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1.
Über das Aufsuchen von Gesetzen und die Entpersönlichung des Abendlandes


Eine seltsam unheimliche Neigung hat unsere Zeit, Gesetze aufzusuchen. Daß wir sie allen Naturerscheinungen zugrunde legen, ist nicht neu; jetzt wollen wir sie auch in allen Lebens- und Geisteserscheinungen, in der Kunst, in der Geschichte, im Fühlen und Denken finden. Wir werden Juden und stehen unter dem Gesetz. Die Juden, die wir aus dem Alten Testamente kennen, meine ich nicht; denn diese standen zwar unter dem Gesetz, zugleich aber ging aus ihnen der Messias hervor und die Propheten, welche ihn vorausverkündigten, so daß das Gesetz zugleich herrschte und doch fortwährend aufgehoben wurde. Was wir jetzt unter Juden verstehen, sind diejenigen, die ihren Erlöser verleugnen und sich einzig unter das Gesetz stellen. Sie verleugnen den Herrn der Sterne, der, wundertätig, die Kette des Gesetzes durchbricht und das Neue, Unverhoffte hervorbringt.

Nun wird der Kluge meinen, ich wolle eine Weltanschauung der Phantasie der Weltanschauung des Verstandes gegenüberstellen, und das wäre richtig, wenn man unter Weltanschauung nicht nur eine Ansicht, sondern ein Tun verstände. Es handelt sich nicht um bloße Weltanschauung, sondern um Weltschöpfung, welche nur geleistet werden kann durch die freie Persönlichkeit und den Widerstand, den sie dem gesetzmäßigen Ablauf des Geschehens entgegenstellt. Die Welt muß täglich neu geschaffen werden, und die Kraft, welche alles Vergangene geschaffen hat und alles Künftige schaffen wird, ist in der Tat die Phantasie im Verein mit einem Einzelwillen, der Vertreter des Ganzen ist. Sie ist dem Verstande nicht entgegengesetzt, sondern schließt ihn ein. Trennt man beide voneinander, so hat man auf der einen Seite die Logik und auf der anderen die gesetzlos schweifende Phantasie. Die exakte Phantasie, wie Goethe die Phantasie nannte, die den Verstand einschließt, umfaßt den Raum, nämlich Vergangenheit und Gegenwart, und löst ihn durch die Zukunft stets wieder auf. Der Verstand bezieht sich nur auf das Räumlich-Zeitliche, das heißt auf Vergangenheit und Gegenwart und diejenige Zukunft, welche sich aus dem Vergangenen und Gegenwärtigen schließen läßt, nämlich den gesetzlichen Ablauf, nicht auf die Zukunft, welche das Neue bringt. Wir sehen, daß Gott, Phantasie und Ewige Zeit oder Ewigkeit ein und dasselbe ist: Ich bin, der da war, der da ist und der da sein wird. Das Künftige ist im Inneren der Natur verborgen; nehmen wir es heraus, so bleibt allein das Äußere, das Tote, der bloße Stoff. Nur der Stoff steht unter dem Gesetz, und Stoff ist alles das, was keine Zukunft mehr hat. Juden sind Völker oder Familien oder Einzelne, die keine Zukunft mehr haben.

Wären demnach die großen Genien, die keine lebensfähigen Nachkommen haben und also zukunftslos sind, bloßer Stoff? Nein, sie sind ja grade die großen Sterbenden, die durch ihre Taten und Werke das Zeitliche verewigen, mit der Zukunft verbinden. Zukunftslos nenne ich diejenigen, die sich nicht mehr weiter entwickeln können und doch nicht sterben wollen, die bleiben wollen, wie sie sind. Für die Juden war das Entscheidende, das was sie zu Juden machte, daß sie ihrem voraussterbenden Herrn nicht folgen wollten. Wer sterben kann, ist frei, steht nicht unter dem Gesetz. Sterben ist die Fähigkeit, sich verwandeln zu lassen, Nichtsterbenkönnen ist der Wille, sich zu erhalten. Der körperliche Tod allein beweist noch nicht die Fähigkeit, sich verwandeln zu lassen, denn die Verwandlung geschieht am Lebenden; aber freilich deutet die unüberwindliche Furcht vor dem Tode auf den Willen, sich um jeden Preis zu erhalten … Das Bestreben unserer Zeit, den Tod möglichst auszuschalten, jedenfalls totzuschweigen, zeigt, wie jüdisch, wie erstarrt wir geworden sind. Der junge Mensch und der Christ ahnen im Tode das neue Leben.

