die Menschheit überwiegend unbewußt ist, entwickelt sich die Welt nach göttlichem Plane. Jeder gesunde Mensch mit gesunden Sinnen hat ein Bild der Welt in sich, welches dem, das sein Nächster hat, entspricht, so daß man von einer »prästabilierten Harmonie« sprechen kann, in der sich alle, im wesentlichen einmütig, wenn auch im einzelnen abweichend, bewegen. Sowie indessen das Selbstbewußtsein anfängt, die unbewußte Kraft zu überwiegen, kann es vorkommen, daß die Einzelwelt eines Menschen von der seines Nächsten so beträchtlich abweicht, daß der eine die des andern für falsch halten wird. Was ist wahr? Was die großen Genien aller Zeit übereinstimmend gedacht und geschaffen haben. Es ist der Wille des Ganzen oder Gottes, der, welcher die Einzelnen innerhalb des Ganzen leben und wirken läßt. Hiervon, wie vom Guten und Schönen, werden die schwächeren Menschen immer wieder abweichen, und es muß durch kraftvolle Geister und ihre Anhänger immer von neuem die göttliche Höhe erreicht werden. Behält man das Bewegliche der Welt, das fortwährende Steigen und Sinken, Abweichen und Annähern im Sinne, und ferner den Umstand, daß jeder Mensch mit den magischen Kräften, die in ihm tätig sind, an dem Zustandekommen und Ineinanderwirken der Welt arbeitet, so kann man sich auch die vielberedeten okkulten Phänomene erklären. Die Geschichte der blinden und taubstummen Amerikanerin Helen Keller darf ich wohl als bekannt voraussetzen, welche schon in blödsinnigen Zustand zu versinken im Begriff war, als sie durch die Kraft und Liebe eines jungen Mädchens gerettet wurde, die die der Werkzeuge des Geistes Beraubte in die Welt der Gesunden hineinzog. Umgekehrt können einzelne von der Welt Abgesonderte auch Gesunde, wenn sie schwach und empfänglich sind, in ihre Einzelwelt hineinziehen, in welcher sich die Einzelkräfte, losgelöst von der göttlichen Welt des Ganzen und losgelöst in dem betreffenden Individuum, ungebunden bewegen. Wenn das Siegel des Selbstbewußtseins abfällt, ohne daß das Bewußtsein des Höheren, das Überbewußtsein, an die Stelle tritt, so können die ungebundenen Einzelkräfte sich beliebig austoben. Es ist sehr wohl möglich, daß ein in diese Welt Hineingezogener Ohrfeigen von unsichtbarer Hand erhält, daß er sogar die nebelhaften Gliedmaßen sich bilden sieht, welche diesen und anderen Schabernack vollführen, daß er auf seinem Stuhl in die Höhe gehoben wird und was dergleichen Wunderlichkeiten mehr sind. Diesen Kräften nachzuspüren hat aber gar keinen Sinn und Wert, so wenig wie es Sinn hat, jedes schlechte oder aberwitzige Buch zu lesen oder Bild anzusehen; was not täte, wäre vielmehr ein Erlöser, der die Teufel bannte und die eigenwilligen Individuen wieder mit der großen Gotteswelt verbände. In einer späten Zeit, wie die unsrige ist, gibt es unzählige Individuen, die, anstatt an der majestätischen Gesamtwelt mitzubauen, in die sie hineingeboren sind, eine eigne Welt bauen möchten, der jene sich anpassen sollte. Solche weitverbreitete Eigenwilligkeit ist das Zeichen weitgehender Auflösung in einer Zeit, die des Helden wartet, der aus dem Chaos die junge Weltblüte hervorzaubert. Auch dieser ist ein Einzelner, der die Welt nach seinem Bilde umprägt; aber was ihn, den Genialen, von den Geisteskranken unterscheidet, ist, daß er in der Gnade ist und, weil die in ihm wirkende Kraft die Gegenwirkungen mit umfaßt und daher etwas Ganzes bildet, nicht etwas Abgesondertes. Es ist eine Zeit, in der man Buße tun muß, weil das Himmelreich nahe herangekommen ist.

Faßt man recht die Tatsache, daß die Welt eine Schöpfung von Wille und Phantasie ist, so begreift man, daß diese vereinigten Kräfte, die alles geschaffen haben, was ist, auch etwas anderes, das Absurde, das scheinbar Unmögliche schaffen können. Aber dies Absurde, was irgendein Teufel, ein Einzelwille, geschaffen hat, wird niemals allgemeingültig sein. Die Welt, die wir kennen, die Welt des Schönen, Guten und Wahren, der Kosmos, ist die Welt, die die großen Genien in Übereinstimmung dem Nichts entreißen, und an der ihre Gläubigen mitwirken. Es kann geschehen, daß eine lange Zeit keine führenden Geister dieser Art erscheinen oder daß keiner ihnen glaubt, worauf dann jeder seinen Einzel-Irrtümern nachhängt und tolle Ausgeburten und Mißgeburten hervorbringt. Es wird ihm fast immer gelingen, mehr oder weniger Anhänger zu finden, die sich in diese Sonderwelt hineinziehen lassen; denn es ist nichts so närrisch, was nicht irgendwo Glauben fände. Da ist diese Welt für jeden, der geschmacklos oder töricht oder bösartig genug ist, daran Gefallen zu finden und sich darin wohl zu fühlen. Unglückselige durchlöcherte Zeit, wenn auch interessant, weil die vielen Löcher einen Blick auf das Chaos gestatten, aus dem die schaumgeborene Götterwelt aufsteigt.

