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Sie verbrachte eine schlaflose Nacht. Unaufhörlich rang sie mit ihren Gedanken, ihren Erinnerungen. Sie war auf einmal aus ihrem stolzen, selbstsicheren Gleichgewicht geworfen. Frage nach Frage kam an ihr vorübergerannt; keine ließ sich halten, greifen –
Was hatte Hubert Pertz damals bei ihr gewollt? Nach dem Briefe, den ihr Leopold geschrieben, ehe er sich in Hamburg einschiffte!
Sie hatte den Brief in ihrer Schmuckkassette. Er verließ sie nie. War ihr ein Memento des Hasses, das sie nie aus der Hand gab. Sie kannte ihn auswendig, Zeile für Zeile – – es ist etwas Wahres an dem Worte von den Buchstaben, die sich wie mit glühenden Eisen in die Seele einbrennen. –
Sie sprang aus dem Bett und suchte den Brief hervor. Las ihn. Zum hundertsten Male. Fühlte auch jetzt, wie beim ersten Male, die Scham, den Ekel, den Zorn in sich aufsteigen – ihr die Kehle zusammenpressen. – – –
Folgendes stand in diesem Briefe:
»Meine innig geliebte Lisa!
Wenn Du diese Zeilen erhältst, bin ich bereits auf dem Wege nach Amerika. So hat es meine Familie beschlossen, die mir die Wahl gelassen hat zwischen dem Zuchthaus und der Flucht. Mein Bruder und mein Onkel haben mir eine Karte nach New York gelöst, 200 Dollar in die Tasche gesteckt und ›Adieu! Glückliche Reise, schönes Wetter, und komm nicht so bald wieder!‹ Das ist das Resultat meines verzweifelten Versuches, Hilfe von meiner Familie zu erhalten.
Ich sitze jetzt vor der Abfahrt auf dem Schiff – Zwischendeck, bitte! – und verzehre mich vor Reue und Verzweiflung! Was habe ich aus Dir und Deinem Leben gemacht! Und jetzt kann ich nicht einmal zu Dir, um Abschied zu nehmen. Um Dir zu sagen, daß ich Dich liebe, Dich lieben werde bis zu meinem letzten Atemzuge. Und um mich Dir zu Füßen zu werfen und Dich um Verzeihung zu bitten! Ich kann nicht zu Dir! Ich darf nicht! Einmal in meinem Leben muß ich fest bleiben. Sonst laufe ich die Gefahr, daß man mich festnimmt – mein Gott, wie sich das schreibt! Mich, einen Antzey-Walloth! –, und dann ist alles aus. So habe ich doch noch die Chance, mich in die Höhe zu arbeiten! Wieder gutzumachen! Glaub' mir, Lisa, ich bin nicht schlecht, ich bin nicht träg – – das Leben in Deinen Armen, Deine Küsse haben mich so weich gemacht! Aber nach diesen Armen, diesen Küssen sehne ich mich jetzt schon, da ich noch nicht einmal fort bin! Brauche ich Dir zu sagen, daß ich Tag und Nacht arbeiten werde, um so schnell wie möglich zu ihnen zurückzukehren? Warte auf mich, Lisa! Warte auf mich!
Beinahe hätte ich in meiner Erregung, in meinem Schmerz vergessen, wegen dieses unseligen Wechsels zu schreiben. Meine Leute weigern sich natürlich, ihn einzulösen, und ich weiß nicht einmal, wer ihn jetzt hat. Ich glaube, Jessensky hat ihn weitergegeben – irgend so ein serbischer Getreideschieber soll ihn haben! Drasovic oder Dazkovic heißt der Kerl! Brauchst Dich aber gar nicht darum zu kümmern! Was kann man Dir tun? Du sagst, Du weißt von nichts! Streitest alles ab! Der Teufel hole die ganze Bande, angefangen von meinem teuren Herrn Bruder und meinem Onkel bis zu diesem meineidigen Schurken Jessensky, der mir in die Hand versprochen hat, den Wechsel nicht weiterzugeben!
Und jetzt – jetzt muß ich fort! Fort von Dir! Lisa, warte auf mich! Ich komme zurück und werde Dich, wo Du auch bist, zu finden wissen! Ein so schönes Weib wie Du geht nicht in der Welt verloren!
Gott behüte Dich!
Dein unglücklicher, Dich liebender
Leopold.«
Das war der Abschiedsbrief! Ein document humain männlicher Feigheit und Schlechtigkeit. Der berühmte Herr Onkel und der liebenswürdig plaudernde Bruder hatten es so gewollt! Sorgfältig legte sie den Brief zusammen, strich wie an einem kostbaren Spitzentuch ein paar Falten glatt und tat ihn in die Kassette zurück. Eines Tages würde sie ihn brauchen, diesen Brief!