Der große Augustinus stellt einmal das Weltschaffen Gottes dem Schaffen des Dichters gleich, indem er sagt, Gott habe den Entwickelungsgang der Weltalter wie einen erhabenen Gesang gleichsam durch Antithesen geschmückt und die Schönheit der Welt durch Gegenüberstellung widerstreitender Dinge erhöht. Was Dürer vom Künstler sagt, er sei inwendig voller Figur, und ob's möglich wär, daß er ewiglich lebte, so hätt er aus den inneren Ideen allweg etwas Neues durch das Werk auszugießen, dasselbe gilt von Gott, nur daß Gott wirklich ewiglich lebt.

Betrachten wir die Werke irgendeines großen Malers, so finden wir gewöhnlich ein paar Haupttypen, ihn selbst, seine Geliebte, seinen Vater, seine Mutter. Da aber er selbst seinen Eltern ähnlich ist, seine Geliebte aber häufig dem Typus seiner Mutter verwandt ist, so lassen sich die vier auf zwei oder einen zurückführen, ihn selbst, der einen Gegensatz in sich birgt. Der Künstler schafft sich selbst: ogni vate e pittor pinge se stesso. Der Situationen, in die der Künstler seine Figuren stellt, sind auch nicht allzu viele: eine Mutter mit dem Kinde, eine heilige Familie, eine Kreuzigung, eine Schlacht, ein Opfer, eine Versöhnung. Dennoch gleicht kein Bild dem andern, ja es gibt solche, deren Urheberschaft streitig sein würde, wenn sie nicht beglaubigt waren, und solche, die sich nicht mit Sicherheit chronologisch einreihen lassen. Der Beschauer, dem das ganze Werk vorliegt, kann freilich mit kritischem Verstande klug darüber reden und beweisen, warum das eine so und das andere so werden mußte. Allein wer hatte z. B. zu Rembrandts Lebzeiten die Bilder seiner letzten Periode aus seiner ersten voraussagen können? Wir wissen nur das Eine Gesetz, daß jedes Einzelwesen ein Ende hat, das heißt, daß ein Augenblick kommt, wo seine Zukunft jenseit seiner vollendeten räumlichen Erscheinung liegt. Wir können aus dem Vergangenen das Gegenwärtige erklären, aus dem Gegenwärtigen aber nicht das Künftige, sondern nur den gesetzlichen Ablauf, der zum Tode, zur Erstarrung führt. Das Künftige oder Lebendige, welches immer persönlich ist, läßt sich nicht vorherbestimmen, steht nicht unter dem Gesetze. Hier liegt der Grund verborgen, warum die Weissagungen des zweiten Gesichtes sowie Träume, Ahnungen und andere Verkündigungen der Geisterwelt sich fast immer auf Tod und Unglück beziehen: sie beruhen auf der Ausschaltung der Persönlichkeit, während die eigentliche Prophetie, der prophetische Geist, der die Zukunft sieht, weil er sie schafft, durchaus persönlich ist. Nicht jeder Mensch ist aber eine Person, sondern Persönlichkeit nennen wir diejenigen Menschen, in denen die gesamten Kräfte des Körpers, des Geistes und der Seele tätig sind oder wenigstens vorübergehend tätig werden können.

Gibt es denn aber Totes? Gott ist ein Gott der Lebendigen und nicht der Toten. In der natürlichen Schöpfung gibt es nichts Totes, sondern fortwährende Verwandlung. Das Tote liegt in der Gesinnung, und zwar in der Gesinnung des sich selbst erhaltenden, des auf sich selbst gerichteten, auf sich selbst beschränkten Menschen; es gibt also eigentlich nur geistigen, keinen körperlichen Tod. Hobbes definierte das Denken als Rechnen. Das reine Denken des denkenden Ich, welches keine Gegenwirkung erfährt, sondern innerhalb des Selbstbewußtseins ablauft, ist gesetzmäßig und sein Ergebnis richtig; aber es ist weder wahr noch wirklich. Wahr ist, was uns als Ideal im Gegensatz zu uns selbst vorschwebt oder die Übereinstimmung des Einzelnen mit Gott, und wirklich, was unser Geist durch gesunde Sinne wahrnimmt. Alles Wahre und alles Wirkliche ist zwischen Gegensätzen. Man wird einwenden: wie kommt es denn, daß die Voraussagungen der Wissenschaft, z. B. der Astronomie, durch, die Erscheinungen des Sternenhimmels bestätigt werden? Dieser Sternenhimmel ist von Instrumenten gemacht, er gehört nicht in die lebendige Natur, sondern ist Menschenwerk. Der erstarrte, eigentlich der tote Mensch, hat sich mit einer starren Natur umgeben, die nach Gesetzen abläuft, mit einem Mechanismus. Dies ist der Tempel der Wissenschaft, den Bacon forderte, und den die Menschheit, ihm gehorchend, errichtet hat. Der produktive Mensch zerbricht Tempel in jedem Augenblick, wo er Neues schafft. Deshalb wurde Christus von den erstarrten Pharisäern verurteilt, weil er sagte, daß er den Tempel Gottes zerbrechen und in drei Tagen wieder aufrichten könne. Mit dem Neuen meine ich freilich keine technische Vervollkommnung, keine neue Organisation, keine wissenschaftliche Entdeckung. Können wir überhaupt noch schaffen, noch Taten tun? Taten werden nur getan, wo eine freie Persönlichkeit handelt und von anderen Persönlichkeiten Gegenwirkungen empfängt. Der Mangel an Persönlichkeit ist Mangel an Verantwortlichkeit. Für seine Handlungen sich allein verantwortlich fühlen und allein ihre Folgen, auch die schwersten, tragen, das macht die Persönlichkeit aus. Weil wir die Verantwortlichkeit abgeworfen haben, haben wir keine Persönlichkeit mehr, sind wir in der Gottesferne und stehen wir unter dem Gesetz.

