Reise durch das Biedermeier
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Marienbad

Man sieht wenig Menschen und wenig Dörfer und fährt die ganze Zeit über eine niedrige Hochebene. Unbedeutende Berge und Waldungen ziehen sich im Lande herum. Vornehme Reisewagen flogen zuweilen an uns vorüber, die Gegend schien nur zum Durchpassieren für die Badegäste da zu sein, denn sonst sah man niemand. Ich machte die Augen zu, lehnte mich in meine Ecke und dachte an Jerta.

Der Wagen rollte in ein waldiges Tal. Gerade und triefend standen an beiden Seiten junge schlanke Tannen. Sie begleiteten uns treu auf einem im Kreise hinabeilenden Wege, in dessen Kessel plötzlich Marienbad erschien. Stärkere Bäume gruppierten sich bis unten an die Häuser. Es sieht aus, als fahre man in ein altes Theater hinein und die terrassenförmig aufsteigenden Bäume seien die Zuschauer.

Die reduzierten Adeligen errichteten in Österreich Gasthöfe, und ihre Titel dienen als Schilder. Der Postillon fragte, ob er uns zum Grafen oder zum Baron fahren solle. Der Baron sei aber besser.

Wir schlüpften ins Zimmer und ließen Feuer anmachen, obwohl es mitten im Sommer war. Nachdem wir uns umgekleidet und in die weiten Schlafröcke gewickelt hatten, öffneten wir die Fenster und sahen hinaus mit frischgewaschenen Gesichtern und Augen. Die Wärme strich uns um die Schläfe nach der Regenluft hinaus. Vor unserem Hause war ein abschüssiger freier Platz. Weit drüben an seinem Ende öffneten sich die Waldberge, und große Christuskreuze hoben sich im Passe empor. Dahinter aber öffnete sich licht das Land mit unbestimmter, mattschimmernder Ferne. Durch den dunkel regnerischen Vordergrund sahen wir in ein süßdämmerndes Jenseits. Der ganze Anblick war katholisch. Die fächelnde Wärme flüsterte uns lateinisch-italienische Worte in die Ohren, stolze Gebäude sahen uns mit dunklen, vom Regen geschwärzten Augen an. Alles war totenstill. Leidende Herzen, hoffnungsselige Unterleiber aus allen Gegenden der Erde saßen hinter den stummen Mauern, aber kein Laut gab bekannt, daß Menschen in Marienbad wohnten.

Als es dunkel wurde, schlug ich dem Begleiter eine Partie Whist vor. Dann wollten wir die Postpferde bestellen und nichts weiter mehr in Marienbad ansehen, sondern den Eindruck stummer italienischer Villen mit uns nehmen. Er war es zufrieden, und wir ließen uns die Karten bringen. Als wir nach einigen Stunden vor das Haus traten, goß es noch immer über Marienbad. Zwei Reisewagen standen vor der Türe, wir wollten langsam vorausfahren. Mein Freund ging noch einmal in das Hotel zurück, um sich mit Proviant zu versorgen. Er kam ziemlich angeregt zurück und erzählte, neben uns sei ein junges Mädchen aus Bayern abgestiegen, das ebenfalls nach Eger reisen wolle. Er habe im Vorsaal ihre Bekanntschaft gemacht.

Damit uns die kleine Bayerin zum Mittagessen in Franzensbrunn oder Eger nicht entginge, wurde der Kutscher zur Eile angetrieben und wir fuhren los. Als sich unser Wagen am Brunnen vorüberwand, tönte Musik zu uns herauf. Der Kutscher mußte halten. Liebestöne lockten durch die Morgenstille. Ich sprang aus dem Wagen, in diesem Augenblicke flog die Chaise mit dem bayrischen Mädchen vorüber. Mein Freund wurde von Unruhe ergriffen, sie möchte ihm entwischen. Er bat und flehte hinter mir her, diesem himmlischen Gesang zu entfliehen, da uns sonst die bayrische Realität zum Teufel fahre. Umsonst, ich ließ mich nicht halten. Grollend folgte er mir nach.

