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»Schmetterling« war nicht nur die Bezeichnung für die Kaschemme in der Colonnenstraße – auch ein geselliger Verein im Norden Berlins hieß so, dessen Mitglieder sich ausschließlich aus Leuten zusammensetzten, die auf eine ständige Adresse ebensowenig Wert legten wie auf den Besitz der bürgerlichen Ehrenrechte. Es gab fünf solcher Vereine in den verschiedenen Gegenden Großberlins, die im Ring zusammengeschlossen waren und gute Kameradschaft untereinander hielten. Sie feierten ihre Stiftungsfeste und feierten auch sonst gern, wenn sich ihnen die Gelegenheit dazu bot. Sie erschienen auf ihren Festen und zu den Beerdigungen ihrer Mitglieder stets in corpore, mit Vereinsbanner, im Smoking, hohem Hut und weißen Handschuhen. Sie hielten innerhalb ihrer Mitgliedschaft streng auf Ordnung, die so weit ging, daß jenes, in der bürgerlichen Gesellschaft längst legitimierte Gesellschaftsspiel »changez les femmes« bei ihnen als grober Verstoß gegen die guten Sitten galt und mit Ausschluß ans dem Verein geahndet wurde. Dabei waren diese Damen zu weit über neunzig Prozent eingeschriebene Prostituierte, deren Ehrbegriffe es wiederum nicht zuließen, daß ihre Freunde und Beschützer von eigener Arbeit lebten. Sie sahen ihren Ehrgeiz vielmehr darin, daß ihr Freund Lackschuhe und seidene Hemden trug und trotz der Tätowierungen, die aber nicht wie ehedem mehr in Ansehen standen, manikürte Fingernägel hatte.
Obgleich sich von den Festen und Sitzungen niemals ein Mitglied ausschloß, fehlten doch regelmäßig etwa fünfzig Prozent. Die waren »verreist«, und der Verein sandte ihnen dann Liebesgaben in ihr nicht ganz freiwilliges Retiro hinter vergitterten Türen und bemühte sich auch sonst, Wünsche seiner Mitglieder, die aus der Verdammnis kamen, nach Möglichkeit zu erfüllen.
Der Präsident des »Schmetterling« also hatte im Lokal in der Beußelstraße zu einer außerordentlichen Sitzung geladen. Die Tagesordnung umfaßte nur zwei Punkte: »Aufnahme neuer Mitglieder« war der eine, »Geheimdienst« der zweite Punkt. Die Aufnahme des neuen Mitglieds, das sich durch eine Reihe von Vorstrafen, die geprüft und für schwer genug befunden wurden, qualifizierte, erfolgte einstimmig. Das neue Mitglied verschwand zum Erstaunen der Vereinsbrüder für längere Zeit, kehrte dann aber mit je einem großen silbernen Leuchter im Arm zurück und erklärte mit strahlenden Augen:
»Als Dank für meine Aufnahme erlaube ich mir, dem Sportverein ›Schmetterling‹ diese beiden Leuchter zum Geschenk zu überreichen.«
Der Präsident dankte in bewegten Worten und ließ das neue »Mitglied, das so schnell Verständnis für den sportlichen Geist des Vereins bewiesen habe«, hoch leben. Er hielt es aber doch für richtig, den Stifter gleich darauf beiseite zu nehmen und ihn zu fragen, von wo er die kostbaren Leuchter »bezogen« habe. Strahlend erwiderte das Mitglied:
»Aus der Wohnung im zweiten Stock. Erst hab ich's – im ersten versucht. Aber da war ein amerikanisches Sicherheitsschloß – und ich wollte mit Rücksicht auf den Verein kein Aufsehen machen.«
Diese Vorsicht lobte der Präsident. Aber er fügte hinzu:
»Ich sehe es nicht gern, daß Mitglieder in dem Haus, in dem wir gerade tagen, arbeiten« – und er hielt es, um dem Verein den Besitz des kostbaren Geschenkes zu sichern, für geboten, das Lokal zu wechseln und Punkt zwei der Tagesordnung in einem benachbarten Lokal zu beraten.
