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Große, von Ewigkeit her oder in der Zeit entwickelte Kräfte wirken unaufhaltsam; ob nutzend oder schadend, das ist zufällig.«
In diesem Ausspruch Goethes finde ich etwas von dem zum Ausdruck gekommen, was die Frömmigkeit der echten Göttersöhne von der kirchlichen oder eingebildeten oder angewöhnten unterscheidet. Der Kirchenfromme oder der Pietist betrachtet Gott als eine Art Hausmeister, welcher die Interessen des Menschen wahrzunehmen hat; derjenige, in dem die Kraft, die die Grundlage des Lebens ist, sich offenbart, fühlt sie und betet sie an, obwohl er weiß und gerade weil er weiß, daß seine irdische Glückseligkeit, so wie er sie begreift, nicht ihr Ziel ist. Dennoch steht geschrieben, daß das Glück des Menschen in Gottes Hand ruhe, daß Gott über allen wache und ihr Los in gerechten Händen wäge; der Gläubige kann nicht annehmen, daß Gott hoch oben gleichgültig als ein tauber und stummer Sturm über seinem Haupte hinfahre. Es kommt etwas Neues zum Obigen hinzu. Nennen wir die von Ewigkeit her wirkende, aus dem Unendlichen ins Unendliche strömende Kraft Gott oder Geist, so wird nun Geist Fleisch: es erscheint Gott Sohn, der die zu niemandes Nutz oder Schaden wirkende Kraft auf sich, als auf einen Mittelpunkt bezieht. Durch Gott Sohn, das wollende, liebende Ich, denn ein Ich ist ein Wille, und zwar ein Liebeswille, wird aus der unendlichen Kraft ein Kosmos, eine Weltkugel, eben deshalb, weil ein nach allen Seiten ausstrahlender, alles auf sich beziehender fester Punkt da ist. Wie dieser Mittelpunkt sein festes Dasein durch Endlichkeit erkauft, so beruht auch der Kosmos auf Selbstbeschränkung: Gott beschränkt sich im Sohne durch die Sinne, Werkzeuge, die er sich schafft, um aus den unendlichen Kräften die Welt um sich aufzubauen. In dieser freiwillig beschränkten Welt geht die Sonne an der Feste des Himmels auf und drehen sich die Sterne dienend um die Erde, den Standpunkt von Gott Sohn, dem in der Menschheit sich offenbarenden Gott. Jenseit der äußersten Sternennebel ahnt das Ich die Unendlichkeit des göttlichen Vaters, ätherische Katarakte, aus denen nach Jahrtausenden noch an Stelle welkender Gestirne neue und immer neue knospen können. Der Kosmos, die geordnete, begrenzte Welt in Raum und Unendlichkeit, Zeit und Ewigkeit beruht auf dem einheitlichen Menschen, dessen Geist durch gesunde Sinne die Welt wahrnimmt, dessen Wille auf die Welt wirkt, und dessen Einbildungskraft die Welt auf sich wirken läßt, auf den handelnden und leidenden Menschen. Es ist die Welt in der Wechselwirkung mit dem Menschen, nicht die Welt an sich; diese erfassen wir, wenn wir mit Ausschaltung der Sinnlichkeit und des Willens, mit Ausschaltung unserer Persönlichkeit also, die Welt denken.
Ich führe einen Ausspruch Goethes an:
»Gewöhnliches Anschauen, richtige Ansicht der irdischen Dinge, ist ein Erbteil des allgemeinen Menschenverstandes.
Reines Anschauen des Äußeren und Inneren [zusammen] ist sehr selten.