Man tritt in den langen Brunnensaal wie in ein Klosterrefektorium. Es sieht reizlos und wüst aus. Die Leute schleppen sich mit schweren Mänteln und Überschuhen auf und nieder. Sonst betet man in einer so frühen Stunde nur für das Wohl der Seele. Jetzt und hier betete man für das Wohl des Unterleibes. Statt Gebetbüchern und Rosenkränzen verkaufte ein stiller Mann in einer Fensternische weiche Quartblätter feinsten Papiers. Er lächelte still und innerlich, als ich mir ein Blatt kaufen und lesen wollte. Nicht zu so gemeinen Zwecken war das Papier bestimmt.

Aber wer war jener große Mann mit dem weitläufigen Gesichte, der entblößten Hauptes in einem Winkel lehnte? Die Züge schienen mir so bekannt wie die Melodien der »Jessonda«, die gerade zu hören waren. Er bemerkte nicht, daß ich ihn anstarrte. Selbst ein Mädchen, das sich an ihn lehnte und an ihm hinaufsah, beachtete nichts als ihn. Sie schien ihn ebenso zu lieben wie jene Musik, und die keusche Verehrung, mit der sie zu ihm aufsah, deutete darauf, daß sie seine Tochter sei. Als das schöne Liebesduett ausklang, schlug er die Arme unter der Brust zusammen. Sein Haupt war groß wie von Halbgöttern. Man erkennt an diesem Zeichen antike Köpfe: alle Halbgötter haben nämlich volle, runde Schläfen, während die der gewöhnlichen Menschen eingedrückt sind von irdischen Sorgen. Es war Jessondas Vater – es war Spohr. Alle Formen an ihm sind kolossal. Man sollte glauben, er müsse schon der Proportion halber statt der Geige wenigstens ein Violoncell in den Arm nehmen und an das breite übernapoleonische Kinn drücken. Trüge er nicht unter dem bloßen Halse eine Busenkrause, man hielte ihn für einen alten Recken. Alle Züge seines Gesichtes sind schweigsam, aber musikalische Titanenworte ruhen in diesem Schweigen. In seiner Musik ist alles keusch, und von der Erde Regungen ist nur die Verwandtschaft mit den Göttern wiedergegeben.

Der Kollege bat mich flehentlich, von dannen zu fahren. Spohrs Gesicht entgehe uns schon nicht, wohl aber das bayrische Mädchen.

»Herr«, sprach ich, »haben Sie Erbarmen gehabt mit meinem faible für Jerta? Was ist so ein bayrisches Mädchen, das Bier trinkt, gegen Jerta, die vom Äther und Sonnenschein lebt! Aber ich will feurige Kohlen auf Ihrem Haupt sammeln. Adieu, Spohr!«

Und wir fuhren weiter. Der Wagen mit dem bayrischen Mädchen war nicht mehr zu sehen, mein Freund wurde unruhig und versprach immer höheres Trinkgeld. Die Gegend blieb wüst wie vor Marienbad. Jenseits der Waldberge liegt Schloß Königswart, wo Metternich mit seiner jungen schönen Frau ausruht von der Regierung des konservativen Europa. Die Diplomaten seiner Partei kommen tausend Meilen weit in das wilde Böhmen, um ihn zu fragen über Maßregeln gegen das unbändige neue Geschlecht.

Endlich kamen wir nach Eger, wo man Wallenstein ermordete. Die Tragödie Wallenstein hätte ich Schiller nie vergeben, wäre sie nicht seine schönste. Denn die ganze Anlage Wallensteins ist nur ein Trugbild jenes tätigen, gespenstig-wagenden Friedland, der unträumerisch, mit eiskalter Verständigkeit nach der Macht strebte. Jener Wallenstein, dem der Kampf um Glaubensdinge Kinderspiel war, mit dem höhnischen, irreligiösen Kinn, mit der zermalmenden, eckigen, langen Knochengestalt, mit der Ahnung napoleonischer Kraft, wo ist er hingekommen? Oh, Friedrich Schiller war viel zu tugendhaft, um eine große historische Tragödie zu schreiben. Er hätte aus Napoleon einen Ideologen gemacht. Ihn kümmerte nicht die Handlung, sondern der Grund der Handlung; nicht die Tat, sondern ihre Beschreibung.