Der Wirt, gerührt über soviel Rücksicht, von der er annahm, daß sie seiner Person galt, gab sämtlichen Mitgliedern einen Doornkat mit auf den Weg.
Zu Punkt zwei der Tagesordnung: »Geheimdienst« wurden nur der Vorstand nebst Beisitzern hinzugezogen. Es handelte sich um einen Kassiber aus dem Brandenburger Zuchthaus, das der rote Franz auf irgendeinem Wege, vermutlich durch einen strafentlassenen Kollegen, in die Außenwelt hatte gelangen lassen. Fahrräder oder ein Auto wurden für eine bestimmte Nachtzeit nach einem bestimmten Ort erbeten.
»Etwas spät,« meinte der Präsident. Aber auf Anfrage unter den Mitgliedern meldeten sich so viele, daß der Bitte sofort weitgehendst entsprochen werden konnte.
Wie der rote Franz es angestellt hatte, mit seinen beiden Zellengenossen ins Freie zu gelangen, bleibt sein Geheimnis und soll im Interesse einer arg bedrängten Zunft hier nicht verraten werden. Jedenfalls standen um die angegebene Zeit im Walde, etwa einen halben Kilometer von Brandenburg entfernt, ein Automobil und mehrere Räder mit der notwendigen Begleitmannschaft. Horchposten in der Richtung Brandenburg wurden ausgestellt – aber es dauerte gar nicht lange, da krochen durch eine kleine Tannenlichtung ein paar Leute heran, deren erster den roten Kopf aus dem Grünen hob und halblaut:
»Schmetterling«
sagte. Es war der rote Franz, in dessen Begleitung sich der große Blonde und Heinz Reichenbach befanden. Alle drei trugen Zuchthauskleider.
Der Rote wollte vorstellen und eine lange Begrüßungsrede halten – aber der Führer der Kolonne fiel ihm ins Wort und sagte:
»quatschen kannst de nachher! Erst mal weg von hier!«
Der Blonde nannte die Adresse seiner Mutter im Osten Berlins. Aber der Rote sagte: – und er wies auf Reichenbach:
»Der da will in die entjejenjesetzte Richtung.«
Ein paar Augenblicke später sauste das Auto mit dem umgekleideten Blonden und einem Begleiter nach Berlin, während Heinz Reichenbach ein Rad bestieg und in der Richtung Brandenburg davonfuhr.
»So! und nu schick die andern wej!« sagte der Rote zu dem Führer der kleinen Kolonne, die völlig harmlos aussah und den Eindruck eines Radfahrervereins machte, der von einem Ausflug heimkehrte. Sogar ein paar Radlerinnen hatten sie der Täuschung wegen mitgenommen.
»Was hast du vor?« fragte der Führer, als die anderen fort waren und der Rote schnell einen Fahrraddreß übergezogen und die Zuchthauskleidung in ein kleines Paket gewickelt hatte.