Leider werden zu oft die göttlichen Geheimnisse, die es gibt und immer geben wird, die im Wesen Gottes selbst liegen, mit beliebigen Ausgeburten menschlicher Einbildungskraft auf eine Stufe gestellt. Mit Recht verlangte Goethe, es solle keine christlichen Mystiker geben, »da die Religion selbst Mysterien darbietet. Auch gehen sie immer gleich ins Abstruse, in den Abgrund des Subjekts«. Dort gedeiht der verwegenste Unsinn, der, eben weil die Menschen in sich selbst vernarrt sind, viel eher Glauben findet als die tiefsinnig geheimnisvollen Symbole der Bibel. Es ist etwas Ähnliches, wenn heutzutage ein geschnitzter Negergötze mehr bewundert wird als ein griechisches Götterbild. »Chinesische, indische, ägyptische Altertümer«, sagte Goethe in Beziehung darauf, »sind immer nur Kuriositäten; es ist sehr wohlgetan, sich und die Welt damit bekannt zu machen; zu sittlicher und ästhetischer Bildung aber werden sie uns wenig fruchten.«

Aus welchen Gründen unsere Zeit die Unform der Form vorziehen muß, habe ich an anderer Stelle schon gesagt. In einer Zeit, wo der Mensch für etwas Fertiges, Starres gehalten wird, kann es notwendig und gut sein, daß man auf die Erscheinungen aufmerksam wird, durch die er sich als etwas Bewegliches und Werdendes kennzeichnet, als eine Gesamtheit von Kräften, die sich im Einzelnen offenbaren, aber auch über ihn hinausgehen.

Daß unsere Welt der Zeit und des Raumes auch auf sinnvolle Weise durch psychische Erscheinungen durchbrochen werden kann, soll nicht geleugnet werden. Gott, der Geist, die schaffende Kraft der Phantasie und Liebe, ist zeitlich-ewig, sie wird erst räumlich, indem sie sich im Stoffe offenbart. Goethe sagt einmal, daß unsere Wünsche und Träume ein Vorgefühl dessen sind, was wir mit unserer Gesamtkraft zu leisten imstande sind. Es ist deshalb durchaus möglich, daß jemand im Traume, wie zuweilen berichtet wird, ein Bild sieht, das ihm zur Zeit zusammenhangslos und unverständlich erscheint, das sich aber in seinem späteren Leben verwirklicht, während andere Bilder unbeachtet und unverwirklicht vorübergehen. Das, was seine Gesamtkraft in Wirkung und Gegenwirkung mit der Welt erschaffen sollte, hat sich ihm in einem glücklichen Augenblick vorweg dargestellt, ähnlich wie einem Dichter in einem schönen Augenblick sein Werk in reinster Glut der Vollendung vorschwebt, das er in Mühen, oft Jahre hindurch auflösend und neu beginnend schaffen soll. Man könnte sich denken, daß allen Menschen einmal der Gipfel ihrer Zukunft in einem Traumbilde vorschwebt, das ihnen aber nicht zu wachem Bewußtsein kommt oder nicht darin haften bleibt; jedenfalls ist es unwichtig, ob dies geschieht oder nicht, wenn nur die Kräfte, welche sich in einer bestimmten Art äußern wollen, vorhanden sind. Ob sie sich in von uns unverstandenen Spielen ergehen, verschlägt nichts. Man könnte meinen, Erzieher könnten durch derartige Vorträume auf die vielleicht verborgenen Fähigkeiten ihrer Zöglinge aufmerksam gemacht werden; aber das Leben ist immer der beste Erzieher, während der Mensch ein dem Irrtum ausgesetzter, bald zu bedenklicher, bald zu naseweiser Ausleger ist. Man wird sich darauf verlassen dürfen, daß Fähigkeiten, die sich im Traume offenbaren, dies noch viel mehr im Leben tun werden.

Freilich ist dabei Bedingung, daß das Leben nicht, wie es jetzt der Fall ist, sich auf Hemmung der individuellen Kräfte gründet. Es werden dann die natürlichen Kräfte, die sich nicht im Leben äußern können, wie sie möchten, unter der Decke rumoren, und so werden wir gerade in hochzivilisierten Zeiten eine Vorliebe für Okkultismus finden, wie wir vielleicht auch bei jedem Einzelnen, wenn wir seine Abkunft und die Eigenschaften seiner Eltern genau kennten, die Hemmung nachweisen könnten, die verursacht, daß seine Fähigkeiten sich in Träumen und sonstigen Spielen der Einbildungskraft äußern, anstatt im Leben in Kraft zu treten. Festhalten möchte ich daran, daß, wie Gott Fleisch wird, es auch bei jedem Menschen darauf ankommt, daß seine Träume in Kraft treten, daß dies das Höhere ist, nicht etwa das raumlose Urbild. Dies ist, wie die Vision des Dichters, nur für einen da; erst durch seine Verwirklichung tritt er in Beziehung und wird dadurch lebenschaffend und fortdauernd ins Ewig-Künftige.


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