Aber jetzt – die eine Frage: Warum war denn Hubert Pertz doch noch zu ihr gekommen? Und die andere Frage: Warum war Dazkovic nicht bei der Nennung des Namens erschrocken, sondern erst, als er vor dem Bild stand? Warum hatte er sie dann so angstvoll angesehen? Schlechtes Gewissen? Weshalb?
Und – jetzt sprang ein Gedanke vor ihr auf. Setzte sich höhnisch und quälend vor ihr auf das Bett. Starrte sie aus hämischer Fratze an.
Wenn Hubert Pertz nur fünf Minuten früher gekommen wäre! Fünf Minuten nur! Dann traf er sie anstatt zwischen Tür und Angel des Haustores oben in ihrer Wohnung. Sie hätte mit ihm gesprochen – vielleicht wäre ihr ganzes Leben in eine andere Richtung gegangen. Vielleicht hatte Leopold gelogen, zum Abschied gelogen, wie er immer log – vielleicht wollte die Familie sie nicht im Stiche lassen – – vielleicht schob er diese nur vor, um seine eigene Niedrigkeit zu decken – – –!
O Gott! Der Gedanke war furchtbar! Fünf Minuten! Warum spielte das Schicksal so brutal, so grausam mit den Menschen, die sich doch nicht wehren können!
Wer beantwortete ihr diese Fragen? Wer? Dazkovic? Sie dachte nach, lange, in der Stille der Nacht, jede Möglichkeit erwägend.
Nein, Dazkovic nicht. Wenigstens jetzt noch nicht. Er würde lügen, verdrehen und weinerliche Töne anschlagen. Sie konnte ihn zur Wahrheit ebensowenig zwingen wie zur Rückgabe des Wechsels!
Also wer dann? Stephan!
Sie lächelte – rückte sich in ihren Kissen zurecht und schlief ruhig und zufrieden ein.
*
Als ihr die Sonne durch das geöffnete Fenster auf die Bettdecke schien, erwachte sie. Wie spät mochte es sein? Sie blickte auf die Uhr. Ein Viertel nach sechs. – – Sie sprang aus den Federn und lief bloßfüßig zum Fenster. Beugte sich weit hinaus und atmete tief die würzige Morgenluft ein. Das ganze Tal lag schon im Glanz der Sonne. Auf den Feldern regten sich fleißige Arbeiter. Aus den Schornsteinen kräuselte sich dünner Rauch – unwillkürlich dachte sie an die Morgen zurück an der Riviera. – –
War es hier nicht schöner? Ruhiger, friedlicher? Dort drüben auf seinem Hügel der Edthof mit seinen zwei Linden! Auf seinen kleinen Fensterscheiben funkelte das Sonnenlicht. – – Was war ihre prunkvolle Villa in Nizza dagegen? – – –
Sie kleidete sich an. Tür an Tür mit ihr wohnte Helene. Sie spähte in das Zimmer – das junge Mädchen lag noch im tiefsten Schlaf. Der Kopf mit den schwarzen Flechten ruhte auf dem schlanken, weißen Arm – ein leichtes Lächeln schwebte wie traumhafter Hauch um die roten Lippen. Auf den Zehen ging Elisabeth hinaus.
Aus der Halle, die das Haus der ganzen Breite nach durchlief, trat sie auf die Terrasse, von der eine schöne Freitreppe in den Park hinausführte. – – –
Da saß Stephan an einem Tische und ließ sich mit großem Behagen sein Frühstück schmecken. Ueberrascht blickten sie einander an – sie war es, die sich schneller in die Situation fand.
»Guten Morgen und guten Appetit!« lachte sie ihm entgegen mit ihrem liebenswürdigsten Lachen. Sie wußte, daß sie sehr, sehr hübsch aussah – weißer Lawn-tennis-Rock, weiße Crêpe-de-Chine-Bluse, weiße Schuhe, weiße Seidenstrümpfe – alles weiß, zierlich, einfach. – – Und sie wußte es durch den Blick, mit dem er ihre Gestalt umfaßte, da sie an seinen Tisch herankam.
»Wie schön muß der Tag werden, der mit Glückwünschen aus solchem Munde anfängt!« ließ er seine Begrüßung flattern. Sein hübsches, ehrliches Gesicht war eine einzige Bestätigung seiner Worte.
Sie schob sie aber mit großartiger Geste beiseite.