»Da hinterher!« flüsterte der Rote dem Führer zu und wies in die Richtung, in der Reichenbach eben davonradelte. – Unterwegs aber erzählte er kurz folgendes: »Uff mein Zimmer liegt een Millionär.« Er hob die Hand, ballte sie und sagte: »So eener! Een Jahr Zuchthaus for jemauste Devisen von fünfhunderttausend Mark. Dafor sitz ick dreißig Jahre ab, ohne mit de Wimper zu lispeln.«
»Wo hat er das Geld?«
»Siehst de, det hab ick mir och jefragt.«
»Ihn hättest de fragen sollen.«
»Er hätt's mir vielleicht jesajt, was? Ne, so helle bin ick och. Aber da sitzt noch eener – der lange Blonde, 'n Dussel! Der flennt die janze Nacht – mal nach Muttern, mal nach seine Jeliebte. – Na, saj ick! wenn de die noch mal sehn willst – er is man nur lebenslänglich – denn man zu – ick bring dir hin. Na, det warn Theater! Also ick arrangier die Landpartie. Aber, sag ick zu den Milljonähr, was so weit 'n janz feiner Mann is, wenn der uff Tour jeht, jeh ick och. – ›Jeh man,‹ sagt er. ›Nee,‹ sag ick, ›nich ohne dir. Daß de hier 'n Kotzigen machst und wenn nachts de Wache kommt und det Nest leer sind, uns verpfeifst. Nich zu machen,‹ sag ick und piek so an von wejen, ob er nich och irjend wo ne Jeliebte hat. Wat soll ick dir sajen – links rin, Anton, da labbert wer de Chaussee lang« – sie bogen mit ihren Rädern in den Wald und warteten, bis ein Fuhrwerk oder was sonst es sein mochte, vorüber war. Dann fuhren sie wieder auf die Chaussee und der Rote erzählte weiter: »Also, wat soll ick dir sajen, Anton, er hakt in, quatscht wat von ne dunkle Frau, die er jern mal for eene Minute jesehen hätte – na, ick denk mir ja meinen Teil, die Jeliebte, det wird woll die halbe Million sind –›denn man zu,‹ saj ick, ›denn fahren wer jeder zu unsre Braut und früh um vieren treten wer wieder an mit gewichste Pantinen – rin werden se uns ja lassen, wo wer so dufte rausjekommen sind.‹ Da meckert der Milljonähr wat von Jefahr und so – ›na,‹ saj ick, ›denn nich‹ – und wende mir an den Blonden: ›denn kriejst de deine Mutter eben nich zu sehn.‹ Wat soll ick dir sajen, da lamentiert der Blonde los und heult – ick jeb dem Milljonähr 'n Zeichen und der sajt: ›Na also denn! ick komm mit!‹ Det wa also nich so leicht. Aber nu zu, Anton, daß wer'n nich aus de Lappen lassen – da bei des Jestrüpp jlänzt wat, det kann 'n Rad sind.«
Und es war auch ein Rad. Kurz vor dem Tor, das zum Schloß Reichenbach führte, hielt es an. Man sah deutlich, wie Heinz absprang, das Rad hinter einen Strauch schob und dann links die Mauer entlangeilte. Die beiden folgten ihm. Sie stellten ihre Räder etwas tiefer in den Wald längs der Mauer, die Heinz entlangging. Sie blieben etwa zwanzig Schritt von ihm entfernt. Nach einer Weile verschwand Heinz in dichtem Gestrüpp, das die Mauer emporwucherte. Sie näherten sich behutsam und sahen gerade noch, wie er durch einen Holzverschlag, der zur ebenen Erde in die Mauer eingelassen war, verschwand.
»Nanu!« sagte der Rote. »Wat is 'n det?«
»Die Tür hat sich vermutlich die Dienerschaft für nächtliche Besuche gebaut. Aber woher kennt sie dein Kollege?«
»Der is ja woll ins Schloß uffjewachsen.«
Sie standen jetzt unmittelbar vor der Tür.
»Du bleibst hier und stehst Schmiere!« sagte der Rote. »Schieb man de Räder ran, det wer schneller wegkommen.«
Er ließ dem andern gar keine Zeit, zu widersprechen, hatte den Holzverschlag hochgeschoben und war im selben Augenblick auch schon im Schloßhof. Ein paar Hunde bellten auf. Irgendwo erschien auch ein Licht, das vom Haupttor aus den ganzen Hof ableuchtete. Der Rote preßte den Körper fest an den Holzverschlag. Eine Sekunde lang war die Stelle, an der er kauerte, hell erleuchtet. Er rührte sich nicht. Der Scheinwerfer strich den Hof weiter ab und verschwand. Der Rote richtete sich behutsam auf. Wo war sein Zellengenosse, der Millionär, geblieben? Sicherlich war er, der auf dem Grundstück genau Bescheid wußte, im Augenblick, wo der Scheinwerfer über den Hof strich, in Deckung gegangen. Dann mußte er jetzt irgendwo wieder zum Vorschein kommen. Und richtig entdeckte er an der Häuserwand einen fadendünnen Schatten, der sich hoch bewegte. Er sah wie ein Strich aus, den eine unsichtbare Hand, vom Boden beginnend, die Wand hinaufzog . . . Das Stückchen Mond, das vorsichtig wie ein heimlicher Beobachter ans den Wolken hervorlugte, reichte gerade aus, um die Vorgänge schattenhaft zu erkennen. Der Strich, der langsam nach oben zog, konnte nach Ansicht des Roten nichts anderes als Heinz Reichenbach sein. Er zog sich die Schuhe aus, merkte sich die Stelle, wo er sie stehen ließ, indem er sich sagte, Fenster vier des Haupt- und Fenster zwei des Quergebäudes, und kroch dem sonderbaren Schatten nach.