Es äußert sich jenes im praktischen Sinn, im unmittelbaren Handeln; dieses symbolisch, vorzüglich durch Mathematik, in Zahlen und Formeln, durch Rede, uranfänglich, tropisch, als Poesie des Genies, als Sprichwörtlichkeit des Menschenverstandes.«
Hiernach könnte es fast scheinen, als stelle Goethe die Mathematik dem Genie gleich, was durchaus nicht der Fall war, wie seine anderen Äußerungen beweisen. Man müßte, glaube ich, den obigen Ausspruch dahin vervollständigen, daß man sagte, Mathematik sei die reine Anschauung des Äußeren und Inneren nach Ausschaltung des fühlenden Ich. Wäre dann die Mathematik die Anschauung Gott Vaters? Nein, wenn Gott Sohn ausgeschaltet wird, ist auch Gott Vater nicht mehr; Gott Vater und Gott Heiliger Geist entstehen und vergehen zugleich mit Gott Sohn, dem menschlichen Willen; aber Gott Sohn, der sich auflöst, der, durch das Selbstbewußtsein gespalten, nicht mehr einheitlich wirkt, nicht mehr, was dasselbe sagen will, im Unbewußten wurzelt, der Mensch als Denkender, als unsinnlicher Geist, für den gibt es nicht Beziehungen zwischen Äußerem und Innerem, sondern nur Beziehungen an sich, Welt an sich, Mathematik. Mathematik ist der Ausdruck der Beziehungen des Geistes zu sich selbst; die Poesie (uranfängliche Rede, Symbol) ist die Anschauung des Kosmos, der Ausdruck der Beziehungen des Geistes zu einem Gegensatze, mit dem er in Wirkung und Gegenwirkung verbunden ist. Dieser Gegensatz, Satan, ist innigst verbunden mit Gott Sohn, dem individuellen Willen, der wiederum durch die Einbildungskraft mit Gott Vater, der schaffenden Kraft, verbunden ist. Nehmen wir den Gegensatz fort, so bleibt nur Geist, Geist im Menschen und Geist außerhalb des Menschen, und den Geist im Menschen, der den Geist außer sich wahrnimmt, nennen wir Verstand im Gegensatz zur Vernunft, die eins mit Phantasie und Liebe ist. Der Verstand ist keine Kraft, denn er schafft nicht; er ist eine Auflösungserscheinung. Bevor nicht der dreieinige Mensch da war, der den Kosmos schafft, kann es auch den Verstandesmenschen, der die unendliche Welt wahrnimmt als Beziehung des Geistes zu sich selbst, nicht geben.
Im Kosmos, der Welt des Gegensatzes, lebt der Mensch, dessen geistig-sinnliche Tätigkeit vom Herzen ausgeht; in der unendlichen, mathematischen Welt der Mensch, dessen geistige Tätigkeit mit Ausschaltung des Herzens vom Bewußtsein ausgeht und sich innerhalb desselben vollzieht. Die Beziehungen des Geistes zu sich selbst oder die gegensatzlose Welt ist, eben weil sie ohne Gegensatz ist, vollkommen richtig, aber nicht wirklich; sie läßt sich nicht verwirklichen, sie kann nicht in Kraft treten außer durch Maschinen und Werkzeuge, oder indem sie den Menschen selbst zur Maschine macht. Die Technik sowie jede ideologische Weltanschauung und Verfassung, welche den Gegensatz aus der Welt schaffen will, hat deshalb notwendigerweise die Richtung, den Menschen zur Maschine zu machen.
Es ist an sich nicht unmöglich, daß durch das Übergewicht des Kopfes über das Herz der Mensch aus dem Ebenbilde Gottes, dem dreieinigen, zu einer Art Hintertier wird, nämlich zu einem Tier, das nicht Vorläufer des Menschen, sondern sein Nachzügler ist. Es läßt sich denken, daß die Erde auf diese Art aufhört, Schauplatz der schaffenden Gottheit zu sein. Zweifellos würde sich in diesem Falle schon auf einem neuen Stern, einem auserwählten, jugendglanzbetauten, eine neue Offenbarung des ewigen Gottes vorbereiten.
Indessen, wenn wir auch wissen, daß die Erde, wie alles Begrenzte, sterben muß, sollten wir nicht wünschen, wir könnten als lebendig wirkende, unsere erhabene Bestimmung fühlende Menschen mit ihr im Feuer untergehen, würdig der himmlischen Schöpferkraft, die sich in uns offenbart? Nicht wenigstens zurückschaudern vor einer Verkümmerung und Verkrüppelung des Herrn der Erde? Zwei Welten werden sich immer bekämpfen: die französisch-amerikanisch-westliche und die germanisch-orientalische, die des Aufgangs; die Welt des mechanisierenden Verstandes und der Selbstbeziehung und die der schaffenden Phantasie und Liebe, die den Gegensatz des Hasses, der Sünde und der Übel einschließt. Mögen sie sich bekämpfen, solange nur die Welt des Verstandes nicht übermächtig wird. Sollte Frankreich sich zum Beherrscher des Abendlandes aufschwingen, so wäre das der Ausdruck der unaufhaltsamen Degeneration des Menschen durch immer zunehmende Unterbindung der frei schaffenden Kräfte und der persönlichen Verantwortung. Es würde dann allmählich aus dem Menschen das besagte Hintertier werden, ein stahlgliediger Heuhupfer in einer Hinternatur, die sich unendliche mathematische Melodien zirpte und sich für den Übermenschen hielte. Sein Kopf würde immer spitzer werden und die Welt stückweise, nicht mehr kosmisch wahrnehmen, worauf uns die moderne Literatur, Kunst und Musik schon vorbereiten. Wenn nicht einmal ein dämonischer Mensch kommt, ein Göttersohn mit Satan geheimnisvoll verbunden, der die Trugwelt aus purem Stoff und purem Geist mit heroischer Faust zertrümmert, damit junge wilde Keime an die Sonne wachsen können.