»Schmeicheleien – ein Mann der guten, alten Zeit!« schmollte sie. »Bei Ihnen, auf diesem wunderschönen Fleck Erde klingt das deplaciert – wenn es noch so ehrlich gemeint ist!«
»Und wie ehrlich gemeint!«
»Trotzdem. In einem Salon will ich es vielleicht mit einem gnädigen Kopfnicken akzeptieren. Hier aber, wo der Zug um drei Stunden zu spät kommt, wo man noch Jause anstatt Five o'clock tea sagt, Gugelhupf und keine charakterlosen Sandwiches ißt – hier, mein lieber Graf, hier gibt man sich die Hand, schaut sich vergnügt an und sagt: Haben S' gut geschlafen?«
Sie hielt ihm die Hand hin. Er beugte sich darüber, um sie zu küssen.
»Noch besser –« rief sie. »Herr Graf, warum fragen Sie mich nicht, ob ich einen Hunger habe? Ich würde Ihnen darauf antworten, daß ich einen furchtbaren Hunger habe und sehr glücklich wäre, wenn Sie, anstatt mir die Hand zu zerquetschen, eine Tasse von diesem wunderbar duftenden Kaffee anbieten würden.«
Jetzt erst kam Stephan langsam zu sich.
»Ich dank schön, bin ich ein Esel!« murrte er und klatschte in die Hände.
Irgendwoher, wie aus einer Versenkung heraus, erschien ein pausbäckiges Hausmädchen, dem er befahl, für die »gnä' Frau« schnell zu decken. In wenigen Minuten war das geschehen, und Elisabeth biß mit einer Lust, über die sie sich selbst freute, tief hinein in das dicke Butterbrot, das er ihr inzwischen zurecht gemacht hatte.
»Herrgott,« stöhnte sie mit vollen Backen, »das schmeckt! Mir hat schon lange kein Frühstück so geschmeckt wie dieses!«
»Jetzt schmeicheln Sie, gnä' Frau!«
»Gnä' Frau – gnä' Frau – –! Seien Sie doch nicht so steifleinen, Herr Graf! Ich heiße für meine Freunde Frau Worth! Und hier ist es so schön, daß ich nicht abgeneigt bin, Sie für die Schönheit Ihres Tales verantwortlich zu machen und mit meiner Freundschaft zu belohnen. Ich weiß, Sie sind außer sich vor Freude. Sie können vor Ergriffenheit keine Worte finden! Nicht nötig, mein Lieber! Schenken Sie mir noch eine zweite Tasse von diesem Götterbräu ein, das ihr prosaischerweise Kaffee nennt! Streichen Sie mir noch ein Butterbrot! So – ausgezeichnet! Hier ist alles gut, alles echt, die Milch, die Butter – vielleicht sogar die Menschen!«
»Wir bemühen uns wenigstens, es zu sein«, erwiderte er.
»Nun, das ist schon immerhin etwas. Ich kann mir auch gar nicht vorstellen, daß Menschen, die mit der Sonne aufstehen, anders sein sollten. So ein Weltbürger wie ich, dessen Heimat der Luxuszug und die großen Hotelkarawansereien sind, findet sich hier wie auf einen anderen Planeten versetzt!«
»Zur Abwechslung ganz nett, nicht wahr, gnä' – – pardon, Frau Worth?«
»Nein, nicht zur Abwechslung. Glauben Sie nicht, daß einem intelligenten Menschen ein solches Leben, dessen Inhalt eine französische Speisekarte und das Kursbuch bilden, einmal zu langweilig wird? Den Beweis dieser Behauptung wollen Sie bitte in der Tatsache erblicken, daß ich Sie noch um eine dritte Tasse Kaffee bitte! Wann steht denn übrigens Ihre Frau Tante auf?«
»Nun, die wird jetzt in Begleitung des Mister Lord bald erscheinen. Ich komme immer um diese Zeit vom Feld zurück, und dann frühstücken wir zusammen.«
Das Entsetzen, mit dem sie ihn jetzt anstarrte, kleidete sie reizend.
»Sie wollen doch nicht etwa sagen Herr Graf, daß Sie bereits draußen waren? Ja, um aller Heiligen willen, wann fangen Sie denn den Tag an?«
»Na, so um vier Uhr früh herum. Ja, Frau Worth, ich hab' ein schönes Schloß, noch ein zweites Schloß, hab' ein großes Sägewerk und bin doch ein so armer Teufel, daß ich mir keinen Verwalter leisten kann.«
»Warum verkaufen Sie denn nicht das zweite Schloß?«
»Das ist Steyrberg, das schönste Stück Mauer in ganz Oberösterreich. Daran hängt ein gut Stück unserer Familiengeschichte, Frau Worth. Der Steyrberg ist mir ans Herz gewachsen. – –«
»Wohl ein jedes einzelne Stück, das Sie da oben haben in Ihren schönen alten Zimmern? Sie würden keinen Stuhl, kein Bild, keine Uhr verkaufen?«
Er schüttelte den Kopf.