Man hat neuerdings Wallenstein wieder ehrlich gemacht und Beweise aufgefunden, daß er ein legitimer Mann und kein Empörer gewesen sei. Sie werden über kurz oder lang sicher noch auffinden, daß Napoleon eigentlich ein sehr guter Christ und ein rechtschaffener Mann gewesen sei. Wallenstein soll sich auch viel mit konstitutionellen Einrichtungen befaßt haben. Das sähe ihm just so ähnlich wie die Gründung einer Bibelgesellschaft.

Wir eilten sogleich wieder weiter. Mein Begleiter war sehr bewegt und erleichterte sein Herz durch leises Fluchen.

 

Über eine belebte Fläche ging es nach Franzensbrunn, das eine kleine Stunde entfernt liegt. Es ist ein kleiner sauberer Ort mit massiven, hübschen Gebäuden. Es sieht ausgekehrt und zierlich aufgeräumt aus, als komme man in eine Alte-Jungfern-Stube.

Unsere Aufgabe, das Mädchen aufzufinden, war nicht leicht, da wir nicht den kleinsten Anhaltspunkt hatten. Wir fingen also unsere Untersuchung beim ersten Hause an, und unsere löbliche Absicht erstreckte sich auf ganz Franzensbrunn. Es ist ein Novellenstoff, den ich nur sehr empfehlen kann, zwanzig bis dreißig verschiedene Wohnungen hintereinander zu betreten.

Endlich hatten wir Glück: wir kamen durch ein halbdunkles Vorzimmer zu zwei großen Glastüren, die mit dünnem Flor verhangen waren. Im Zimmer sahen wir vor einem hohen Spiegel ein Mädchen stehen, das nur mit einem blendendweißen Unterröckchen bekleidet war und sich mit vollen frischen Armen die schwarzen Flechten des Haares band. Ihr Kopf war nach vorne hin niedergebeugt, ein voller Nacken und feste Schultern stachen uns lachend und keck in die Augen. Jetzt wendete sie sich nach einem Seitentisch, um etwas an sich zu nehmen, wir sahen das Profil, es war unser bayrisches Mädchen. Ein krampfhafter Druck der Hand bedeutete mir zurückzubleiben. Ich ließ mich auf einen Stuhl nieder. Leise schlich er hinein – sie erblickte ihn im Spiegel und schrie laut auf. Mein Begleiter hielt einen Augenblick inne. Das verwunderte mich. Sie sprach Französisch. Das verwunderte mich noch mehr. Jetzt eilte er zu ihr, ergriff ihre Hand und küßte sie lebhaft. Ich sah noch einmal ihr volles Gesicht, aber es war nicht das bayrische Mädchen. Ich hörte deutlich ihre Worte, daß sie jeden Augenblick ihren Gemahl zurückerwarte. Wirklich kamen hastige Schritte die Treppe herauf und wandten sich der Türe des Vorzimmers zu. Hastig rief ich: »Er kommt«, setzte meinen Stuhl dicht vor die Türe und mich darauf. Stürmisch rannte der Eintretende an, ich sprang auf, um ihm die Aussicht zu nehmen. Er fragte entrüstet, wer ich sei. Pantomimisch versuchte ich, ihm begreiflich zu machen, ich sei stumm und warte hier auf jemand. Er stieß mich zur Seite und eilte nach dem Zimmer, in dem niemand mehr zu sehen war. Diesen Augenblick benützte ich zur Flucht. Als ich auf die Straße kam, trat eben aus dem Nachbarhaus mein Freund.