Die Spur, die er beinahe instinktmäßig verfolgte, war richtig. Denn er war eben auf der Höhe des ersten Stockwertes angelangt, als er über sich deutlich die Konturen eines Mannes erkannte, der sich mit einer etwas wagehalsigen Drehung auf einen Balkon schwang, dessen Tür offen stand. Wenige Augenblicke später stand der Rote auf dem Balkon und sah noch, wie Reichenbach, der in einem großen dunklen Raume stand, behutsam die Tür öffnete und sie ins Zimmer schob. Er ließ sie halb offen stehen und lauschte – zögerte – schien Bedenken zu haben. – Und tatsächlich trat er jetzt ein paar Schritte zurück, tastete die Wand ab und schaltete das Licht ein. – Der Rote versteckte sich auf dem Balkon hinter Epheu. Das Zimmer war jetzt erleuchtet. Es war eine Art Salon, der durch die vielen Schränke und Spiegel aber den Charakter eines Boudoirs hatte. Reichenbach, der sich im Walde nicht umgekleidet hatte, also in Zuchthauskleidung war, trat an einen Damenschreibtisch heran, nahm einen Bogen und schrieb:
Teuerste Frau Hedda!
Sie sehen, wie schnell ich mir die Allüren meiner neuen Umgebung angeeignet habe. Ich steige nachts, kletternd wie ein Wiesel, zu Ihnen hinein. Aber ich habe mir noch so viel Haltung bewahrt, daß ich nicht wage, Sie zu wecken. Fragen Sie mich bitte nicht, was mich zu Ihnen treibt. Ich selbst weiß es nicht. Aber mir hätte ein einziger Blick genügt, um die Gefahr dieses »Ausflugs« zu wagen. Sollte ich, – bevor ich Sie verlasse, – doch noch einen Blick zu Ihnen hineinwerfen, so verzeihen Sie im voraus Ihrem
H.R.
Er schloß den Brief und wandte sich zur Tür, die nur eine Hand breit offenstand. Aber er sah, von dem Schreibtisch aus, strahlend in ihrer ganzen Größe die Kuanyin aus Jade – lächelnd einladend und mit einem Blick, aus dem befriedete Ruhe sprach.
Heinz stand erschüttert. Er ließ keinen Blick von der Göttin – und ihm war, als wenn sie ihm mit ihrem Lächeln Trost und Hoffnung geben wollte. Sein Verstand sagte ihm: geh! – Aber die Kuanyin hielt ihn und ließ ihn nicht los. Einmal, als er sich zum Fenster wenden wollte, schien es ihm, als senkte sie leicht den Kopf. Sein Blick fiel auf ihre Hände, die er so liebte – er stand von neuem bezaubert und rührte sich nicht vom Fleck. Jetzt änderte sich die Helle im Zimmer, die Kuanyin lag beschattet – und der Saum eines Kleides bedeckte die Schwelle. – Reichenbach fühlte, wie sein Herz schlug. Hinter dem handbreit offenen Spalt der Tür stand Frau Hedda – in langem, seidenem Nachtgewand. Sie schob die Tür zur Seite, sah Reichenbach an und sagte mit einer Stimme, die klang, als käme sie von weither:
»Heinz – Sie?«
Reichenbach hatte in diesem Augenblick den Wunsch, sie möge, traumhaft wie sie erschienen war, wieder verschwinden. Diesen Anblick und den Ton dieser zwei Worte festhalten – und zurück in die Einsamkeit – und tausendfach hatte sich die Gefahr gelohnt.