»Ich würde das für eine Sünde halten«, lächelte er, wie wenn er um Entschuldigung bitten wollte für solch rückständige Sentimentalität. »Das kommt Ihnen wohl – na, sagen wir, ein bißchen übertrieben vor?«
»Uebertrieben?« sprach sie, »übertrieben? Mache ich wirklich einen so blasierten Eindruck? Ich kann solche Gefühle verstehen, Herr Graf – mehr noch, ich beneide Sie um die schönen alten Sachen und um die schönen alten Gefühle.«
Er wußte nichts darauf zu erwidern. Sah sie nur scheu und zweifelnd an. Sie aber blickte mit träumendem Auge hinaus ins Tal, und er konnte ermessen, wie schön ihr Profil war, wie edel die Linie ihrer Stirn, wie zierlich die Nase, wie köstlich geschwungen die Lippen. – –
So saßen sie lange, schweigend. Aus dem Park herüber klang das Jubilieren der Vögel. – – –
Tante Ursula erschien, begleitet von Lord, der Stephan mit wohlwollendem Wechsel begrüßte und geruhsam gestattete, daß ihn Elisabeth hinter den Ohren kraute. Dann bekam er seine Schale mit Milch und widmete sich langsam und bedächtig seinem Frühstück.
Die alte Dame war nicht wenig überrascht, als sie ihren eleganten Gast mit einem so großen Butterbrot mit Vergnügen an dieser frühzeitigen Frühstückstafel sitzen sah. Doch sie war anders als ihr Neffe. Eine Frau traut nie einer anderen. – –
Sie lächelte Elisabeth freundlich an, doch ihre klugen grauen Augen senkten sich in die blauen des schönen, jungen Weibes. Was willst du von uns? fragten diese Augen.
Dieselben Augen wie der Bruder, sagte sich Elisabeth. Nur weicher, gütiger – und deshalb gefährlicher. – –
Eine Stunde später kam Helene, die erst von Elisabeth aus den Federn geholt werden mußte. Papa Stanko Dazkovic war der letzte, der sich blicken ließ, begrüßt vom Spott der jungen Gesellschaft. Er war sonst gewohnt, des Herrgotts schöne Welt erst um elf Uhr anzusehen; wenn er volle zwei Stunden früher die kleinen Aeuglein aufmachte, war dies ein Opfer, das er nur seiner Tochter brachte.
Das Programm des Tages enthielt die Besichtigung der Herrschaft; Schloß Steyrberg, das Sägewerk und der Edthof sollten anschließend daran besucht werden.
»Auf den Edthof freue ich mich besonders«, sagte Elisabeth.
»Ich fürchte, Sie werden enttäuscht sein, Frau Worth«, meinte Stephan.
Aber sie war nicht enttäuscht – sie war begeistert. –
War wirklich ein einfacher Bau, der Edthof, so eine Art Vorwerk, auf dem ein Meier mit zwei Knechten saß. Wohn- und Wirtschaftsgebäude waren aneinander angebaut, vorn die Wohnungen, dahinter der Hof, der von der Scheune und den Ställen umgrenzt wurde. Im Erdgeschoß eine kleine Diele, von der eine solide Treppe nach oben führte. Hier etwa acht bis zehn Zimmer, alle klein, niedrig, mit weichem Fußboden – das Ganze alles, nur nicht herrschaftlich. Sogar Helene rümpfte die Nase.
»Sie sehen, Frau Worth«, sagte Stephan, »wie ich Ihnen gesagt habe – es ist nicht viel dran. Die Linden sind da – aber – –«
»Ja, die Linden. Und das ist viel!«
»Wir wissen nicht recht, was wir mit dem Edthof anfangen sollen. Mein Vater hat ihn einmal vom alten Edtenberger erworben und wollte so ein kleines Kastell daraus bauen. Die Lage ist ja herrlich – der Blick schöner noch als von Rottenstein aus – – aber, weiß Gott, es ist nichts aus der Idee geworden. Nun haben wir ihn auf dem Hals. Der Grund, der dazu gehört, ist nicht viel wert, zu steinig. – – –«
»Würden Sie ihn verkaufen?« fragte Elisabeth.
Stephan lachte.
»Wenn sich ein Dummer findet, der ihn nimmt!«
»Der Dumme hat sich gefunden – ich!« sagte Elisabeth. »Nennen Sie Ihren Preis!«