Ohne zu wissen wohin, gingen wir eine Strecke weiter. Er erzählte mir, die Dame sei eine alte Bekannte aus Teplitz. Er sei in großer Eile durch Seitenzimmer, die sich in das anstoßende Haus erstreckten, entkommen. Ich erklärte, ich hielte es durchaus nicht für geraten, dem Herrn Gemahl noch einmal zu begegnen. Meine stumme Rolle würde einige Unannehmlichkeiten mit sich bringen. Ich hielte es also für besser, die Bayerin aufzugeben und nach Eger zurückzukehren. Aber er war durchaus nicht dahin zu bewegen und zog mich in den Kursaal, wo eben gespeist wurde.

Neben uns saß das bayrische Mädchen mit ihrer dicken, harthörigen Mutter. Mit Feuer wurde die Bekanntschaft erneuert und das gesunde, natürliche Kind mit Liebeserklärungen überschüttet. Sie kam nicht aus dem Rotwerden heraus, und beide Teile versäumten ohne viel Bedauern das schlechte Mittagessen. Nach aufgehobener Tafel ging man im Saale auf und nieder. Ich nahm mich der harthörigen bayrischen Mutter an und ließ mich angelegentlich in alle Mysterien ihrer gestörten Verdauung einweihen. Sie liebte ihr Leben über alles, und ich konnte nichts Besseres tun, als ihr mit rationellen, physikalischen und kabbalistischen Gründen zu beweisen, daß sie sehr alt werden müsse.

Der Kollege war mit der Tochter in ein Seitenzimmer getreten. Ich stellte mich vor die halboffene Türe und verhinderte durch lebhafte Unterhaltung die Mutter am Eintreten. Damit sie nicht hineinsehen könne, wies ich darauf hin, daß aus dem Nebenzimmer ein erkältender Zug dringe. Sie trippelte auf die Seite, und ich ersuchte sie um eine vollständige Geschichte ihrer Krankheit.

Das Gespräch in jener Stube aber ward immer weicher und stockte zuweilen. Als ich mich einmal schnell umwendete, sah ich, daß mein Bekannter schon seinen Arm um die Taille des Mädchens geschlungen hatte. Die Tochter der dicken Mutter wehrte nur nachgiebig ab. Ihr Gesicht konnte ich nicht sehen, denn sie kehrte mir den Rücken zu. Kaum zur Magenstörung der Alten zurückgekehrt, sah ich jenen Herrn Gemahl mit seiner Frau in den Saal treten und langsam auf uns zukommen. Ich saß wie auf Kohlen, denn meine stumme Rolle konnte undankbar werden. In diesem Augenblicke schrie das Mädchen im Nebenzimmer laut auf und stürzte heraus in die Arme ihrer Mutter. Ich hörte nur noch ihre leise klagenden Worte: »Ach Gott, Mutter, er ist verheiratet.«

Der Herr Gemahl kam direkt auf mich los, ich zog mich eiligst in das Nebenzimmer zurück, Hut und Überrock im Stiche lassend. »Fort«, rief ich, »der Gemahl kommt.« Wir eilten in das nächste Zimmer und in das dritte, doch die Schritte kamen hinter uns nach. Die Zimmer waren zu Ende, der Ausgang verschlossen. Im Hui sprangen wir durch die offenen Fenster. Entblößten Hauptes kamen wir beide zu unserem auf der Straße haltenden Postillon und eilten in den Wagen. Ich nahm Hansl die Zügel ab, mit einigen zwanzig Kreuzern bewaffnet wurde er abgeschickt, um das im Stich gelassene Material durch einen Kellner zu gewinnen. Ich fuhr uns eiligst aus der Schußweite bis vor das Städtchen.

Hansl ging lachend. Nach einer Viertelstunde kam er wieder und brachte uns Rock, Mantel und Mütze. In Eger requirierte ich schleunigst eine Post, verabschiedete mich von meinem Begleiter – ich sollte ihn erst in Wien wiedersehen – und fuhr den Weg zurück.


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