Aber es kam anders. – Während Heinz sich dem Genuß des Augenblicks hingab und ihn gern voll ausgekostet hätte, suchte Frau Hedda Klarheit und fand sofort die Zusammenhänge. – Es gab keine nächtliche Liebesszene. Frau Hedda tat, als wenn Heinz Reichenbach ihr als freier Mann an einem x-beliebigen Nachmittag seine Aufwartung machte. Sie reichte ihm die Hand und sagte: »Wie gut, daß Sie kommen! Als ob Sie es geahnt hätten.«
»Was – geahnt hätte?« fragte Reichenbach verdutzt.
»Daß ich Ihren Rat brauche. Ich stürze mich von einer Verantwortung in die andere – in der Hoffnung, alles zu klären, und stifte damit nur immer neue Verwirrung.«
»Ich habe wenig Zeit, Frau Hedda . . .«
»Sie müssen etwas zu sich nehmen, Heinz! Wie sehen Sie aus!« Sie fuhr ihm mit der Hand über das Gesicht. »Leichenblaß – und kalt!« – Sie nahm seine Hände. »Setzen Sie sich da auf die Chaiselongue!« Sie holte einen Plaid und bedeckte ihn, nahm aus einem kleinen Schränkchen an der Wand eine Flasche und goß ihm ein. »So! und nun trinken Sie, Heinz!« – Sie setzte ihm das Glas an den Mund – und er trank. »Wie ein Kind muß man Sie bemuttern. Aber ich bitt mir aus, daß Sie auf sich achten, Heinz. Die paar Wochen, die werden vergehen.«
»Wochen? – Zwölf Monate! Ein Jahr!«
Frau Hedda schüttelte den Kopf und legte die Hand auf seine Stirn.
»Glauben Sie nicht an mich?«
»Doch! – Aber was können Sie tun?«
»Sie mir erhalten.«
Heinz richtete sich auf und sah sie an.
»Wenn auch nur als Freund,« fuhr sie fort. – »Obschon ich Sie sehr, sehr lieb habe.«
In Heinz Reichenbach kam alles, was sich an Erregung, Überwindung, Ekel, Scham in Wochen angesammelt hatte, plötzlich zum Ausbruch, Ströme von Tränen stürzten ihm aus den Augen und er barg – diesmal wirklich wie ein hilfloses Kind – den Kopf in Frau Heddas Schoß.
Ein paar Minuten lang ließ sie ihn gewähren. Dann riß sie sich los und stand auf.
»So! und nun wissen wir, wie es um uns steht,« sagte sie. »Und nun heißt es handeln. Vor allem mußt du wissen: den Diebstahl in der Bank, dessentwegen du im Zuchthaus sitzt, hat Karl Morener begangen.«
Heinz fuhr auf und rief bestimmt:
»Das ist nicht wahr!«
»Leider ist es so.«
»Weiß man es?«
»Nein!«
»Er hat es dir gestanden?«
»Ja! – mir und noch jemandem.«
»Wem?«
»Deiner Cousine Hanni!«
»Wie kommt die dazu?«
»Sie lieben sich.«
»Entsetzlich!«
»Es ist dir also klar, daß es niemand erfahren darf?«
Heinz nickte und sagte:
»Gewiß.«
»Ich hätte als Mensch vielleicht die Pflicht, ihn anzuzeigen. Schon deinetwegen. Aber ich habe auch Pflichten gegenüber meinem Mann. Die Nachrichten aus Schönegg lauten günstig. Erfährt er aber, daß sein Neffe – es wäre sein Tod.«
»Du glaubst, daß die Lumperei eines Reichenbach ihn weniger erregen wird?«
»Es kann ihn erlösen, wenn er erfährt, daß Reichenbachs, die er in seiner krankhaften Vorstellung für unfehlbar hielt, von ihrem Piedestal gestürzt sind.«
»Das kann schon sein.«
»Aber damit, daß du Heinrich Morener aus dem Irrenhaus rettest und seinen Neffen Karl vor dem Zuchthaus bewahrst, ist uns nicht geholfen.«
»Du willst also Karl bestimmen, daß er sich selbst angibt?«
»Das hat er bereits getan. Er hat von der Bank aus einen Brief an die Staatsanwaltschaft gerichtet, der zum mindesten seine sofortige Verhaftung zur Folge gehabt hätte.«
»Hätte?« fragte Heinz.