Mit der Umwandlung des Reichs der persönlichen Beziehungen in den unpersönlichen Staat, mit der Umwandlung der Naturalwirtschaft in Geldwirtschaft, mit der Begründung der Herrschaft der Wissenschaft begann die Entpersönlichung des Abendlandes. Das Reich der persönlichen Beziehungen können wir auch definieren als das Reich, in welchem der Einzelwille und der Wille zum Ganzen nicht grundsätzlich voneinander getrennt sind, sondern in den einzelnen Personen zusammen- und gegeneinanderwirken, so daß jeder zugleich Privatperson und öffentliche Person ist, zugleich sich selbst und das Ganze vertritt.

Der Grundfehler des modernen Menschen, insbesondere des modernen Deutschen ist der, daß er sich von Haus aus nur als Privatperson fühlt und nicht auch als Gemeinperson oder Teilwesen; daß er wohl eine Tätigkeit für das Ganze als Amt, als Aufgabe übernimmt, aber nicht als natürliche Funktion ausübt. Wir sind Einzelpersonen, die zuweilen als Gemeinpersonen agieren, während wir beides gleicherweise, Gemeinperson und Einzelperson sein sollten.

Das ist der Unterschied zwischen dem antiken und dem modernen Menschen, daß jener wesentlich Gemeinperson war, wie ja überhaupt die Einzelpersönlichkeit das spätere ist und das kleine Kind sich noch nicht als solche fühlt. Im hebräischen Volke kam die Einzelperson zuerst zu völliger Ausbildung; und deshalb wurde dort zugleich mit Satan der Eine persönliche Gott erkannt, der Einzelne im Gegensatz zum Ganzen und der Einzelne als Vertreter des Ganzen. Wie die Hebräer sind auch die Germanen ein individualistisches Volk, während die Römer ein republikanisches, ein Volk des Gemeinwillens waren, für welches die individualistische Entwickelung der Kaiserzeit zwar einen Höhepunkt, zugleich aber eine Auflösung bedeutete. Die Juden haben das Schicksal, nicht in anderen Völkern aufgehen zu können, und dasselbe scheinen die Deutschen zu haben. Goethe sagte zu Riemer: Deutsche gehen nicht zugrunde, so wenig wie die Juden, weil es Individuen sind.

Wir sehen hier die Anlage zu übermenschlicher Größe verbunden mit der Möglichkeit des äußersten Bösen; denn die Auflehnung des Einzelnen gegen das Ganze kann Neuschöpfung, kann aber auch Größenwahn und geistigen Tod des Einzelnen und Zersplitterung des Ganzen bedeuten. Gemeinpersönliche Völker im antiken Sinne hat es nach Christus nicht mehr gegeben. Wo wir etwas Derartiges zu erleben wähnen, handelt es sich um die allergefährlichste List des Satans, welcher, um seine Herrschaft ohne Schaden weiterführen zu können, die Rücksicht auf das Ganze in dieselbe einbezieht und dadurch ein wohlgewachsenes Ganzes vortäuscht, während es in Wirklichkeit nur Privatpersonen gibt, die, ohne ihr Wesen zu verändern, sich zur Bildung einer willkürlichen Gesamtfigur von außen vereinigen, wenn nicht die Gesamtfigur schlechtweg durch gewaltsame Unterdrückung der Einzelpersönlichkeit entsteht, die hinterrücks soviel als möglich zu ihrem Rechte zu kommen sucht.


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