»Wenn ich nicht die Direktoren Urbach und Meßter überzeugt hätte, daß es ihre Pflicht gegenüber ihrem Chef Heinrich Morener ist, diesen Brief der Bank an die Staatsanwaltschaft zu stoppen. Das gelang in letzter Minute, gerade, als der Brief auf dem zuständigen Postamt in Moabit dem Briefträger zum Austragen übergeben werden sollte.«
»Und wenn Karl, was zu erwarten ist, sein Geständnis wiederholt?«
»Er weiß nicht, daß wir seine Selbstanzeige zurückgehalten haben.«
»Er erfährt es doch.«
»Kaum! denn er ist mit Hanni Reichenbach in einem Flugzeug unterwegs nach Rio.«
»Mit Hanni . . . nach . . . Rio . . .?« – In Heinz Reichenbach brachen in diesem Augenblick Tradition und Kinderstube durch. »Ja, sind sie denn schon verheiratet?« fragte er.
Frau Hedda konnte trotz des Ernstes der Situation ein Lächeln nicht unterdrücken.
»Das Zuchthaus war für ihn in diesem Augenblick näher als das Standesamt,« erwiderte sie – und Heinz fragte:
»Und meine Tante? – hat sie nicht der Schlag gerührt?«
»Beinahe! Aber ich habe die ganze Nacht bei ihr gesessen und sie beruhigt.«
»Sie hat sich damit abgefunden?«
»Sie wollte sich von ihrem Kinde lossagen. Aber dann verdrängte die Angst um das Leben ihres Kindes jedes andere Gefühl.«
»Das ist echt Tante Reichenbach,« sagte Heinz.
»Wir verreden die Zeit,« erklärte Frau Hedda. »Bist du denn nicht begierig, zu erfahren, wie ich mir die Lösung denke?«
»Gibt es denn eine?«
»Kommt Karl Morener bei diesem Fluge um, so ist das besser, als wenn er als Bankdieb weiterlebt. In diesem Falle wird man den zurückgehaltenen Brief dem Staatsanwalt übergeben, und alles wird sich in vollkommener Ruhe erledigen. Glückt ihm aber – was ich hoffe und glaube – als Erstem der Flug Berlin –Rio de Janeiro, so wird er der Held des Tages sein, und man wird es ihm nicht verübeln, wenn er, um den Flug zu ermöglichen, sich aus dem Geldschrank seines Onkels das Geld lieh – so wird man es dann nennen. – Zumal er ihn seiner Krankheit wegen ja darum nicht bitten konnte.«
»Du bist doch gescheiter als wir alle,« sagte Heinz – und Hedda legte ihren Arm um ihn und sagte beinahe übermütig:
»Ich wünschte nur, dazu gehörte etwas mehr.«
Er nahm ihre Hände und küßte sie, sah sie an und fragte:
»Und was wird aus uns beiden?«
»Das, mein Lieber, entscheiden nicht wir!«
»Ja, wer denn?«
»Das Schicksal,« erwiderte sie.
»Das Schicksal?« fragte er erstaunt.
»So hast du es mich gelehrt. Oder erinnerst du dich nicht mehr an unser erstes Zusammensein? – ›Es geht seinen Weg und kümmert sich nicht um unsere Wünsche,‹ sagtest du.«
Heinz Reichenbach widersprach nicht. Er nahm Abschied und verließ Frau Hedda auf demselben Wege, auf dem er gekommen war.